19 020
Der Jet senkte sich auf die Landebahn von Teterboro. Smith blickte aus dem ovalen Fenster neben seinem Sitz auf die vorbeirasende Landschaft. Er hatte während des gesamten einstündigen Flugs die Augen geschlossen gehalten, aber keineswegs geschlafen.
Seitdem er am Morgen neben Grace wach geworden war, hatte er sich auszureden versucht, dass er in sie verliebt wäre. Ohne viel Erfolg, obwohl ihm viele ausgesprochen vernünftige Gegengründe einfielen. Mehr als alle anderen Menschen hätte er eigentlich wissen müssen, dass eine einzige Nacht überhaupt nichts bedeutet. Zwei Körper im Dunkeln, die dem obersten Gebot der Natur nachkamen.
Aber warum war ihm dann so zumute, als hätte er irgendwie seine Mitte verloren?
Und warum benahm er sich ihr gegenüber wie ein Idiot?
Er sah sie vor sich, wie sie im Türrahmen zu seinem Bad gestanden hatte, als er sich rasierte. Nach ihren letzten Worten hatte er sich absolut elend gefühlt.
Was für ein Heuchler er war! Er hatte gesagt, sie verdiene etwas Besseres als ihren Ehemann, und schon einen Tag später strafte er sie, indem er sie völlig ignorierte. Immerhin hatten sie sich geliebt …
Geliebt. Das war schon die richtige Bezeichnung …
Die Nacht hatte ihm unendlich viel mehr bedeutet als ein schneller Fick. Nun hatte er Schwierigkeiten, darauf zu reagieren. Gewöhnlich dachte er am Morgen nach einer Nacht mit einer Frau nicht daran, ob er am liebsten bei ihr bleiben oder wieder mit ihr schlafen wollte.
Er wollte mit Grace reden. Aufrichtig. Er wusste, dass er sich irgendwie wieder sammeln musste. Er musste etwas sagen, das für ihn Sinn ergab.
Immerhin wusste er genau, womit er anfangen würde. Er musste sich entschuldigen, weil er seine Verwirrung nur sehr schlecht verbergen konnte. Und es war nicht akzeptabel, sie völlig auszuschließen.
Als das Flugzeug aufsetzte und der Umkehrschub das Flugzeug abbremste, blickte er zur Sitzreihe neben sich. Grace ging gerade ihre Monatsberichte durch und hatte sie rings um sich herum ausgebreitet: Auf dem Nebensitz, auf dem Boden und auf dem Klapptisch neben ihrem Sitz. Sie trug einen engen Pullover und eine leichte Wollhose, sah aber trotzdem sehr elegant aus.
Er hätte nie zuvor gedacht, von einer derart edlen, ja anspruchsvollen Frau so angezogen sein zu können.
Er versuchte, genauer zu bestimmen, warum sie so anders war als seine bisherigen Frauen. Alle möglichen Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Wie sie seine Narben berührt hatte, wie sie das Kinn trotz aller Ängste eigenwillig vorreckte, ihr schüchterner Blick, als sie sich vor ihm auszog. Sie war voller Gegensätze - selbstbewusst, aber auch verletzlich, adlig und leutselig, leidenschaftlich und zurückhaltend.
Außerdem war sie ausgesprochen sexy. Er stellte sich vor, dass sie sich wieder vor ihm auszog, und spürte ihren Duft.
Das Flugzeug drehte ab, so dass ein Sonnenstrahl in die Kabine fiel, alles überflog und glitzernd den Verlobungsring des Grafen streifte. Der Brillant glänzte strahlend auf.
Schmuck von einem reichen Mann, dachte Smith. Am Finger der Frau eines reichen Mannes.
Er hätte es gerne gesehen, dass sie ihn abgenommen hätte, wusste aber, dass er kein Recht hatte, eine solche Forderung zu stellen. Besonders nicht, weil er sie so behandelt hatte.
»Grace?«
»Ja?« Sie blickte nicht hoch. Ihre Stimme klang knapp.
»Es tut mir leid.«
Sie umkringelte einen Absatz und machte am Rand der Akte eine Notiz. »Was denn?«
»Heute Morgen.«
Sie blickte hoch, aber nach vorn, als hätte sie gerade erst gemerkt dass sie gelandet waren. »Keine Ursache.«
Dann suchte sie die Papiere zusammen, stapelte sie ordentlich und steckte sie in einen Ordner.
»Grace, sieh mich an.« Als sie nicht folgte, schnallte Smith seinen Gurt auf und trat neben sie. »Es tut mir aufrichtig leid, dass ich dich heute Morgen verletzt habe.«
Ihre Hände verharrten. Sie schwieg.
»Du hast mich nicht verletzt. Ich habe mir selbst wehgetan, weil ich die Regeln ja kannte.« Damit blickte sie zu ihm hoch. Ihr Blick war sehr ernst. »Du hast immer ganz deutlich gesagt, was du willst und was du zu geben imstande bist. Ich habe bloß das, was dir an meinem Körper liegt, tiefer gedeutet als angemessen.«
»Grace …«
»Wirst du nun fortgehen?«
»Nein.« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Wie kommst du darauf?«
»Das ist doch wohl ziemlich offensichtlich.«
»Ich werde weiterhin für dich da sein«, sagte er und sah ihr direkt in die Augen. »Nichts hat sich daran geändert.«
Grace atmete einmal tief ein und aus. »Das stimmt wohl leider.«
Das Flugzeug stoppte.
»Ich war auf gestern Nacht nicht vorbereitet«, knurrte er betroffen.
»Du schuldest mir nichts, gar nichts, weder eine Entschuldiung noch eine Erklärung.« Sie sah ihn mit einem übertrieben strahlenden Lächeln an. »Ich bin immerhin kein kleines Mädchen mehr. Ich bin für mich selbst verantwortlich. Wir sollten es einfach vergessen.«
Damit schnallte sie den Gurt auf, griff nach ihrer Handtasche, nahm die Akten unter den Arm und verließ das Flugzeug, als könnte sie es kaum abwarten, ihn loszuwerden.
Verdammt!
Er hatte gewusst, dass die Nähe zu ihr eine Menge Komplikationen bedeuten würde. Jetzt war sie es, die sich verrückt benahm, aber sie war verletzt. Sie waren wieder in New York, wo der Killer vermutlich das ganze Wochenende über seine Messer geschliffen hatte.
Falls es bei diesem Job schlimmer würde, dachte er, dann würde wohl Blut fließen.
Eddie wartete vor dem Terminalgebäude auf sie und half ihnen, das Gepäck zu verstauen. Er war in bester Stimmung.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihr so früh schon wiederkommt«, sagte er, als sie einstiegen. »Wo das Wetter doch so schön war.«
Smith grunzte nur, und Grace lächelte verkniffen.
»Wie läuft der Schriftstellerkurs?«, fragte sie ihn.
Eddie lächelte sie im Rückspiegel an und fuhr los. »Wirklich interessant. Wir behandeln gerade dramatische Spannung.«
Wie passend, dachte Smith.
Die Fahrt zurück verlief schweigend und mit einer gewissen Spannung. Als sie vor Grace’ Wohngebäude anhielten, stieg Smith zuerst aus, um die Lage zu überprüfen. Grace trat auf den Gehsteig.
Als die Hecktür geöffnet war, nahm Smith das Gepäck heraus. Er schnappte gerade Grace’ Tasche und zog sie heraus, als sie sie ihm aus der Hand nahm. Dabei stolperte sie am Bordstein. Er fasste sie rasch um die Hüfte, damit sie nicht fiel. Da hörten sie, wie jemand ihren Namen rief.
Beide drehten sich danach um. Der Fotograf beugte sich aus einem vorbeifahrenden Auto und begann sie zu knipsen. Das Blitzlicht ging ununterbrochen, während der Wagen sich durch den dichten Verkehr fädelte.
Smith fluchte und rannte fast hinter dem Auto her, aber er wollte Grace nicht alleine lassen. Er versuchte noch, das Nummernschild zu entziffern, wusste aber, dass es schon zu spät war. Die Bilder waren im Kasten. Man konnte nur noch wenig dagegen tun.
Als er Grace anblickte, erkannte er, wie sich Erschöpfung auf ihrem Gesicht abzeichnete.
»Das wird morgen überall die Runde machen«, sagte sie resigniert.
 
Es war schon nach elf, als Grace beschloss, eine warme Dusche zu nehmen, damit sie schläfrig wurde. Auf dem Weg zum Bad läutete das Telefon. Sie überließ den Anruf dem Anrufbeantworter. Zu dieser späten Stunde wollte sie mit niemandem mehr reden.
Falls es Detective Marks mit einer weiteren schrecklichen Nachricht wäre, würde er John anrufen. Und falls es ihre Mutter war, wollte sie den Anruf ganz sicher nicht entgegennehmen. Sie hatte eine Nachricht über die Fotos auf deren Mailbox hinterlassen, wollte sich aber deshalb jetzt nicht streiten. Nicht heute Abend.
Als sie ihren Bademantel ablegte, fühlte sich ihr Magen an wie ein Stein, obwohl sie nichts zu Abend gegessen hatte. Smith hatte etwas gekocht, das sehr lecker roch, aber sie hatte abgelehnt, als er sie dazu einlud. Sie versuchte zwar, ihn aus ihrem Leben zu verbannen, doch das gelang ihr nicht sehr gut, denn er beherrschte alle ihre Gedanken.
Er hatte sich bei ihr entschuldigt, und sie war sicher, dass er echte Reue empfand. Das war ganz deutlich an seinem Blick abzulesen gewesen wie auch an seiner vorgebrachten Entschuldigung. Sie riet sich selbst, nicht überrascht zu sein. Immerhin war er so anständig, dass es ihm etwas ausmachte, wenn sie verletzt war. Irgendwie glaubte sie, dass er sich bei den anderen Frauen in seinem Leben nicht solche Mühe gegeben hatte.
Dann stöhnte sie auf, weil ihr wieder in den Sinn kam, wie er auf ihr lag, sie küsste, sie berührte …
Gott, sie wollte nichts weiter als bei ihm sein. Ja, auch wenn es bedeutete, am nächsten Morgen wieder abgewiesen zu werden.
Anscheinend war wohl jeder sexuell von ihr enttäuscht. Grace fragte sich, warum sie sich nicht zu einem passenderen Mann hingezogen fühlen konnte. Eugene Fessnik, ihr Steuerberater, war Single.Vermutlich würde er ihr sogar umsonst die Bücher führen, wenn sie sich mit ihm traf.
Aber nein, sie musste sich jemanden aussuchen, mit dem sie keinerlei Zukunft hatte. Jemanden, der sexy und leidenschaftlich war und ausschließlich Chaos und Probleme in ihr Leben brachte. Eine Naturgewalt.
Ihr Selbsterhaltungstrieb brauchte dringend eine Überholung.
Sie trocknete sich gerade ab, als eine dunkle Gestalt im Türrahmen erschien. Sie hüllte sich rasch in das Handtuch und sah John überrascht an, der nur als Silhouette sichtbar war. So völlig reglos und angespannt, wie er dastand, wirkte er auf sie fast überwältigend.
War es vielleicht doch Detective Marks gewesen, der angerufen hatte?
Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Stimmt etwas nicht?«
Seine Stimme klang sehr tief und rau. »Ich wollte nur sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist, ehe ich schlafen gehe.«
»Alles okay.« Als er nicht ging, zog sie das Handtuch enger um sich und steckte es vorn zusammen. Sie konnte sein Gesicht nur undeutlich sehen, spürte aber, dass er erregt war.
Sie furchte die Stirn. »Alles in Ordnung mit dir?«
Er fuhr sich über das kurze Haar. »Nein, nichts ist in Ordnung.«
»Was ist?«
»Ich will mit dir schlafen.«
Grace holte scharf Luft. Die Worte standen explosiv im Raum.
»Ich weiß, dass ich mich heute Morgen völlig danebenbenommen habe. Ich habe in diesen Dingen einfach keine Erfahrung …« John machte dabei eine Geste, als suchte er nach den richtigen Worten. »… in diesen Beziehungssachen. Das ist sehr schwer für mich. Ich bin völlig sauer auf mich selbst und überlege mir den ganzen Abend Entschuldigungen, die aber nur so klingen, als hätte ich sie vorher in einer Seifenoper gehört. Ich habe keine Ahnung, was aus meinem Verstand geworden ist, ich habe ständig ein Ziehen in der Brust, und wenn es irgendwie möglich wäre, die Zeit zurückzustellen und den heutigen Morgen noch einmal zu durchleben, dann würde ich alles anders machen.Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich nackt vor mir, wie du mich voller Vertrauen ansiehst, und ich würde am liebsten die Wand einschlagen.«
Er begann auf und ab zu gehen. »Du machst mich völlig verrückt. Ich mache mich selbst völlig verrückt. Herrje, das alles müsste doch einfacher sein.Wie werden andere Leute mit einem solchen Chaos fertig, wenn sie endlich jemandem begegnen, an dem ihnen etwas liegt? Es ist, als würde man ohne einen Funken Licht in eine Höhle geschleudert. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so verwirrt gewesen, und ich kann dir sagen, dass ich verdammt schwierige Situationen durchgestanden habe.«
Grace sah ihn sprachlos an. Sie hatte noch nie erlebt, dass er mehr als nur zwei Sätze auf einmal von sich gegeben hatte, und über seine Gefühle hatte er sicherlich noch nie so offen gesprochen.
»Es ist furchtbar. Ich fühle mich furchtbar. Ich will nichts weiter, als dich umarmen. Ich habe keine Ahnung, was mit mir los ist, ich weiß nur, dass ich dich begehre und mir wünsche, ich hätte dich nicht so verletzt. Und…«
Dann holte er tief Luft, weil ihm die Worte ausgingen.
Grace schüttelte den Kopf und lächelte kläglich. »Das war aber viel auf einmal.«
»Na, ich habe ja auch während des gesamten Essens darüber nachgedacht.«
»Offensichtlich.«
Es war schwer, ihm nicht zu verzeihen, wo er so deutlich in einer Zwickmühle steckte. Grace spürte, wie ihr ganzer Köper auf ihn reagierte. Aber sie rief sich auch in Erinnerung, dass er sich zwar für das Vergangene entschuldigt, jedoch nicht versprochen hatte, bei ihr zu bleiben, wenn seine Aufgabe abgeschlossen war.
Aber sie hatten ja die heutige Nacht. Und morgen früh. Wenn er erst fort war, würde bloß die Erinnerung daran bleiben.
»Komm her«, sagte sie und breitete die Arme aus.
Smith riss die Augen auf, als träfe ihn dies völlig unerwartet. Er trat auf sie zu wie von einem Magneten angezogen. Sie legte eine Hand auf seine Brust. Seine Körperwärme drang durch das Hemd. Sie spürte seinen Herzschlag unter ihrer Handfläche.
»Ich bin froh, dass du mir all das gesagt hast.«
Er schloss die Augen, als würde er wieder von seiner Verwirrung heimgesucht.
»Du musst mir glauben. Dich verletzen ist das Letzte, was ich will.«
Grace bot ihm den Mund zu einem Kuss und zog seinen Kopf an sich. Seine Lippen fühlten sich weich und überraschend sanft an. Er nahm ihre Linke.
»Wirst du heute Abend die Ringe abnehmen?«, fragte er leise.
Grace zögerte keine Sekunde. Mit einer achtlosen Bewegung zog sie den Saphir- und den Brillantring ab und warf sie auf den Marmorwaschtisch.
John trug sie zum Bett. Er legte sie auf die Kissen und warf sich auf sie. Dabei stützte er sich mit seinen kräftigen Armen auf beiden Seiten ab, und Grace empfand eine Vorfreude, die sie wie eine Droge erfüllte. Dann nahm sein Mund von ihren Lippen Besitz, und sie ergab sich seiner Lust.
 
Um halb sieben am nächsten Morgen klingelte das Telefon. Grace schlief tief und fest in Smiths Armen. Erst beim dritten Läuten nahm sie ab.
»Wo bist du gewesen?«, wollte ihre Mutter wissen, noch ehe Grace Zeit hatte, auch nur Hallo zu sagen. »Und warum bist du gestern Abend nicht ans Telefon gegangen?«
»Warst du das?« Grace setzte sich auf und strich sich die Haare aus der Stirn.
Smith regte sich neben ihr, hielt sie jedoch weiterhin umschlungen. Grace war froh, dass er nicht wieder verschwunden war.
»Natürlich war ich das«, bellte die Mutter zurück. »Ich dachte, es läge dir vielleicht daran zu wissen, dass ich fast den ganzen gestrigen Abend Cameron Brast am Telefon hatte. Dazu noch mitten in meiner Abendgesellschaft.«
Grace schnitt ein Gesicht, Brast war der Chefredakteur eines New Yorker Klatschmagazins. Ihre Mutter redete weiter. »Das Bild von diesem Smith, wie er den Arm um dich legt, wird nicht in den Morgenzeitungen erscheinen. Ich musste alle meine Überzeugungskräfte aufbieten, um die Veröffentlichung zu verhindern. Dank deiner Indiskretion bin ich diesem scheußlichen Brast nun verpflichtet.«
»Es tut mir leid, dass du …«
»Aber ebenso unerhört ist die Tatsache, dass dein Mann mich anrief und sagte, ein Reporter habe ihn in Paris angerufen und um einen Kommentar gebeten. Ranulf war gestern Abend praktisch untröstlich. Er hat versucht, dich zu erreichen, und hat erst hier angerufen, als er bei dir nicht durchkam. Schämst du dich überhaupt nicht?«
Grace schloss die Augen. »Mutter, Ranulf und ich lassen uns scheiden.«
Als Carolina draufhin rasch und scharf Luft holte, klang das wie ein kalter Luftzug, der durch die Leitung fegte. »O mein Gott! Es ist dieser Mann, nicht wahr? Du verlässt Ranulf für einen …«
»Ranulf und ich haben uns schon nach Vaters Tod getrennt. Noch ehe ich John überhaupt kannte.«
»Mein Gott … aber warum will er sich von dir trennen?«
Grace versuchte vergeblich, ihre Wut und Frustration nicht durchklingen zu lassen. »Ich bin es, die die Scheidung eingereicht hat.«
Sie hörte praktisch, wie alle Nervenleitungen im Gehirn ihrer Mutter zum Stillstand kamen.
»Warum um Himmels willen?«
»Wir sind zu unterschiedlich. Unvereinbare Gegensätze.«
Außerdem haben wir einander nie geliebt, dachte sie anschließend.
»Komm schon, wie unterschiedlich könnt ihr beide denn sein? Seine Familie hat einen guten Ruf.Vielleicht solltest du es dir noch einmal überlegen?«
»Genau das Gleiche hat Vater gesagt«, erwiderte Grace.
Pause.
»Du hast mit ihm darüber gesprochen?«
»Ja, im Sommer. Er riet mir, zu Ranulf zurückzugehen. Doch alles wurde nur noch schlimmer.«
»Das verstehe ich nicht. Was ist denn passiert? Ihr habt beide immer so glücklich ausgesehen.«
»Äußerlichkeiten können täuschen, Mutter.«
Daraufhin folgte ein längeres Schweigen.
»O Grace, ich kann den Gedanken daran kaum ertragen. Erst dein Vater, jetzt deine Ehe.Wo wird das enden?«
»Tut mir leid, wenn du das schwierig findest.« Es war schwer, die Enttäuschung über die Reaktion ihrer Mutter nicht durchklingen zu lassen. Sie hätte sich gewünscht, dass diese Frau sie tröstete, wusste aber genau, dass das nie möglich sein würde.
»Weißt du, dein Vater und ich hatten auch schwierige Zeiten«, sagte Carolina nun leicht hoffnungsvoll. »Wir haben es aber überstanden. Das ist alles möglich.«
Grace konnte kaum glauben, dass ihre Eltern irgendwann ernsthaftere Probleme gehabt hatten als die Auswahl ihrer Garderobe für die nächste Dinnerparty.
»Mutter, ehrlich gesagt hätte ich Ranulf nie heiraten sollen. Ich hatte von Anfang an Zweifel. Schon bei der Verlobungsparty.«
Smith stand nun auf und ging nackt in sein Schlafzimmer. Einen Moment lang vergaß Grace ihre Mutter.
»Aber was willst du denn tun? Als alleinstehende Frau?«
»Ich komme schon durch«, erwiderte Grace mit einem Anflug von Sarkasmus. »Es ist erstaunlich, was Mädchen dieser Tage alles dürfen.Wusstest du eigentlich, dass wir jetzt sogar das Wahlrecht haben?«
»Kein Grund zur Ironie. Ich muss schon sagen, es macht mir schwer zu schaffen, dass deine Ehe in Scherben liegt und du dich sofort in eine schmierige Affäre mit diesem … Smith stürzt.«
»John ist mein Leibwächter.«
Ihre Mutter verstummte. »Dein Leibwächter?«
»Daher musste er das Zimmer wechseln. Er muss ständig in meiner Nähe bleiben.«
»Gütiger Gott. Wozu brauchst du das denn? Ist alles in Ordnung?«
»Ja…« Grace atmete frustriert aus. Sie hatte die Mutter gerade wegen ihrer eigenen bevorstehenden Scheidung trösten müssen, jetzt wollte sie ihr nicht auch noch wegen der Morde an ihren Freundinnen beistehen müssen. »Ich muss jetzt Schluss machen, Mutter. Ich muss ins Büro.«
»Aber heute ist doch ein Feiertag. Columbus-Tag.«
»Ich weiß, aber es gibt jede Menge Arbeit. Ich rufe dich später an.«
Grace legte auf und ging in den Flur. Sie wollte Smith vorschlagen, mit ihr zusammen unter die Dusche zu gehen. Da hörte sie seine Stimme aus seinem Zimmer:
»Ich weiß nicht, wann ich frei bin. Es könnte noch zwei Wochen dauern, bis ich New York verlassen kann, was bedeutet, dass ich erst Mitte November in den Nahen Osten reisen kann.«
Grace drehte sich um und ging in ihr Zimmer zurück. Ihr war speiübel. Der Schmerz verriet ihr, dass sie sich selbst getäuscht hatte. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass er bei ihr bleiben würde. Mitzubekommen, wie er die Einzelheiten seines nächsten Auftrags besprach, war für sie wie ein Schlag ins Gesicht.
Sie duschte rasch und schloss sich in ihrem Ankleideraum ein.Vorher rief sie ihm noch zu, dass das Bad nun frei sei.
Sie setzte sich vor ihren Frisiertisch. Ihr war zum Heulen. Als sie hörte, wie das Wasser im Bad angestellt wurde, beschloss sie, statt herumzusitzen und sich zu bedauern, einfach die Wohnung zu verlassen. Sie war schon mehrere Tage nicht Joggen gegangen. Der Gedanke an diese kleine Freiheit war unwiderstehlich. Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln, damit sie den Tag überstand, ohne vor ihm in Tränen auszubrechen.
Sie musste sich wieder auf ihre Stärke besinnen.
Sie zog ein Sweatshirt und die Laufschuhe an und war wenige Minuten später unten. Als sie vor der Markise auf den Gehsteig trat, blickte sie hoch. Es regnete leicht, der Himmel war verhangen, aber das machte ihr nichts aus. Sie lief los.
Aus Gewohnheit nahm sie die alte Strecke in Richtung Central Park West, um dann im Park zu laufen. Sie suchte sich einen der Joggingpfade nahe der Straße aus, aber weit genug entfernt vom Verkehr und den Abgasen.
Das Regenwasser aus den Pfützen spritzte ihr die Beine hoch. Ihr Schweiß vermischte sich mit der Regennässe. Grace liebte es, sich so auszutoben.
Sie hatte etwa eine Viertelmeile hinter sich, als sie merkte, dass jemand ihr folgte.
Zuerst dachte sie, es wäre Smith, und wollte schon fluchen, doch dann wurde ihr klar, was sie getan hatte. Er würde sehr wütend sein, dass sie einfach so ohne ihn losgerannt war, und er hatte völlig Recht.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
Wohl gar nichts, sagte sie zu sich selbst. Sie verlangsamte ihre Schritte und drehte sich um.
Aber es war nicht Smith.
Angst durchflutete sie und beherrschte in dem Augenblick alles andere: ihre Körpergefühle, die Straßengeräusche, alles. Rasch überflog ihr Blick die Person hinter sich. Sie konnte das Gesicht nicht sehen, denn die Gestalt hatte eine Regenjacke mit Kapuze an. Grace wartete aber nicht darauf, mehr zu erkennen.
Sie jagte stattdessen los und blickte sich nach anderen Joggern um. Wegen des Regens war sie aber völlig allein auf dieser Strecke.
Nun rannte sie so rasch sie konnte, lief zwischen den Bäumen her, jagte über die Rasenflächen und versuchte, zurück zur Straße zu gelangen. Sie spürte ihren Puls im ganzen Körper, ihre Beine waren taub vor Anstrengung, aber sie hetzte weiter.
Bilder von Cuppie, Suzanna und Mimi tauchten vor ihrem inneren Auge auf - alle tot, alle mit durchgeschnittener Kehle. Sie versuchte, schneller zu rennen.Versuchte, die Richtung nach Hause zu finden, und versicherte sich unentwegt, dass sie es schaffen würde.
Aber sicher war sie nicht.
War dies das Ende? Hier im Central Park? Panisch erinnerte sie sich, was Smith über seine Klienten gesagt hatte. Dass sie länger lebten, weil sie genau seine Anweisungen befolgten.
Sie hatte eine seiner einfachsten Regeln ignoriert.
Plötzlich hörte sie trotz des Rauschens in ihren Lungen und dem Pulsieren ihres Herzens, wie jemand sie rief. Sie erkannte, dass es die Person hinter ihr war.
Sie rief einen Namen, den sie nie wieder zu hören geglaubt hatte. Grace’ Angst war wie fortgeblasen.
»Seesternchen!«
Es klang wie die Stimme ihres Vaters: Reiß dich zusammen, Seesternchen. Komm, lächle!«
Grace’ Schritte verlangsamten sich, weil sie sich überrascht umdrehte. Doch dabei stolperte sie, stürzte auf den Kies und spürte, wie Knie und der Unterschenkel aufgeschürft wurden. Doch darum machte sie sich jetzt keine Sorgen, denn der Fremde kam auf sie zu. Grace hob schützend die Hand, wie um einen Schlag abzuwehren.
»Ich will dir nichts tun …« Überrascht hörte Grace eine Frauenstimme. Die Worte, von heftigen Atemstößen unterbrochen, klangen rau und heiser. »Ehrlich nicht …«
Als ihre Verfolgerin sie nicht angriff, sondern sich stattdessen auf die Knie fallen ließ, um Luft zu holen, wusste Grace, dass sie noch einmal davongekommen war.
Sobald sie ihre Stimme wiederfand, keuchte sie: »Wer sind Sie? Woher wissen Sie meinen Namen?«
Die Fremde zog die Kapuze herab, und Grace sah sie verblüfft an.
Das Gesicht der Frau war irgendwie vertraut, als wären sie einander schon einmal begegnet …
O mein Gott, dachte Grace. Ihr wurde eiskalt.
Die Frau sah aus wie ihr Vater.
Die Fremde hatte die gleiche Haar- und Hautfarbe wie er, das Gesicht war ähnlich geformt, sie hatte die gleichen tief liegenden blauen Augen.
Grace kniff die Augen zusammen, wegen des Regens, aber auch weil sie glaubte, beinahe den Verstand zu verlieren, weil es so unmöglich schien, was sie da vor sich sah.
»Ich bin … deine Halbschwester … Callie«, brachte die Frau schwer atmend heraus.