19 

Der Jet senkte sich auf die Landebahn von
Teterboro. Smith blickte aus dem ovalen Fenster neben seinem Sitz
auf die vorbeirasende Landschaft. Er hatte während des gesamten
einstündigen Flugs die Augen geschlossen gehalten, aber keineswegs
geschlafen.
Seitdem er am Morgen neben Grace wach geworden war,
hatte er sich auszureden versucht, dass er in sie verliebt wäre.
Ohne viel Erfolg, obwohl ihm viele ausgesprochen vernünftige
Gegengründe einfielen. Mehr als alle anderen Menschen hätte er
eigentlich wissen müssen, dass eine einzige Nacht überhaupt nichts
bedeutet. Zwei Körper im Dunkeln, die dem obersten Gebot der Natur
nachkamen.
Aber warum war ihm dann so zumute, als hätte er
irgendwie seine Mitte verloren?
Und warum benahm er sich ihr gegenüber wie ein
Idiot?
Er sah sie vor sich, wie sie im Türrahmen zu seinem
Bad gestanden hatte, als er sich rasierte. Nach ihren letzten
Worten hatte er sich absolut elend gefühlt.
Was für ein Heuchler er war! Er hatte gesagt, sie
verdiene etwas Besseres als ihren Ehemann, und schon einen Tag
später strafte er sie, indem er sie völlig ignorierte. Immerhin
hatten sie sich geliebt …
Geliebt. Das war schon die richtige
Bezeichnung …
Die Nacht hatte ihm unendlich viel mehr bedeutet
als ein schneller Fick. Nun hatte er Schwierigkeiten, darauf zu
reagieren. Gewöhnlich dachte er am Morgen nach einer Nacht mit
einer Frau nicht daran, ob er am liebsten bei ihr bleiben oder
wieder mit ihr schlafen wollte.
Er wollte mit Grace reden. Aufrichtig. Er wusste,
dass er sich irgendwie wieder sammeln musste. Er musste etwas
sagen, das für ihn Sinn ergab.
Immerhin wusste er genau, womit er anfangen würde.
Er musste sich entschuldigen, weil er seine Verwirrung nur sehr
schlecht verbergen konnte. Und es war nicht akzeptabel, sie völlig
auszuschließen.
Als das Flugzeug aufsetzte und der Umkehrschub das
Flugzeug abbremste, blickte er zur Sitzreihe neben sich. Grace ging
gerade ihre Monatsberichte durch und hatte sie rings um sich herum
ausgebreitet: Auf dem Nebensitz, auf dem Boden und auf dem
Klapptisch neben ihrem Sitz. Sie trug einen engen Pullover und eine
leichte Wollhose, sah aber trotzdem sehr elegant aus.
Er hätte nie zuvor gedacht, von einer derart edlen,
ja anspruchsvollen Frau so angezogen sein zu können.
Er versuchte, genauer zu bestimmen, warum sie so
anders war als seine bisherigen Frauen. Alle möglichen Bilder
tauchten vor seinem inneren Auge auf. Wie sie seine Narben berührt
hatte, wie sie das Kinn trotz aller Ängste eigenwillig vorreckte,
ihr schüchterner Blick, als sie sich vor ihm auszog. Sie war voller
Gegensätze - selbstbewusst, aber auch verletzlich, adlig und
leutselig, leidenschaftlich und zurückhaltend.
Außerdem war sie ausgesprochen sexy. Er stellte
sich vor, dass sie sich wieder vor ihm auszog, und spürte ihren
Duft.
Das Flugzeug drehte ab, so dass ein Sonnenstrahl in
die Kabine fiel, alles überflog und glitzernd den Verlobungsring
des Grafen streifte. Der Brillant glänzte strahlend auf.
Schmuck von einem reichen Mann, dachte Smith. Am
Finger der Frau eines reichen Mannes.
Er hätte es gerne gesehen, dass sie ihn abgenommen
hätte, wusste aber, dass er kein Recht hatte, eine solche Forderung
zu stellen. Besonders nicht, weil er sie so behandelt hatte.
»Grace?«
»Ja?« Sie blickte nicht hoch. Ihre Stimme klang
knapp.
»Es tut mir leid.«
Sie umkringelte einen Absatz und machte am Rand der
Akte eine Notiz. »Was denn?«
»Heute Morgen.«
Sie blickte hoch, aber nach vorn, als hätte sie
gerade erst gemerkt dass sie gelandet waren. »Keine Ursache.«
Dann suchte sie die Papiere zusammen, stapelte sie
ordentlich und steckte sie in einen Ordner.
»Grace, sieh mich an.« Als sie nicht folgte,
schnallte Smith seinen Gurt auf und trat neben sie. »Es tut mir
aufrichtig leid, dass ich dich heute Morgen verletzt habe.«
Ihre Hände verharrten. Sie schwieg.
»Du hast mich nicht verletzt. Ich habe mir selbst
wehgetan, weil ich die Regeln ja kannte.« Damit blickte sie zu ihm
hoch. Ihr Blick war sehr ernst. »Du hast immer ganz deutlich
gesagt, was du willst und was du zu geben imstande bist. Ich habe
bloß das, was dir an meinem Körper liegt, tiefer gedeutet als
angemessen.«
»Grace …«
»Wirst du nun fortgehen?«
»Nein.« Er sah sie stirnrunzelnd an. »Wie kommst du
darauf?«
»Das ist doch wohl ziemlich offensichtlich.«
»Ich werde weiterhin für dich da sein«, sagte er
und
sah ihr direkt in die Augen. »Nichts hat sich daran
geändert.«
Grace atmete einmal tief ein und aus. »Das stimmt
wohl leider.«
Das Flugzeug stoppte.
»Ich war auf gestern Nacht nicht vorbereitet«,
knurrte er betroffen.
»Du schuldest mir nichts, gar nichts, weder eine
Entschuldiung noch eine Erklärung.« Sie sah ihn mit einem
übertrieben strahlenden Lächeln an. »Ich bin immerhin kein kleines
Mädchen mehr. Ich bin für mich selbst verantwortlich. Wir sollten
es einfach vergessen.«
Damit schnallte sie den Gurt auf, griff nach ihrer
Handtasche, nahm die Akten unter den Arm und verließ das Flugzeug,
als könnte sie es kaum abwarten, ihn loszuwerden.
Verdammt!
Er hatte gewusst, dass die Nähe zu ihr eine Menge
Komplikationen bedeuten würde. Jetzt war sie es, die sich verrückt
benahm, aber sie war verletzt. Sie waren wieder in New York, wo der
Killer vermutlich das ganze Wochenende über seine Messer
geschliffen hatte.
Falls es bei diesem Job schlimmer würde, dachte er,
dann würde wohl Blut fließen.
Eddie wartete vor dem Terminalgebäude auf sie und
half ihnen, das Gepäck zu verstauen. Er war in bester
Stimmung.
»Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ihr so früh
schon wiederkommt«, sagte er, als sie einstiegen. »Wo das Wetter
doch so schön war.«
Smith grunzte nur, und Grace lächelte
verkniffen.
»Wie läuft der Schriftstellerkurs?«, fragte sie
ihn.
Eddie lächelte sie im Rückspiegel an und fuhr los.
»Wirklich
interessant. Wir behandeln gerade dramatische Spannung.«
Wie passend, dachte Smith.
Die Fahrt zurück verlief schweigend und mit einer
gewissen Spannung. Als sie vor Grace’ Wohngebäude anhielten, stieg
Smith zuerst aus, um die Lage zu überprüfen. Grace trat auf den
Gehsteig.
Als die Hecktür geöffnet war, nahm Smith das Gepäck
heraus. Er schnappte gerade Grace’ Tasche und zog sie heraus, als
sie sie ihm aus der Hand nahm. Dabei stolperte sie am Bordstein. Er
fasste sie rasch um die Hüfte, damit sie nicht fiel. Da hörten sie,
wie jemand ihren Namen rief.
Beide drehten sich danach um. Der Fotograf beugte
sich aus einem vorbeifahrenden Auto und begann sie zu knipsen. Das
Blitzlicht ging ununterbrochen, während der Wagen sich durch den
dichten Verkehr fädelte.
Smith fluchte und rannte fast hinter dem Auto her,
aber er wollte Grace nicht alleine lassen. Er versuchte noch, das
Nummernschild zu entziffern, wusste aber, dass es schon zu spät
war. Die Bilder waren im Kasten. Man konnte nur noch wenig dagegen
tun.
Als er Grace anblickte, erkannte er, wie sich
Erschöpfung auf ihrem Gesicht abzeichnete.
»Das wird morgen überall die Runde machen«, sagte
sie resigniert.
Es war schon nach elf, als Grace beschloss, eine
warme Dusche zu nehmen, damit sie schläfrig wurde. Auf dem Weg zum
Bad läutete das Telefon. Sie überließ den Anruf dem
Anrufbeantworter. Zu dieser späten Stunde wollte sie mit niemandem
mehr reden.
Falls es Detective Marks mit einer weiteren
schrecklichen
Nachricht wäre, würde er John anrufen. Und falls es ihre Mutter
war, wollte sie den Anruf ganz sicher nicht entgegennehmen. Sie
hatte eine Nachricht über die Fotos auf deren Mailbox hinterlassen,
wollte sich aber deshalb jetzt nicht streiten. Nicht heute
Abend.
Als sie ihren Bademantel ablegte, fühlte sich ihr
Magen an wie ein Stein, obwohl sie nichts zu Abend gegessen hatte.
Smith hatte etwas gekocht, das sehr lecker roch, aber sie hatte
abgelehnt, als er sie dazu einlud. Sie versuchte zwar, ihn aus
ihrem Leben zu verbannen, doch das gelang ihr nicht sehr gut, denn
er beherrschte alle ihre Gedanken.
Er hatte sich bei ihr entschuldigt, und sie war
sicher, dass er echte Reue empfand. Das war ganz deutlich an seinem
Blick abzulesen gewesen wie auch an seiner vorgebrachten
Entschuldigung. Sie riet sich selbst, nicht überrascht zu sein.
Immerhin war er so anständig, dass es ihm etwas ausmachte, wenn sie
verletzt war. Irgendwie glaubte sie, dass er sich bei den anderen
Frauen in seinem Leben nicht solche Mühe gegeben hatte.
Dann stöhnte sie auf, weil ihr wieder in den Sinn
kam, wie er auf ihr lag, sie küsste, sie berührte …
Gott, sie wollte nichts weiter als bei ihm sein.
Ja, auch wenn es bedeutete, am nächsten Morgen wieder abgewiesen zu
werden.
Anscheinend war wohl jeder sexuell von ihr
enttäuscht. Grace fragte sich, warum sie sich nicht zu einem
passenderen Mann hingezogen fühlen konnte. Eugene Fessnik, ihr
Steuerberater, war Single.Vermutlich würde er ihr sogar umsonst die
Bücher führen, wenn sie sich mit ihm traf.
Aber nein, sie musste sich jemanden aussuchen, mit
dem sie keinerlei Zukunft hatte. Jemanden, der sexy und
leidenschaftlich
war und ausschließlich Chaos und Probleme in ihr Leben brachte.
Eine Naturgewalt.
Ihr Selbsterhaltungstrieb brauchte dringend eine
Überholung.
Sie trocknete sich gerade ab, als eine dunkle
Gestalt im Türrahmen erschien. Sie hüllte sich rasch in das
Handtuch und sah John überrascht an, der nur als Silhouette
sichtbar war. So völlig reglos und angespannt, wie er dastand,
wirkte er auf sie fast überwältigend.
War es vielleicht doch Detective Marks gewesen, der
angerufen hatte?
Sie fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen.
»Stimmt etwas nicht?«
Seine Stimme klang sehr tief und rau. »Ich wollte
nur sehen, ob mit dir alles in Ordnung ist, ehe ich schlafen
gehe.«
»Alles okay.« Als er nicht ging, zog sie das
Handtuch enger um sich und steckte es vorn zusammen. Sie konnte
sein Gesicht nur undeutlich sehen, spürte aber, dass er erregt
war.
Sie furchte die Stirn. »Alles in Ordnung mit
dir?«
Er fuhr sich über das kurze Haar. »Nein, nichts ist
in Ordnung.«
»Was ist?«
»Ich will mit dir schlafen.«
Grace holte scharf Luft. Die Worte standen explosiv
im Raum.
»Ich weiß, dass ich mich heute Morgen völlig
danebenbenommen habe. Ich habe in diesen Dingen einfach keine
Erfahrung …« John machte dabei eine Geste, als suchte er nach den
richtigen Worten. »… in diesen Beziehungssachen. Das ist sehr
schwer für mich. Ich bin völlig sauer auf
mich selbst und überlege mir den ganzen Abend Entschuldigungen,
die aber nur so klingen, als hätte ich sie vorher in einer
Seifenoper gehört. Ich habe keine Ahnung, was aus meinem Verstand
geworden ist, ich habe ständig ein Ziehen in der Brust, und wenn es
irgendwie möglich wäre, die Zeit zurückzustellen und den heutigen
Morgen noch einmal zu durchleben, dann würde ich alles anders
machen.Jedes Mal, wenn ich die Augen schließe, sehe ich dich nackt
vor mir, wie du mich voller Vertrauen ansiehst, und ich würde am
liebsten die Wand einschlagen.«
Er begann auf und ab zu gehen. »Du machst mich
völlig verrückt. Ich mache mich selbst völlig verrückt. Herrje, das
alles müsste doch einfacher sein.Wie werden andere Leute mit einem
solchen Chaos fertig, wenn sie endlich jemandem begegnen, an dem
ihnen etwas liegt? Es ist, als würde man ohne einen Funken Licht in
eine Höhle geschleudert. Ich bin in meinem ganzen Leben noch nie so
verwirrt gewesen, und ich kann dir sagen, dass ich verdammt
schwierige Situationen durchgestanden habe.«
Grace sah ihn sprachlos an. Sie hatte noch nie
erlebt, dass er mehr als nur zwei Sätze auf einmal von sich gegeben
hatte, und über seine Gefühle hatte er sicherlich noch nie so offen
gesprochen.
»Es ist furchtbar. Ich fühle mich furchtbar. Ich
will nichts weiter, als dich umarmen. Ich habe keine Ahnung, was
mit mir los ist, ich weiß nur, dass ich dich begehre und mir
wünsche, ich hätte dich nicht so verletzt. Und…«
Dann holte er tief Luft, weil ihm die Worte
ausgingen.
Grace schüttelte den Kopf und lächelte kläglich.
»Das war aber viel auf einmal.«
»Na, ich habe ja auch während des gesamten Essens
darüber nachgedacht.«
»Offensichtlich.«
Es war schwer, ihm nicht zu verzeihen, wo er so
deutlich in einer Zwickmühle steckte. Grace spürte, wie ihr ganzer
Köper auf ihn reagierte. Aber sie rief sich auch in Erinnerung,
dass er sich zwar für das Vergangene entschuldigt, jedoch nicht
versprochen hatte, bei ihr zu bleiben, wenn seine Aufgabe
abgeschlossen war.
Aber sie hatten ja die heutige Nacht. Und morgen
früh. Wenn er erst fort war, würde bloß die Erinnerung daran
bleiben.
»Komm her«, sagte sie und breitete die Arme
aus.
Smith riss die Augen auf, als träfe ihn dies völlig
unerwartet. Er trat auf sie zu wie von einem Magneten angezogen.
Sie legte eine Hand auf seine Brust. Seine Körperwärme drang durch
das Hemd. Sie spürte seinen Herzschlag unter ihrer
Handfläche.
»Ich bin froh, dass du mir all das gesagt
hast.«
Er schloss die Augen, als würde er wieder von
seiner Verwirrung heimgesucht.
»Du musst mir glauben. Dich verletzen ist das
Letzte, was ich will.«
Grace bot ihm den Mund zu einem Kuss und zog seinen
Kopf an sich. Seine Lippen fühlten sich weich und überraschend
sanft an. Er nahm ihre Linke.
»Wirst du heute Abend die Ringe abnehmen?«, fragte
er leise.
Grace zögerte keine Sekunde. Mit einer achtlosen
Bewegung zog sie den Saphir- und den Brillantring ab und warf sie
auf den Marmorwaschtisch.
John trug sie zum Bett. Er legte sie auf die Kissen
und warf sich auf sie. Dabei stützte er sich mit seinen kräftigen
Armen auf beiden Seiten ab, und Grace empfand eine Vorfreude,
die sie wie eine Droge erfüllte. Dann nahm sein Mund von ihren
Lippen Besitz, und sie ergab sich seiner Lust.
Um halb sieben am nächsten Morgen klingelte das
Telefon. Grace schlief tief und fest in Smiths Armen. Erst beim
dritten Läuten nahm sie ab.
»Wo bist du gewesen?«, wollte ihre Mutter wissen,
noch ehe Grace Zeit hatte, auch nur Hallo zu sagen. »Und warum bist
du gestern Abend nicht ans Telefon gegangen?«
»Warst du das?« Grace setzte sich auf und strich
sich die Haare aus der Stirn.
Smith regte sich neben ihr, hielt sie jedoch
weiterhin umschlungen. Grace war froh, dass er nicht wieder
verschwunden war.
»Natürlich war ich das«, bellte die Mutter zurück.
»Ich dachte, es läge dir vielleicht daran zu wissen, dass ich fast
den ganzen gestrigen Abend Cameron Brast am Telefon hatte. Dazu
noch mitten in meiner Abendgesellschaft.«
Grace schnitt ein Gesicht, Brast war der
Chefredakteur eines New Yorker Klatschmagazins. Ihre Mutter redete
weiter. »Das Bild von diesem Smith, wie er den Arm um dich legt,
wird nicht in den Morgenzeitungen erscheinen. Ich musste alle meine
Überzeugungskräfte aufbieten, um die Veröffentlichung zu
verhindern. Dank deiner Indiskretion bin ich diesem scheußlichen
Brast nun verpflichtet.«
»Es tut mir leid, dass du …«
»Aber ebenso unerhört ist die Tatsache, dass dein
Mann mich anrief und sagte, ein Reporter habe ihn in Paris
angerufen und um einen Kommentar gebeten. Ranulf war gestern Abend
praktisch untröstlich. Er hat versucht, dich zu erreichen, und hat
erst hier angerufen, als er bei dir nicht durchkam. Schämst du dich
überhaupt nicht?«
Grace schloss die Augen. »Mutter, Ranulf und ich
lassen uns scheiden.«
Als Carolina draufhin rasch und scharf Luft holte,
klang das wie ein kalter Luftzug, der durch die Leitung fegte. »O
mein Gott! Es ist dieser Mann, nicht wahr? Du verlässt Ranulf für
einen …«
»Ranulf und ich haben uns schon nach Vaters Tod
getrennt. Noch ehe ich John überhaupt kannte.«
»Mein Gott … aber warum will er sich von dir
trennen?«
Grace versuchte vergeblich, ihre Wut und
Frustration nicht durchklingen zu lassen. »Ich bin es, die die
Scheidung eingereicht hat.«
Sie hörte praktisch, wie alle Nervenleitungen im
Gehirn ihrer Mutter zum Stillstand kamen.
»Warum um Himmels willen?«
»Wir sind zu unterschiedlich. Unvereinbare
Gegensätze.«
Außerdem haben wir einander nie geliebt,
dachte sie anschließend.
»Komm schon, wie unterschiedlich könnt ihr beide
denn sein? Seine Familie hat einen guten Ruf.Vielleicht solltest du
es dir noch einmal überlegen?«
»Genau das Gleiche hat Vater gesagt«, erwiderte
Grace.
Pause.
»Du hast mit ihm darüber gesprochen?«
»Ja, im Sommer. Er riet mir, zu Ranulf
zurückzugehen. Doch alles wurde nur noch schlimmer.«
»Das verstehe ich nicht. Was ist denn passiert? Ihr
habt beide immer so glücklich ausgesehen.«
»Äußerlichkeiten können täuschen, Mutter.«
Daraufhin folgte ein längeres Schweigen.
»O Grace, ich kann den Gedanken daran kaum
ertragen. Erst dein Vater, jetzt deine Ehe.Wo wird das
enden?«
»Tut mir leid, wenn du das schwierig findest.« Es
war schwer, die Enttäuschung über die Reaktion ihrer Mutter nicht
durchklingen zu lassen. Sie hätte sich gewünscht, dass diese Frau
sie tröstete, wusste aber genau, dass das nie möglich sein
würde.
»Weißt du, dein Vater und ich hatten auch
schwierige Zeiten«, sagte Carolina nun leicht hoffnungsvoll. »Wir
haben es aber überstanden. Das ist alles möglich.«
Grace konnte kaum glauben, dass ihre Eltern
irgendwann ernsthaftere Probleme gehabt hatten als die Auswahl
ihrer Garderobe für die nächste Dinnerparty.
»Mutter, ehrlich gesagt hätte ich Ranulf nie
heiraten sollen. Ich hatte von Anfang an Zweifel. Schon bei der
Verlobungsparty.«
Smith stand nun auf und ging nackt in sein
Schlafzimmer. Einen Moment lang vergaß Grace ihre Mutter.
»Aber was willst du denn tun? Als alleinstehende
Frau?«
»Ich komme schon durch«, erwiderte Grace mit einem
Anflug von Sarkasmus. »Es ist erstaunlich, was Mädchen dieser Tage
alles dürfen.Wusstest du eigentlich, dass wir jetzt sogar das
Wahlrecht haben?«
»Kein Grund zur Ironie. Ich muss schon sagen, es
macht mir schwer zu schaffen, dass deine Ehe in Scherben liegt und
du dich sofort in eine schmierige Affäre mit diesem … Smith
stürzt.«
»John ist mein Leibwächter.«
Ihre Mutter verstummte. »Dein Leibwächter?«
»Daher musste er das Zimmer wechseln. Er muss
ständig in meiner Nähe bleiben.«
»Gütiger Gott. Wozu brauchst du das denn? Ist alles
in Ordnung?«
»Ja…« Grace atmete frustriert aus. Sie hatte die
Mutter
gerade wegen ihrer eigenen bevorstehenden Scheidung trösten
müssen, jetzt wollte sie ihr nicht auch noch wegen der Morde an
ihren Freundinnen beistehen müssen. »Ich muss jetzt Schluss machen,
Mutter. Ich muss ins Büro.«
»Aber heute ist doch ein Feiertag.
Columbus-Tag.«
»Ich weiß, aber es gibt jede Menge Arbeit. Ich rufe
dich später an.«
Grace legte auf und ging in den Flur. Sie wollte
Smith vorschlagen, mit ihr zusammen unter die Dusche zu gehen. Da
hörte sie seine Stimme aus seinem Zimmer:
»Ich weiß nicht, wann ich frei bin. Es könnte noch
zwei Wochen dauern, bis ich New York verlassen kann, was bedeutet,
dass ich erst Mitte November in den Nahen Osten reisen kann.«
Grace drehte sich um und ging in ihr Zimmer zurück.
Ihr war speiübel. Der Schmerz verriet ihr, dass sie sich selbst
getäuscht hatte. Irgendwie hatte sie geglaubt, dass er bei ihr
bleiben würde. Mitzubekommen, wie er die Einzelheiten seines
nächsten Auftrags besprach, war für sie wie ein Schlag ins
Gesicht.
Sie duschte rasch und schloss sich in ihrem
Ankleideraum ein.Vorher rief sie ihm noch zu, dass das Bad nun frei
sei.
Sie setzte sich vor ihren Frisiertisch. Ihr war zum
Heulen. Als sie hörte, wie das Wasser im Bad angestellt wurde,
beschloss sie, statt herumzusitzen und sich zu bedauern, einfach
die Wohnung zu verlassen. Sie war schon mehrere Tage nicht Joggen
gegangen. Der Gedanke an diese kleine Freiheit war unwiderstehlich.
Sie brauchte nur ein bisschen Zeit, um ihre Gedanken zu sammeln,
damit sie den Tag überstand, ohne vor ihm in Tränen
auszubrechen.
Sie musste sich wieder auf ihre Stärke
besinnen.
Sie zog ein Sweatshirt und die Laufschuhe an und
war
wenige Minuten später unten. Als sie vor der Markise auf den
Gehsteig trat, blickte sie hoch. Es regnete leicht, der Himmel war
verhangen, aber das machte ihr nichts aus. Sie lief los.
Aus Gewohnheit nahm sie die alte Strecke in
Richtung Central Park West, um dann im Park zu laufen. Sie suchte
sich einen der Joggingpfade nahe der Straße aus, aber weit genug
entfernt vom Verkehr und den Abgasen.
Das Regenwasser aus den Pfützen spritzte ihr die
Beine hoch. Ihr Schweiß vermischte sich mit der Regennässe. Grace
liebte es, sich so auszutoben.
Sie hatte etwa eine Viertelmeile hinter sich, als
sie merkte, dass jemand ihr folgte.
Zuerst dachte sie, es wäre Smith, und wollte schon
fluchen, doch dann wurde ihr klar, was sie getan hatte. Er würde
sehr wütend sein, dass sie einfach so ohne ihn losgerannt war, und
er hatte völlig Recht.
Was hatte sie sich bloß dabei gedacht?
Wohl gar nichts, sagte sie zu sich selbst. Sie
verlangsamte ihre Schritte und drehte sich um.
Aber es war nicht Smith.
Angst durchflutete sie und beherrschte in dem
Augenblick alles andere: ihre Körpergefühle, die Straßengeräusche,
alles. Rasch überflog ihr Blick die Person hinter sich. Sie konnte
das Gesicht nicht sehen, denn die Gestalt hatte eine Regenjacke mit
Kapuze an. Grace wartete aber nicht darauf, mehr zu erkennen.
Sie jagte stattdessen los und blickte sich nach
anderen Joggern um. Wegen des Regens war sie aber völlig allein auf
dieser Strecke.
Nun rannte sie so rasch sie konnte, lief zwischen
den Bäumen her, jagte über die Rasenflächen und versuchte,
zurück zur Straße zu gelangen. Sie spürte ihren Puls im ganzen
Körper, ihre Beine waren taub vor Anstrengung, aber sie hetzte
weiter.
Bilder von Cuppie, Suzanna und Mimi tauchten vor
ihrem inneren Auge auf - alle tot, alle mit durchgeschnittener
Kehle. Sie versuchte, schneller zu rennen.Versuchte, die Richtung
nach Hause zu finden, und versicherte sich unentwegt, dass sie es
schaffen würde.
Aber sicher war sie nicht.
War dies das Ende? Hier im Central Park? Panisch
erinnerte sie sich, was Smith über seine Klienten gesagt hatte.
Dass sie länger lebten, weil sie genau seine Anweisungen
befolgten.
Sie hatte eine seiner einfachsten Regeln
ignoriert.
Plötzlich hörte sie trotz des Rauschens in ihren
Lungen und dem Pulsieren ihres Herzens, wie jemand sie rief. Sie
erkannte, dass es die Person hinter ihr war.
Sie rief einen Namen, den sie nie wieder zu hören
geglaubt hatte. Grace’ Angst war wie fortgeblasen.
»Seesternchen!«
Es klang wie die Stimme ihres Vaters: Reiß dich
zusammen, Seesternchen. Komm, lächle!«
Grace’ Schritte verlangsamten sich, weil sie sich
überrascht umdrehte. Doch dabei stolperte sie, stürzte auf den Kies
und spürte, wie Knie und der Unterschenkel aufgeschürft wurden.
Doch darum machte sie sich jetzt keine Sorgen, denn der Fremde kam
auf sie zu. Grace hob schützend die Hand, wie um einen Schlag
abzuwehren.
»Ich will dir nichts tun …« Überrascht hörte Grace
eine Frauenstimme. Die Worte, von heftigen Atemstößen unterbrochen,
klangen rau und heiser. »Ehrlich nicht …«
Als ihre Verfolgerin sie nicht angriff, sondern
sich stattdessen
auf die Knie fallen ließ, um Luft zu holen, wusste Grace, dass sie
noch einmal davongekommen war.
Sobald sie ihre Stimme wiederfand, keuchte sie:
»Wer sind Sie? Woher wissen Sie meinen Namen?«
Die Fremde zog die Kapuze herab, und Grace sah sie
verblüfft an.
Das Gesicht der Frau war irgendwie vertraut, als
wären sie einander schon einmal begegnet …
O mein Gott, dachte Grace. Ihr wurde
eiskalt.
Die Frau sah aus wie ihr Vater.
Die Fremde hatte die gleiche Haar- und Hautfarbe
wie er, das Gesicht war ähnlich geformt, sie hatte die gleichen
tief liegenden blauen Augen.
Grace kniff die Augen zusammen, wegen des Regens,
aber auch weil sie glaubte, beinahe den Verstand zu verlieren, weil
es so unmöglich schien, was sie da vor sich sah.
»Ich bin … deine Halbschwester … Callie«, brachte
die Frau schwer atmend heraus.