8 009
Eine halbe Stunde später verließen sie das Penthouse und fuhren hinab in die Eingangshalle. Grace stellte Smith Joey vor, dem Portier. In dem Augenbklick sah sie einen schwarzen SUV vor dem Gebäude vorfahren. Es war riesig wie ein Panzer und wirkte mit den abgetönten Scheiben so, als könnte nur ein Zwillingsbruder von Smith am Steuer sitzen.
»Wo ist Rich?«, fragte der Portier, als er den neuen Wagen bemerkte.
»Er macht Urlaub«, antwortete Grace beiläufig. »Oh, die Handwerker werden auch eine Weile nicht kommen. Auch Therese hat Urlaub.«
Der Mann sah sie fragend an. Smith gab ihm eine Karte. »Falls irgendjemand in ihre Wohnung will, rufen Sie mich bitte sofort an. Niemand hat dort ohne meine Zustimmung Zutritt. Ist das klar?«
»Klar.«
»Einen schönen Tag«, sagte Grace und trat hinaus unter den Baldachin. Auf dem Weg zum Wagen ging Smith voran und hielt ihr die Tür auf. Sie setzte sich auf den Rücksitz, wobei ihr Rock fast aufgeplatzt wäre.
»Guten Morgen!« Die fröhliche Stimme wirkte sehr überraschend. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin Eddie!«
Dann schob er eine riesige Bärenpranke von einer Hand zwischen den Sitzen durch, und Grace blickte in ein Gesicht, das man sonst nur auf Weihnachtskarten fand: rund, rosig, mit einem weißen Bart. Der Typ sah aus wie der Nikolaus.
»Äh …« Grace lächelte ihn kopfschüttelnd an. »Tut mir leid, wenn ich Sie so anstarre. Sie sehen nämlich aus wie …«
»Wie Brad Pitt? Yeah, das hör ich oft.« Sein starker New Yorker Akzent war kaum zu verstehen, doch ihr gefiel das. »Muss ich Sie Gräfin nennen?«
»Nein, keinesfalls. Nennen Sie mich Grace.«
»Okay, Grace.« Er zwinkerte ihr zu.
Sobald Smith auf der anderen Seite eingestiegen war, wurden die Türen gleichzeitig klickend verschlossen.
»Morgen, Boss«, sagte Eddie, trat aufs Gaspedal und raste los in den dichten Verkehr. Grace musste sich an der Armlehne festhalten, damit sie nicht auf Smiths Schoß landete. Der Motor heulte auf, doch dann musste Eddie hart auf die Bremse treten, weil ein Taxi vor ihnen ausscherte. Grace schnallte sich an.
Der Himmel möge sie beschützen. Hoffentlich kamen sie heil im Büro an.
Eddie sah sie im Rückspiegel an. »He, Grace, was haben Sie dem Mann denn zum Frühstück gegeben? Er sieht ein bisschen blass aus. Ein bisschen kränklich. Ein bisschen …«
»Ich bin nicht in Stimmung für deine Witzchen«, murmelte Smith.
Graces Blick zuckte zu ihm. Smiths harte Züge wirkten entspannt.
»Raus mit der Sprache, Grace, was haben Sie ihm serviert?«
Der Fahrer starrte in den Rückspiegel, während er so rasch zwischen Gaspedal und Bremse hin- und hertrat, als säße er auf einem Fahrrad. Wenn er doch bloß nach vorn auf die Straße sehen würde, dachte sie. »Viel hat er nicht bekommen, fürchte ich.«
»Aha.« Nun redete er Smith an. »Womit hast du dich abfinden müssen?’ne Schale Weizenkeime, die nach Pappe schmecken, aber gut für den Dickdarm sind?«
»Kaviar«, erwiderte Smith trocken.
»Jesus! Esst ihr reichen Leute so was zum Frühstück?« Wieder zwinkerte er Grace zu. »Aber ein Mann wie er braucht mehr als nur Fischeier. Boss, soll ich dir unterwegs was besorgen?«
Sein Tonfall war fröhlich, aber die Frage war ernst gemeint. Grace hatte den Eindruck, dass Eddie es gewohnt war, sich um Smith zu kümmern.
»Ich glaube, ich schaffe es auch so.«
»Na gut«, murrte Eddie. »Mit der Haltung wirst du mich auf der Waage nie schlagen.«
»Ne, die Trophäe bringst du sicher selbst nach Hause.«
Eddie sah nun wieder Grace im Rückspiegel an. »Wissen Sie, ich kann ihn nämlich nicht nur unter den Tisch futtern, ich kann auch zwei von seiner Sorte in den Klammergriff nehmen. Er kann natürlich auch zwei von meinem Kaliber in die Klammer nehmen, klar. Das ist sogar noch besser.«
Smith starrte aus dem Fenster. Seine Miene wirkte trotz des ruckartigen Fahrstils ruhig und konzentriert. Grace spürte, wie entspannt diese beiden Männer miteinander umgingen, und fragte sich, wo sie sich wohl kennen gelernt hatten.Vielleicht waren sie ja sogar irgendwie verwandt.
Sie blickte kurz zu Smith, dann zu Eddie.Vielleicht doch nicht.
»Wir müssen uns eine Story ausdenken … für Sie«, sagte Grace unvermittelt. »Ich möchte nicht, dass die Leute denken, ich bräuchte einen Leibwächter.«
Smith sah sie mit einer hochgezogenen Braue an. »Verständlich.«
»Ein Berater? Sind Sie vielleicht eine Art Berater?« Sie lächelte. »In Sachen Organisationsentwicklung?«
Er runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»OE-Experten helfen Firmen, Stress zu mildern, indem sie das Personal zusammenbringen und Team-Trainings machen. Es ist, als ob alle in der Wall Street plötzlich zu Hippies würden.«
Er zuckte mit den Achseln. »Klingt vernünftig.«
»Das würde auch Ihr Auftreten erklären.«
»Was stimmt denn nicht mit meiner Garderobe?« Smith nölte mürrisch, weil er offensichtlich nicht bereit war, das zu ändern, auch wenn er geradezu herausfordernd wirkte.
Sie betrachtete lächelnd seine Lederjacke. »Sie entsprechen nicht gerade dem üblichen Stil mit Nadelstreifen und Krawatte.«
Eddie lachte. »Na, der Mann hat einfach alles in Schwarz. Trägt mehr Schwarz als ein Bestattungsunternehmer.«
»Schwarz ist völlig in Ordnung«, meinte Smith.
»Ja, wenn du in Sachen Sarg & Co. unterwegs bist.«
»Das ist bloß mein Teilzeitjob.«
Die beiden tauschten einen Blick aus, und Grace lächelte nun nicht mehr. Ihr drängte sich die Frage auf, ob Smith wirklich schon mal einen Menschen umgebracht hatte.
»Beschreiben Sie mir die Nummer zwei«, sagte er.
»Lou Lamont ist der Chef unserer Entwicklungsabteilung. Wie ich schon sagte, er hat mich von Anfang an bekämpft, erst ganz subtil, dann ziemlich offen.«
»Na, vielleicht kann ich ihm helfen, sich an Sie zu gewöhnen?« Smiths Kinn verspannte sich, und zwischen seinen Brauen bildete sich eine Falte.
»Ich dachte, sie hätten keine Ahnung von Organisationsentwicklung.«
Eddie lachte. »Sie haben hier einen Mann vor sich, der eine halbe Armee durch die Wüste kommandiert hat. Der wird auch mit einem Mann in Nadelstreifen fertig. Glauben Sie mir.«
Grace errötete und sah Smith an. Er war vermutlich Offizier gewesen und hatte bei der Operation Desert Storm mitgemacht.
Sie starrte ihn an, als könnte sie in seinem Gesicht oder seinen Händen eine Bestätigung finden.Vielleicht auch darin, wie er dasaß. Er hatte einen Arm ans Fenster gelehnt, den anderen über den Sitz drapiert. Da er sich bequem zurücklehnte, klaffte seine Jacke vorn weit auf. Das schwarze Hemd spannte über der Brust. Die stumpf glänzende Waffe war kaum auszumachen.Wie selbstsicher er wirkte!
Aber sie konnte ihn nur schwer deuten.
Dann sah sie wieder aus dem Fenster und versuchte, sich abzulenken, indem sie die Menschen draußen beobachtete. Sie wollte nicht dauernd an ihn denken.
Aber dazu brauchte sie etwas Stärkeres - vielleicht eine Parade auf der Fifth Avenue … die Kavalkade des Präsidenten … Elvis, der von den Toten wiederauferstanden war.
Als Eddie vor der Hall-Stiftung vorfuhr, beugte Smith sich vor. »Ich habe noch Sachen im Hotel.«
»Kein Problem. Sonst noch was?«
»Lebensmittel. Jede Menge.«
»Ich weiß, was du gerne isst.«
»Das ist alles.«
Grace griff nach der Türklinke, aber Smith ließ das nicht zu. »Gestatten Sie.«
Damit stieg er aus, ging um den Wagen herum und öffnete die Wagentür für sie.
Grace blieb kurz vor Eddies offenem Fenster stehen. »Nett, Sie kennen gelernt zu haben.«
»Ganz meinerseits.Werden Sie ihm etwas Anständiges zu Mittag geben? Ein ordentliches Sandwich. Salat. Vielleicht etwas Obst. Es ist wichtig, auf den Kaliumspiegel zu achten, und Eiweiß ist auch sehr gut.«
Smith verdrehte die Augen. »Sag mir ja nicht, dass du schon wieder einen Kurs machst.«
»Klar. Momentan ist es Ernährungslehre. Danach habe ich einen Kurs in Schriftstellerei belegt.«
»Junge, Junge.« Smith hob eine Hand und winkte Eddie nach, der sich in den Verkehr einfädelte. »Immer das Gleiche.«
Grace sah ihn fragend an, als sie die George-Washington-Statue passierten. Überraschenderweise gab er eine Erklärung ab.
»Eddie hat die Highschool nicht abgeschlossen, daher hat er an seinem fünfzigsten Geburtstag beschlossen, so viel wie möglich zu lernen. Wir haben schon die Geschichte des Mittelalters hinter uns, Französisch und wie man Brot backt.«
»Wie wunderbar.«
»Yeah, aber ich musste seine Prüfungsaufgabe essen. Für leicht und duftig hat er leider keine Punkte bekommen. Es war eher ein ordentlicher Ziegelstein.«
Grace sah zu ihm hoch, aber ihr Lachen blieb ihr in der Kehle stecken. Er hatte so lässig geklungen, dass sie angenommen hatte, sie würden beide einfach nur den Vorplatz überqueren, aber das traf auf ihn nicht zu. Sein Blick war berechnend und kaltblütig. Er beobachtete sämtliche Fußgänger ringsum, registrierte, auf welche Drehtüren sie sich zubewegten, und schätzte die Straße hinter ihnen ab. Seine Schritte waren gleichmäßig, aber sie wusste, dass er innerhalb eines Herzschlags aktionsbereit sein würde.
Als sie die Eingangshalle betraten, dachte sie darüber nach, warum sie ihn so attraktiv fand.
Hatte er Recht mit der Behauptung, dass er sie nur darum faszinierte, weil er aus einer anderen Welt kam? Nein, das glaubte sie nicht. Egal, von welchem Planeten er stammte, es war die knisternde Spannung zwischen ihnen, die sie so sehr anzog. Egal, ob er ein modisch gekleidetes Blaublut war wie ihr Mann oder ein Mechaniker in der Autowerkstatt. Wenn sie in seinen Armen lag, dachte sie nicht an Steuererklärungen.
Sobald sie die Hall-Stiftung betreten hatte, kamen mehrere Leute auf sie zu, um sie zu begrüßen. Sie unterhielt sich kurz mit jedem, daher dauerte es zehn Minuten, bis sie den Fahrstuhl erreichten. Auch auf dem Weg nach oben sprach sie weiter mit dem Personal. Sie fragte sie nach ihren Partnern, Gatten, Kindern, Angehörigen - alles persönlich und mit Namen.
Dann waren sie im obersten Stock und gingen auf ihr Büro zu. »Sie kennen jeden hier?«
»Mein Vater legte großen Wert auf Loyalität. Viele der Angestellten arbeiten schon seit Jahrzehnten hier.« Grace steckte den Kopf durch die Tür zu einem Konferenzraum und winkte den dort Versammelten zu, die zurückwinkten.
»Die Leute scheinen Sie zu mögen.«
Sie sah ihn überrascht an. Dann standen sie vor Kats Schreibtisch. Die junge Frau legte den Stift aus der Hand und sah sie mit aufgerissenen Augen an.
»Guten Morgen, Kat«, sagte Grace.
»Guten Morgen.«
Das Mädchen hatte Grace aber immer noch nicht angesehen.
Grace unterdrückte ein Lächeln und stellte sie einander vor. »Mr. Smith wird mich in den nächsten zwei Wochen als Berater begleiten. Irgendwelche Anrufe?«
Kat räusperte sich und schob ein paar Papiere beiseite. Dann sah sie Smith wieder an und endlich auch ihre Chefin. »Ah … ja. Ich habe sie Ihnen auf den Schreibtisch gelegt, oh, und seine Lordschaft, der Graf, hat angerufen. Er sagte, er habe versucht, Sie zu Hause zu erreichen, sei aber nicht durchgekommen. Er möchte, dass Sie ihn anrufen. Er meinte, Sie wüssten, wo er zu finden sei.«
»Wir werden den Vormittag in meinem Büro verbringen.«
»Der Graf meinte, es sei dringend.«
»Dann kann man nur hoffen, dass er sich gedulden kann«, murmelte Grace leise.
»Wie bitte?«
»Nichts. Danke, Kat.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten und sie allein waren, legte Grace ihre Handtasche auf den Schreibtisch und setzte sich in den Sessel ihres Vaters. Dann räusperte sie sich verlegen. »Äh … also … was werden Sie nun machen? Ich möchte nicht, dass Sie sich langweilen.«
»Ich bin hier nicht als Besucher.« Smith setzte sich an den Konferenztisch. »Ich arbeite genau wie Sie. Ich brauche die Baupläne dieses Gebäudes und Ihren Terminkalender für die nächsten vier Wochen.«
Grace wollte gerade etwas sagen, da ertönte die Sprechanlage.
»Lou Lamont möchte Sie sprechen.«
»Ob er wohl wieder einen Earl-Grey-Tee will?«
Kat lachte leise und flüsterte: »Nein, er scheint nicht in der Stimmung, länger bleiben zu wollen.«
»Machen Sie bitte eine Aktennotiz, dass wir ihm zu Weihnachten einen Teewärmer schenken. Ach ja, würden Sie bitte meinen Terminkalender für die nächsten vier Wochen ausdrucken und den Wachdienst anrufen, dass sie uns die Baupläne bringen?«
»Baupläne? Für die Chefsuite?«
»Nein, für das gesamte Gebäude.«
»Ja, gut.«
Grace erhob sich in genau dem Moment, als Lamont in den Raum stürzte.
Nach einem Blick auf Smith blieb er wie angewurzelt stehen.
»Wer sind Sie?«, fragte er im Befehlston.
Smith erhob sich langsam, bis Lamont überrascht den Kopf in den Nacken legen musste.
Grace stellte sie gelassen einander vor: »Mr. Smith. Er ist Berater für Organisationsentwicklung.«
»Nichts für ungut«, sagte Lamont zu Smith mit einem Tonfall, der leicht beleidigend wirkte. »Aber Sie sehen aus wie ein Türsteher in einem Nachtclub.«
Smiths Lächeln erreichte kaum die Mundwinkel. Er setzte sich wortlos wieder hin. Lamont schien ihn in keiner Weise zu interessieren, was den kleineren Mann zu ärgern schien.
Dann sah er Grace an. »Wozu brauchen wir denn einen OE-Berater?«
»Die Stiftung steht vor größeren Veränderungen. Dabei brauchen wir Hilfe.«
Lamonts Worte klangen scharf vor Ablehung. »Das ist doch lächerlich. Sie sagen mir, wir könnten Frederique nicht beauftragen, der wirklich etwas bewirken würde, bringen uns aber einen von diesen New-Age-Typen her …«
»Finden Sie vielleicht, dass Mr. Smith wie ein New-Age-Typ aussieht?«
Lamonts Blick zuckte durch den Raum zu Smith hinüber und dann wieder zu Grace. »Und was wollen Sie damit bezwecken?«
»Wir brauchen ein gut eingespieltes Team.«
»Eingespielt?« Lamont schüttelte den Kopf »Ihr Vater und ich haben die Firma jahrzehntelang geführt. Die Stiftung braucht kein Team, sie braucht eine starke Führungskraft an der Spitze.«
»Da haben wir wohl unterschiedliche Meinungen.« Ehe Lamont weiter streiten konnte, schnitt sie ihm das Wort ab. »Was ich am meisten wünsche, ist, dass dieser Streit mit Ihnen endlich aufhört.«
»Ich streite mich doch gar nicht. Seien Sie doch nicht so empfindlich.«
»Finden Sie vielleicht, dass die Unterhaltungen, die Sie hinter meinem Rücken mit verschiedenen Mitgliedern des Aufsichtsrats geführt haben, konstruktiv sind? Dann müssten Sie mich darüber aufklären, denn das verstehe ich nicht.« Grace lächelte gelassen, während Lamont versuchte, eine Antwort hinzubiegen. »Aber genug davon. Sollten Sie nicht eigentlich in Virginia sein?«
Lamont steckte beide Hände in die Rocktaschen und klimperte mit dem Kleingeld. »Das ist das Problem. Ich habe heute Morgen mit Herbert Finn dem Dritten gesprochen. Sie haben es sich anders überlegt. Wir werden die Sammlung nicht beim Jahresball versteigern können.«
Grace gelang es, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Auf dem alljährlichen Jahresball der Hall-Stiftung wurde ein bedeutendes Stück aus der amerikanischen Geschichte versteigert. Der Verkäufer stimmte zu, nur die Hälfte des Erlöses zu behalten, was ihm eine deutliche Steuererleichterung einbrachte. Die Stiftung erhielt dadurch eine großzügige Spende, und der Abend gewann an Spannung, so dass die meisten Leute sich um die Karten dazu rissen. Bei der Versteigerung wurde gewöhnlich rasch und hektisch geboten, und manchmal brach, auf höfliche Weise, geradezu ein Streit aus. Bei früheren Veranstaltungen hatten sie einen handgeschriebenen Entwurf von Martin Luther Kings »Traum«-Rede versteigert, die makellosen Pläne für die Schlacht bei Gettysburg und Betsy Ross’ erste Fahne.
Wenn sie die Finn’sche Briefsammlung nicht bekam, wäre das ein schwerer Schlag.
Grace lehnte sich langsam im Sessel ihres Vaters zurück. »Das ist aber schade.«
»Ich glaube, sie haben es zurückgezogen, weil sie abwarten wollen, ob der Jahresball immer noch ein solcher Magnet ist. Das ist genau, was ich befürchtet hatte, und ein weiterer Grund, Frederique zu beauftragen.«
Lamonts Stimme klang ungewöhnlich zurückhaltend. Grace erkannte, dass er echt enttäuscht war. Aber sie weigerte sich, über Frederique noch einmal zu diskutieren.
»Das wird kein Problem sein.«
»Wo wollen Sie denn etwas hernehmen, was mit zwölf perfekt erhaltenen Briefen von Benjamin Franklin an Thomas Jefferson vergleichbar wäre? So was wird einem doch nicht einfach auf einem Silberteller präsentiert. Und wenn ich Sie daran erinnern darf, es war Ihr Vater, der die Zusage für die Finn-Sammlung bekam, nicht Sie.«
Grace lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich finde schon etwas.«
»Aber während Sie mit Ihrem Berater herumschwirren«, entgegnete Lamont hartnäckig, »rückt der Termin jeden Tag näher.«
»Ja, das stimmt.«
Lamont schien noch etwas erwidern zu wollen, stand aber plötzlich auf und ging zur Tür. »Wie Sie wollen.«
Nachdem der Mann verschwunden war, sah Grace ungeduldig den Papierberg auf ihrem Schreibtisch durch. Sie konnte kaum stillsitzen, stand rasch auf und trat vor die Fensterreihe. Dort stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte auf die Wolkenkratzer draußen.
Sie war unterwegs in ihr Bad, als Smith das Wort ergriff. »Machen Sie schon. Sprechen Sie es aus.«
Sie räusperte sich. »Was denn?«
»Was Sie gerade denken.«
»Nichts.« Doch in Wirklichkeit wirbelten ihr aufsässige Gedanken durch den Kopf, die sie ihm gegenüber nicht äußern wollte. Das fände sie angesichts seiner Selbstdisziplin sehr schwach. Daher zwang sie sich, wieder am Schreibtisch Platz zu nehmen.
»Lügnerin.«
»Was zum Teufel wollen Sie eigentlich von mir?«, fragte sie fordernd. Die gelassene Neugier in seinen Zügen machte sie fast verrückt.
»Warum ist es für Sie so wichtig, immer alles unter Kontolle zu haben?«, fragte er zurück.
»Das sagen ausgerechnet Sie?« Smith zog eine Braue fragend hoch.
»Ein Mann, der im Vergleich dazu den Terminator eher nachlässig aussehen lässt?«
»Das ist aber ein sehr origineller Vergleich«, erwiderte er sarkastisch. »Habe ich noch nie gehört.«
Grace wandte den Blick ab. »Ich glaube, Sie haben Recht. Wir brauchen einander nicht kennen zu lernen.«
Sie spürte Smiths Blick.
Kaum war ihre Wut verraucht, bedauerte sie, ihn angeblafft zu haben. Unter normalen Bedingungen verlor sie nicht so leicht die Geduld. Aber der Stress machte ihr allmählich zu schaffen.
Das und seine Nähe. Selbst wenn er sich ganz still verhielt, regte er sie auf.
Grace holte tief Luft. »Ich weiß, dass Lamont das Problem übertreiben wird.Vermutlich ruft er in diesem Moment schon Bainbridge an. Niemand hier lässt mich momentan in Ruhe.«
Damit lehnte sie sich zurück und starrte auf die Büste ihres Vaters. Hatte er es auch manchmal als schwer empfunden? Wenn ja, dann hatte er es sich nie anmerken lassen.
»Das Schlimme ist, dass Lou Recht hat. Der Zeitpunkt könnte kaum schlechter sein. Ich habe keine Ahnung, ob wir etwas ähnlich Wichtiges finden, das wir versteigern können.«
Da summte die Sprechanlage.
»Ja?«
»Ihre Mutter ist am Apparat.«
Grace zuckte zusammen und fühlte sich, als hätte jemand sie gefesselt.
»Wunderbar«, murmelte sie, doch als sie den Hörer abnahm, klang ihre Stimme locker und fröhlich. »Hallo, Mama. Heute Abend? Ja, natürlich. Gerne. Ja. Um acht? Okay. Byebye.«
Sie hängte auf. Als sie wieder aufblickte, lächelte sie Smith müde an. »Ist Ihnen auch manchmal danach zumute, einfach loszuschreien?«
Noch ehe Smith antworten konnte, summte Kat einen weiteren Anruf durch.
Der Tag verging mit ununterbrochenen Gesprächen und Papierkram. Jede Menge Leute wollten etwas von Grace. Das war nicht ungewöhnlich, aber Smith machte alles viel komplizierter.
Er schwieg zwar die meiste Zeit, aber seine Gegenwart hatte deutliche Wirkung auf sie und alle anderen. Die Männer wirkten in seiner Gegenwart zurückhaltender, als würde er sie einschüchtern. Die Frauen reagierten alle so wie Kat. Ein Blick, und sie rissen die Augen auf und wurden verlegen. Das war so eindeutig, dass Grace bald vorhersagen konnte, wann sie sich wieder über die Haare streichen würden.
Sie würde sich an diese Show gewöhnen müssen, denn als eine Abteilungsleiterin der Stiftung, eine Frau, für die der Begriff »stämmig« wie eigens geprägt schien, zu einer Besprechung hereinkam und Smith gegenübersaß, entfuhr dieser mürrischen Weltmeisterin der Strenge ein mädchenhaftes Kichern, wie es noch nie jemand aus ihrem Mund gehört hatte.
Es war sehr schwer gewesen, sie daraufhin nicht sprachlos anzustarren. Wer hätte gedacht, dass sie auch nur einen Funken Östrogen in sich hatte?
Aber in Wirklichkeit wurde Grace immer gereizter, als sie erkannte, dass sämtliche Frauen Smith anhimmelten und versuchten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Immerhin schien er es nicht zu bemerken, daher gaben sich die Mädchen so viel Mühe. Sein Blick ruhte niemals zu lange oder auf unangemessene Weise auf ihnen, selbst dann nicht, als eine aus der Buchhaltung ihr Jackett auszog und ihren großen Busen in seine Richtung schob.
In dem Moment war der Gedanke, autoritär zu reagieren und diese Möchtegern-Pussy zu feuern, sehr verlockend, aber Grace konnte sich beherrschen.
Sie weigerte sich auch, über die Konsequenzen ihres Impulses nachzudenken. Zu wissen, warum sie plötzlich so besitzergreifend war, würde ihr nichts nützen. Sie ahnte, dass ihr die Antwort nicht gefallen würde.
Zum Glück war das die letzte Besprechung des Tages gewesen.