8 

Eine halbe Stunde später verließen sie das
Penthouse und fuhren hinab in die Eingangshalle. Grace stellte
Smith Joey vor, dem Portier. In dem Augenbklick sah sie einen
schwarzen SUV vor dem Gebäude vorfahren. Es war riesig wie ein
Panzer und wirkte mit den abgetönten Scheiben so, als könnte nur
ein Zwillingsbruder von Smith am Steuer sitzen.
»Wo ist Rich?«, fragte der Portier, als er den
neuen Wagen bemerkte.
»Er macht Urlaub«, antwortete Grace beiläufig. »Oh,
die Handwerker werden auch eine Weile nicht kommen. Auch Therese
hat Urlaub.«
Der Mann sah sie fragend an. Smith gab ihm eine
Karte. »Falls irgendjemand in ihre Wohnung will, rufen Sie mich
bitte sofort an. Niemand hat dort ohne meine Zustimmung Zutritt.
Ist das klar?«
»Klar.«
»Einen schönen Tag«, sagte Grace und trat hinaus
unter den Baldachin. Auf dem Weg zum Wagen ging Smith voran und
hielt ihr die Tür auf. Sie setzte sich auf den Rücksitz, wobei ihr
Rock fast aufgeplatzt wäre.
»Guten Morgen!« Die fröhliche Stimme wirkte sehr
überraschend. »Ich wollte Sie nicht erschrecken. Ich bin
Eddie!«
Dann schob er eine riesige Bärenpranke von einer
Hand
zwischen den Sitzen durch, und Grace blickte in ein Gesicht, das
man sonst nur auf Weihnachtskarten fand: rund, rosig, mit einem
weißen Bart. Der Typ sah aus wie der Nikolaus.
»Äh …« Grace lächelte ihn kopfschüttelnd an. »Tut
mir leid, wenn ich Sie so anstarre. Sie sehen nämlich aus wie
…«
»Wie Brad Pitt? Yeah, das hör ich oft.« Sein
starker New Yorker Akzent war kaum zu verstehen, doch ihr gefiel
das. »Muss ich Sie Gräfin nennen?«
»Nein, keinesfalls. Nennen Sie mich Grace.«
»Okay, Grace.« Er zwinkerte ihr zu.
Sobald Smith auf der anderen Seite eingestiegen
war, wurden die Türen gleichzeitig klickend verschlossen.
»Morgen, Boss«, sagte Eddie, trat aufs Gaspedal und
raste los in den dichten Verkehr. Grace musste sich an der Armlehne
festhalten, damit sie nicht auf Smiths Schoß landete. Der Motor
heulte auf, doch dann musste Eddie hart auf die Bremse treten, weil
ein Taxi vor ihnen ausscherte. Grace schnallte sich an.
Der Himmel möge sie beschützen. Hoffentlich kamen
sie heil im Büro an.
Eddie sah sie im Rückspiegel an. »He, Grace, was
haben Sie dem Mann denn zum Frühstück gegeben? Er sieht ein
bisschen blass aus. Ein bisschen kränklich. Ein bisschen …«
»Ich bin nicht in Stimmung für deine Witzchen«,
murmelte Smith.
Graces Blick zuckte zu ihm. Smiths harte Züge
wirkten entspannt.
»Raus mit der Sprache, Grace, was haben Sie ihm
serviert?«
Der Fahrer starrte in den Rückspiegel, während er
so
rasch zwischen Gaspedal und Bremse hin- und hertrat, als säße er
auf einem Fahrrad. Wenn er doch bloß nach vorn auf die Straße sehen
würde, dachte sie. »Viel hat er nicht bekommen, fürchte ich.«
»Aha.« Nun redete er Smith an. »Womit hast du dich
abfinden müssen?’ne Schale Weizenkeime, die nach Pappe schmecken,
aber gut für den Dickdarm sind?«
»Kaviar«, erwiderte Smith trocken.
»Jesus! Esst ihr reichen Leute so was zum
Frühstück?« Wieder zwinkerte er Grace zu. »Aber ein Mann wie er
braucht mehr als nur Fischeier. Boss, soll ich dir unterwegs was
besorgen?«
Sein Tonfall war fröhlich, aber die Frage war ernst
gemeint. Grace hatte den Eindruck, dass Eddie es gewohnt war, sich
um Smith zu kümmern.
»Ich glaube, ich schaffe es auch so.«
»Na gut«, murrte Eddie. »Mit der Haltung wirst du
mich auf der Waage nie schlagen.«
»Ne, die Trophäe bringst du sicher selbst nach
Hause.«
Eddie sah nun wieder Grace im Rückspiegel an.
»Wissen Sie, ich kann ihn nämlich nicht nur unter den Tisch
futtern, ich kann auch zwei von seiner Sorte in den Klammergriff
nehmen. Er kann natürlich auch zwei von meinem Kaliber in die
Klammer nehmen, klar. Das ist sogar noch besser.«
Smith starrte aus dem Fenster. Seine Miene wirkte
trotz des ruckartigen Fahrstils ruhig und konzentriert. Grace
spürte, wie entspannt diese beiden Männer miteinander umgingen, und
fragte sich, wo sie sich wohl kennen gelernt hatten.Vielleicht
waren sie ja sogar irgendwie verwandt.
Sie blickte kurz zu Smith, dann zu Eddie.Vielleicht
doch nicht.
»Wir müssen uns eine Story ausdenken … für Sie«,
sagte Grace unvermittelt. »Ich möchte nicht, dass die Leute denken,
ich bräuchte einen Leibwächter.«
Smith sah sie mit einer hochgezogenen Braue an.
»Verständlich.«
»Ein Berater? Sind Sie vielleicht eine Art
Berater?« Sie lächelte. »In Sachen Organisationsentwicklung?«
Er runzelte die Stirn. »Was ist das?«
»OE-Experten helfen Firmen, Stress zu mildern,
indem sie das Personal zusammenbringen und Team-Trainings machen.
Es ist, als ob alle in der Wall Street plötzlich zu Hippies
würden.«
Er zuckte mit den Achseln. »Klingt
vernünftig.«
»Das würde auch Ihr Auftreten erklären.«
»Was stimmt denn nicht mit meiner Garderobe?« Smith
nölte mürrisch, weil er offensichtlich nicht bereit war, das zu
ändern, auch wenn er geradezu herausfordernd wirkte.
Sie betrachtete lächelnd seine Lederjacke. »Sie
entsprechen nicht gerade dem üblichen Stil mit Nadelstreifen und
Krawatte.«
Eddie lachte. »Na, der Mann hat einfach alles in
Schwarz. Trägt mehr Schwarz als ein Bestattungsunternehmer.«
»Schwarz ist völlig in Ordnung«, meinte
Smith.
»Ja, wenn du in Sachen Sarg & Co.
unterwegs bist.«
»Das ist bloß mein Teilzeitjob.«
Die beiden tauschten einen Blick aus, und Grace
lächelte nun nicht mehr. Ihr drängte sich die Frage auf, ob Smith
wirklich schon mal einen Menschen umgebracht hatte.
»Beschreiben Sie mir die Nummer zwei«, sagte
er.
»Lou Lamont ist der Chef unserer
Entwicklungsabteilung. Wie ich schon sagte, er hat mich von Anfang
an bekämpft, erst ganz subtil, dann ziemlich offen.«
»Na, vielleicht kann ich ihm helfen, sich an Sie zu
gewöhnen?« Smiths Kinn verspannte sich, und zwischen seinen Brauen
bildete sich eine Falte.
»Ich dachte, sie hätten keine Ahnung von
Organisationsentwicklung.«
Eddie lachte. »Sie haben hier einen Mann vor sich,
der eine halbe Armee durch die Wüste kommandiert hat. Der wird auch
mit einem Mann in Nadelstreifen fertig. Glauben Sie mir.«
Grace errötete und sah Smith an. Er war vermutlich
Offizier gewesen und hatte bei der Operation Desert Storm
mitgemacht.
Sie starrte ihn an, als könnte sie in seinem
Gesicht oder seinen Händen eine Bestätigung finden.Vielleicht auch
darin, wie er dasaß. Er hatte einen Arm ans Fenster gelehnt, den
anderen über den Sitz drapiert. Da er sich bequem zurücklehnte,
klaffte seine Jacke vorn weit auf. Das schwarze Hemd spannte über
der Brust. Die stumpf glänzende Waffe war kaum auszumachen.Wie
selbstsicher er wirkte!
Aber sie konnte ihn nur schwer deuten.
Dann sah sie wieder aus dem Fenster und versuchte,
sich abzulenken, indem sie die Menschen draußen beobachtete. Sie
wollte nicht dauernd an ihn denken.
Aber dazu brauchte sie etwas Stärkeres - vielleicht
eine Parade auf der Fifth Avenue … die Kavalkade des Präsidenten …
Elvis, der von den Toten wiederauferstanden war.
Als Eddie vor der Hall-Stiftung vorfuhr, beugte
Smith sich vor. »Ich habe noch Sachen im Hotel.«
»Kein Problem. Sonst noch was?«
»Lebensmittel. Jede Menge.«
»Ich weiß, was du gerne isst.«
»Das ist alles.«
Grace griff nach der Türklinke, aber Smith ließ das
nicht zu. »Gestatten Sie.«
Damit stieg er aus, ging um den Wagen herum und
öffnete die Wagentür für sie.
Grace blieb kurz vor Eddies offenem Fenster stehen.
»Nett, Sie kennen gelernt zu haben.«
»Ganz meinerseits.Werden Sie ihm etwas Anständiges
zu Mittag geben? Ein ordentliches Sandwich. Salat. Vielleicht etwas
Obst. Es ist wichtig, auf den Kaliumspiegel zu achten, und Eiweiß
ist auch sehr gut.«
Smith verdrehte die Augen. »Sag mir ja nicht, dass
du schon wieder einen Kurs machst.«
»Klar. Momentan ist es Ernährungslehre. Danach habe
ich einen Kurs in Schriftstellerei belegt.«
»Junge, Junge.« Smith hob eine Hand und winkte
Eddie nach, der sich in den Verkehr einfädelte. »Immer das
Gleiche.«
Grace sah ihn fragend an, als sie die
George-Washington-Statue passierten. Überraschenderweise gab er
eine Erklärung ab.
»Eddie hat die Highschool nicht abgeschlossen,
daher hat er an seinem fünfzigsten Geburtstag beschlossen, so viel
wie möglich zu lernen. Wir haben schon die Geschichte des
Mittelalters hinter uns, Französisch und wie man Brot backt.«
»Wie wunderbar.«
»Yeah, aber ich musste seine Prüfungsaufgabe essen.
Für leicht und duftig hat er leider keine Punkte bekommen. Es war
eher ein ordentlicher Ziegelstein.«
Grace sah zu ihm hoch, aber ihr Lachen blieb ihr in
der Kehle stecken. Er hatte so lässig geklungen, dass sie
angenommen
hatte, sie würden beide einfach nur den Vorplatz überqueren, aber
das traf auf ihn nicht zu. Sein Blick war berechnend und
kaltblütig. Er beobachtete sämtliche Fußgänger ringsum,
registrierte, auf welche Drehtüren sie sich zubewegten, und
schätzte die Straße hinter ihnen ab. Seine Schritte waren
gleichmäßig, aber sie wusste, dass er innerhalb eines Herzschlags
aktionsbereit sein würde.
Als sie die Eingangshalle betraten, dachte sie
darüber nach, warum sie ihn so attraktiv fand.
Hatte er Recht mit der Behauptung, dass er sie nur
darum faszinierte, weil er aus einer anderen Welt kam? Nein, das
glaubte sie nicht. Egal, von welchem Planeten er stammte, es war
die knisternde Spannung zwischen ihnen, die sie so sehr anzog.
Egal, ob er ein modisch gekleidetes Blaublut war wie ihr Mann oder
ein Mechaniker in der Autowerkstatt. Wenn sie in seinen Armen lag,
dachte sie nicht an Steuererklärungen.
Sobald sie die Hall-Stiftung betreten hatte, kamen
mehrere Leute auf sie zu, um sie zu begrüßen. Sie unterhielt sich
kurz mit jedem, daher dauerte es zehn Minuten, bis sie den
Fahrstuhl erreichten. Auch auf dem Weg nach oben sprach sie weiter
mit dem Personal. Sie fragte sie nach ihren Partnern, Gatten,
Kindern, Angehörigen - alles persönlich und mit Namen.
Dann waren sie im obersten Stock und gingen auf ihr
Büro zu. »Sie kennen jeden hier?«
»Mein Vater legte großen Wert auf Loyalität. Viele
der Angestellten arbeiten schon seit Jahrzehnten hier.« Grace
steckte den Kopf durch die Tür zu einem Konferenzraum und winkte
den dort Versammelten zu, die zurückwinkten.
»Die Leute scheinen Sie zu mögen.«
Sie sah ihn überrascht an. Dann standen sie vor
Kats
Schreibtisch. Die junge Frau legte den Stift aus der Hand und sah
sie mit aufgerissenen Augen an.
»Guten Morgen, Kat«, sagte Grace.
»Guten Morgen.«
Das Mädchen hatte Grace aber immer noch nicht
angesehen.
Grace unterdrückte ein Lächeln und stellte sie
einander vor. »Mr. Smith wird mich in den nächsten zwei Wochen als
Berater begleiten. Irgendwelche Anrufe?«
Kat räusperte sich und schob ein paar Papiere
beiseite. Dann sah sie Smith wieder an und endlich auch ihre
Chefin. »Ah … ja. Ich habe sie Ihnen auf den Schreibtisch gelegt,
oh, und seine Lordschaft, der Graf, hat angerufen. Er sagte, er
habe versucht, Sie zu Hause zu erreichen, sei aber nicht
durchgekommen. Er möchte, dass Sie ihn anrufen. Er meinte, Sie
wüssten, wo er zu finden sei.«
»Wir werden den Vormittag in meinem Büro
verbringen.«
»Der Graf meinte, es sei dringend.«
»Dann kann man nur hoffen, dass er sich gedulden
kann«, murmelte Grace leise.
»Wie bitte?«
»Nichts. Danke, Kat.«
Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatten und
sie allein waren, legte Grace ihre Handtasche auf den Schreibtisch
und setzte sich in den Sessel ihres Vaters. Dann räusperte sie sich
verlegen. »Äh … also … was werden Sie nun machen? Ich möchte nicht,
dass Sie sich langweilen.«
»Ich bin hier nicht als Besucher.« Smith setzte
sich an den Konferenztisch. »Ich arbeite genau wie Sie. Ich brauche
die Baupläne dieses Gebäudes und Ihren Terminkalender für die
nächsten vier Wochen.«
Grace wollte gerade etwas sagen, da ertönte die
Sprechanlage.
»Lou Lamont möchte Sie sprechen.«
»Ob er wohl wieder einen Earl-Grey-Tee will?«
Kat lachte leise und flüsterte: »Nein, er scheint
nicht in der Stimmung, länger bleiben zu wollen.«
»Machen Sie bitte eine Aktennotiz, dass wir ihm zu
Weihnachten einen Teewärmer schenken. Ach ja, würden Sie bitte
meinen Terminkalender für die nächsten vier Wochen ausdrucken und
den Wachdienst anrufen, dass sie uns die Baupläne bringen?«
»Baupläne? Für die Chefsuite?«
»Nein, für das gesamte Gebäude.«
»Ja, gut.«
Grace erhob sich in genau dem Moment, als Lamont in
den Raum stürzte.
Nach einem Blick auf Smith blieb er wie angewurzelt
stehen.
»Wer sind Sie?«, fragte er im Befehlston.
Smith erhob sich langsam, bis Lamont überrascht den
Kopf in den Nacken legen musste.
Grace stellte sie gelassen einander vor: »Mr.
Smith. Er ist Berater für Organisationsentwicklung.«
»Nichts für ungut«, sagte Lamont zu Smith mit einem
Tonfall, der leicht beleidigend wirkte. »Aber Sie sehen aus wie ein
Türsteher in einem Nachtclub.«
Smiths Lächeln erreichte kaum die Mundwinkel. Er
setzte sich wortlos wieder hin. Lamont schien ihn in keiner Weise
zu interessieren, was den kleineren Mann zu ärgern schien.
Dann sah er Grace an. »Wozu brauchen wir denn einen
OE-Berater?«
»Die Stiftung steht vor größeren Veränderungen.
Dabei brauchen wir Hilfe.«
Lamonts Worte klangen scharf vor Ablehung. »Das ist
doch lächerlich. Sie sagen mir, wir könnten Frederique nicht
beauftragen, der wirklich etwas bewirken würde, bringen uns aber
einen von diesen New-Age-Typen her …«
»Finden Sie vielleicht, dass Mr. Smith wie ein
New-Age-Typ aussieht?«
Lamonts Blick zuckte durch den Raum zu Smith
hinüber und dann wieder zu Grace. »Und was wollen Sie damit
bezwecken?«
»Wir brauchen ein gut eingespieltes Team.«
»Eingespielt?« Lamont schüttelte den Kopf »Ihr
Vater und ich haben die Firma jahrzehntelang geführt. Die Stiftung
braucht kein Team, sie braucht eine starke Führungskraft an der
Spitze.«
»Da haben wir wohl unterschiedliche Meinungen.« Ehe
Lamont weiter streiten konnte, schnitt sie ihm das Wort ab. »Was
ich am meisten wünsche, ist, dass dieser Streit mit Ihnen endlich
aufhört.«
»Ich streite mich doch gar nicht. Seien Sie doch
nicht so empfindlich.«
»Finden Sie vielleicht, dass die Unterhaltungen,
die Sie hinter meinem Rücken mit verschiedenen Mitgliedern des
Aufsichtsrats geführt haben, konstruktiv sind? Dann müssten Sie
mich darüber aufklären, denn das verstehe ich nicht.« Grace
lächelte gelassen, während Lamont versuchte, eine Antwort
hinzubiegen. »Aber genug davon. Sollten Sie nicht eigentlich in
Virginia sein?«
Lamont steckte beide Hände in die Rocktaschen und
klimperte mit dem Kleingeld. »Das ist das Problem. Ich habe heute
Morgen mit Herbert Finn dem Dritten gesprochen.
Sie haben es sich anders überlegt. Wir werden die Sammlung nicht
beim Jahresball versteigern können.«
Grace gelang es, ihre Enttäuschung zu
verbergen.
Auf dem alljährlichen Jahresball der Hall-Stiftung
wurde ein bedeutendes Stück aus der amerikanischen Geschichte
versteigert. Der Verkäufer stimmte zu, nur die Hälfte des Erlöses
zu behalten, was ihm eine deutliche Steuererleichterung einbrachte.
Die Stiftung erhielt dadurch eine großzügige Spende, und der Abend
gewann an Spannung, so dass die meisten Leute sich um die Karten
dazu rissen. Bei der Versteigerung wurde gewöhnlich rasch und
hektisch geboten, und manchmal brach, auf höfliche Weise, geradezu
ein Streit aus. Bei früheren Veranstaltungen hatten sie einen
handgeschriebenen Entwurf von Martin Luther Kings »Traum«-Rede
versteigert, die makellosen Pläne für die Schlacht bei Gettysburg
und Betsy Ross’ erste Fahne.
Wenn sie die Finn’sche Briefsammlung nicht bekam,
wäre das ein schwerer Schlag.
Grace lehnte sich langsam im Sessel ihres Vaters
zurück. »Das ist aber schade.«
»Ich glaube, sie haben es zurückgezogen, weil sie
abwarten wollen, ob der Jahresball immer noch ein solcher Magnet
ist. Das ist genau, was ich befürchtet hatte, und ein weiterer
Grund, Frederique zu beauftragen.«
Lamonts Stimme klang ungewöhnlich zurückhaltend.
Grace erkannte, dass er echt enttäuscht war. Aber sie weigerte
sich, über Frederique noch einmal zu diskutieren.
»Das wird kein Problem sein.«
»Wo wollen Sie denn etwas hernehmen, was mit zwölf
perfekt erhaltenen Briefen von Benjamin Franklin an Thomas
Jefferson vergleichbar wäre? So was wird einem doch nicht einfach
auf einem Silberteller präsentiert. Und wenn
ich Sie daran erinnern darf, es war Ihr Vater, der die Zusage für
die Finn-Sammlung bekam, nicht Sie.«
Grace lächelte mit zusammengebissenen Zähnen. »Ich
finde schon etwas.«
»Aber während Sie mit Ihrem Berater
herumschwirren«, entgegnete Lamont hartnäckig, »rückt der Termin
jeden Tag näher.«
»Ja, das stimmt.«
Lamont schien noch etwas erwidern zu wollen, stand
aber plötzlich auf und ging zur Tür. »Wie Sie wollen.«
Nachdem der Mann verschwunden war, sah Grace
ungeduldig den Papierberg auf ihrem Schreibtisch durch. Sie konnte
kaum stillsitzen, stand rasch auf und trat vor die Fensterreihe.
Dort stemmte sie die Hände in die Hüften und starrte auf die
Wolkenkratzer draußen.
Sie war unterwegs in ihr Bad, als Smith das Wort
ergriff. »Machen Sie schon. Sprechen Sie es aus.«
Sie räusperte sich. »Was denn?«
»Was Sie gerade denken.«
»Nichts.« Doch in Wirklichkeit wirbelten ihr
aufsässige Gedanken durch den Kopf, die sie ihm gegenüber nicht
äußern wollte. Das fände sie angesichts seiner Selbstdisziplin sehr
schwach. Daher zwang sie sich, wieder am Schreibtisch Platz zu
nehmen.
»Lügnerin.«
»Was zum Teufel wollen Sie eigentlich von mir?«,
fragte sie fordernd. Die gelassene Neugier in seinen Zügen machte
sie fast verrückt.
»Warum ist es für Sie so wichtig, immer alles unter
Kontolle zu haben?«, fragte er zurück.
»Das sagen ausgerechnet Sie?« Smith zog eine Braue
fragend hoch.
»Ein Mann, der im Vergleich dazu den Terminator
eher nachlässig aussehen lässt?«
»Das ist aber ein sehr origineller Vergleich«,
erwiderte er sarkastisch. »Habe ich noch nie gehört.«
Grace wandte den Blick ab. »Ich glaube, Sie haben
Recht. Wir brauchen einander nicht kennen zu lernen.«
Sie spürte Smiths Blick.
Kaum war ihre Wut verraucht, bedauerte sie, ihn
angeblafft zu haben. Unter normalen Bedingungen verlor sie nicht so
leicht die Geduld. Aber der Stress machte ihr allmählich zu
schaffen.
Das und seine Nähe. Selbst wenn er sich ganz still
verhielt, regte er sie auf.
Grace holte tief Luft. »Ich weiß, dass Lamont das
Problem übertreiben wird.Vermutlich ruft er in diesem Moment schon
Bainbridge an. Niemand hier lässt mich momentan in Ruhe.«
Damit lehnte sie sich zurück und starrte auf die
Büste ihres Vaters. Hatte er es auch manchmal als schwer empfunden?
Wenn ja, dann hatte er es sich nie anmerken lassen.
»Das Schlimme ist, dass Lou Recht hat. Der
Zeitpunkt könnte kaum schlechter sein. Ich habe keine Ahnung, ob
wir etwas ähnlich Wichtiges finden, das wir versteigern
können.«
Da summte die Sprechanlage.
»Ja?«
»Ihre Mutter ist am Apparat.«
Grace zuckte zusammen und fühlte sich, als hätte
jemand sie gefesselt.
»Wunderbar«, murmelte sie, doch als sie den Hörer
abnahm, klang ihre Stimme locker und fröhlich. »Hallo, Mama.
Heute Abend? Ja, natürlich. Gerne. Ja. Um acht? Okay.
Byebye.«
Sie hängte auf. Als sie wieder aufblickte, lächelte
sie Smith müde an. »Ist Ihnen auch manchmal danach zumute, einfach
loszuschreien?«
Noch ehe Smith antworten konnte, summte Kat einen
weiteren Anruf durch.
Der Tag verging mit ununterbrochenen Gesprächen und
Papierkram. Jede Menge Leute wollten etwas von Grace. Das war nicht
ungewöhnlich, aber Smith machte alles viel komplizierter.
Er schwieg zwar die meiste Zeit, aber seine
Gegenwart hatte deutliche Wirkung auf sie und alle anderen. Die
Männer wirkten in seiner Gegenwart zurückhaltender, als würde er
sie einschüchtern. Die Frauen reagierten alle so wie Kat. Ein
Blick, und sie rissen die Augen auf und wurden verlegen. Das war so
eindeutig, dass Grace bald vorhersagen konnte, wann sie sich wieder
über die Haare streichen würden.
Sie würde sich an diese Show gewöhnen müssen, denn
als eine Abteilungsleiterin der Stiftung, eine Frau, für die der
Begriff »stämmig« wie eigens geprägt schien, zu einer Besprechung
hereinkam und Smith gegenübersaß, entfuhr dieser mürrischen
Weltmeisterin der Strenge ein mädchenhaftes Kichern, wie es noch
nie jemand aus ihrem Mund gehört hatte.
Es war sehr schwer gewesen, sie daraufhin nicht
sprachlos anzustarren. Wer hätte gedacht, dass sie auch nur einen
Funken Östrogen in sich hatte?
Aber in Wirklichkeit wurde Grace immer gereizter,
als sie erkannte, dass sämtliche Frauen Smith anhimmelten und
versuchten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Immerhin
schien er es nicht zu bemerken, daher gaben sich die Mädchen so
viel Mühe. Sein Blick ruhte niemals zu lange oder auf unangemessene
Weise auf ihnen, selbst dann nicht, als eine aus der Buchhaltung
ihr Jackett auszog und ihren großen Busen in seine Richtung
schob.
In dem Moment war der Gedanke, autoritär zu
reagieren und diese Möchtegern-Pussy zu feuern, sehr verlockend,
aber Grace konnte sich beherrschen.
Sie weigerte sich auch, über die Konsequenzen ihres
Impulses nachzudenken. Zu wissen, warum sie plötzlich so
besitzergreifend war, würde ihr nichts nützen. Sie ahnte, dass ihr
die Antwort nicht gefallen würde.
Zum Glück war das die letzte Besprechung des Tages
gewesen.