58 Bremen 2011

»Hast du herausgefunden, was aus ihnen allen geworden ist?«, fragte Julia, nachdem sie Isabell von dem Streit mit ihren Eltern erzählt hatte. »Oder schweigt Lina jetzt ebenfalls?«

»Elise und Georg haben geheiratet und lange in Guatemala gelebt. Nachdem Margarete und Robert nach Bremen abgereist waren, haben sie die Geschäfte auf der Finca übernommen und die Arbeitsbedingungen für die Indios verbessert.« Isabell hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Ururgroßmutter ihr Versprechen halten würde. »Gemeinsam mit ihren Eltern haben Georg und Elise sich dafür eingesetzt, dass die Maya-Schätze nicht geraubt und nach Europa und in die USA verschleppt werden.«

»Margarete und Robert reisten nach der Geburt des Kindes nach Bremen und sind nie mehr nach Guatemala zurückgekehrt.« Julia drehte eine Haarsträhne um den Finger. »Margarete hat ihre Großmutter und ihren Vater kurze Zeit später nachgeholt.«

»Weißt du, warum Robert so früh gestorben ist?« Isabell war nicht sicher, ob Julia über ihre Familie reden wollte.

»Offiziell ist er an einer Hirnhautentzündung gestorben. Ob das wahr ist, keine Ahnung.« Julia krauste die Stirn. »Ich konnte es einfach nicht herausfinden.«

»Dafür weiß ich, was aus Nemo wurde.« Isabell grinste. Das war typisch für Elise, dass sie in einem ihrer Reiseberichte über das Maultier geschrieben hatte. »Und – halt dich fest – ich kenne sogar das Schicksal des Fräuleins.«

»Stimmt. Die hatte ich ganz vergessen.« Julia schüttelte den Kopf. »Die Gouvernante ist bestimmt auch nach Bremen zurückgereist, oder? Und Nemo starb alt und in Ehren.«

»Einmal getroffen, einmal daneben. Elise und Georg haben Nemo behalten. Er hat das biblische Alter von siebenunddreißig Jahren erreicht und Elise hat ihn begraben. Was auf großes Erstaunen gestoßen ist.« Isabell lächelte, als sie an die Absätze in Elises Reisebericht dachte, in denen sie über die unverständigen Menschen geschimpft hatte. »Aber die Gouvernante – da kommst du nie drauf.«

»Spann mich nicht auf die Folter.«

»Gut. Fräulein Alice Dieseldorf ist in Guatemala geblieben und hat geheiratet.« Isabell legte eine Kunstpause ein. »Herrn Schultze, den Kaufmann. Sobald er herausgefunden hatte, wie gut die Gouvernante mit Zahlen umgehen konnte, hat er ihr einen Heiratsantrag gemacht.«

»Na ja, dann gab es für einige ja doch ein Happy End. Nur leider nicht für meinen armen Ururgroßvater.« Julia klang bitter. »Und für mich gibt es auch keines. Mein Vater hat mir heute gebeichtet, wie schlecht es finanziell steht. Eine Guatemala-Reise ist nicht drin.«

»Dann suchen wir uns in Guate eben einen Job. Irgendwas findet sich.« Isabell zuckte die Schultern. »Aber erst mal sollten wir überlegen, was wir mit unserem Projekt machen. Wollen wir es überhaupt zu Ende bringen?«

Julia blätterte durch ihr Notizbuch und blieb an einzelnen Seiten hängen. »Ich will auf keinen Fall all das, was wir herausgefunden haben, in der Schule vortragen«, sagte Julia schließlich. »Meine … und deine Familiengeschichte, all die Details, das … das geht niemanden außer uns etwas an.«

»Gut gesagt, Schwester.« Isabell wollte ihre Ururgroßmutter auch nicht öffentlicher sehen, als sie es ohnehin schon war. »Wir schreiben einfach über bekannte Fakten und reichern das Ganze mit ein paar harmlosen Tagebuchauszügen und Briefen an. Konzentrieren uns auf den Kaffeeanbau und die Arbeitsbedingungen und die schwierige Situation der Indígenas.«

»Ja.« Julia holte tief Luft. »Die Zeit wird knapp. Lass uns eine Gliederung entwerfen und die Kapitel aufteilen.«

Isabell nickte. »Ach so, bevor ich es vergesse. Lina will mit uns feiern, wenn das Projekt fertig ist. Sie findet es äußerst spannend, was wir herausgefunden haben.«

»Was hält sie davon, dass du nach dem Abi nach Guatemala fahren willst?« Julia schien froh zu sein, das Thema wechseln zu können. »Oder willst du jetzt nicht mehr?«

»Doch schon, aber …« Für Isabell fühlte es sich gut an, endlich einmal ihre Zweifel auszusprechen. »Erst einmal werde ich ja große Schwester. Mann, eigentlich könnte ich selbst ein Kind bekommen und nicht eine Schwester.«

»Hast du dich mit deinen Eltern versöhnt?«

»Ja, wir haben gestern ziemlich lange geredet.« Isabell machte eine spaßig-verzweifelte Geste. »Meine Mutter hat einen Job an einer englischen Uni. Sie würden sich freuen, wenn ich dahinkomme. Aber ich will mit dir nach Guate.«

»Ehrlich? Ich … ich fände es klasse, wenn wir gemeinsam unterwegs wären.« Julia zwinkerte Isabell zu. »Abgesehen davon, dass ich kein Spanisch kann. Ich brauche dich also.«

»Na ja, du könntest den schnuckeligen Florian fragen. Der würde dich bestimmt gern begleiten.« Isabell malte ein Herzchen in die Luft. »Nein, im Ernst. Ich glaube, er will im nächsten Jahr nach Antigua. Hat er mal angedeutet, oder?«

»Meinst du, dass ich Juans Familie finden kann?« Julias Versuch, das Thema zu wechseln, war so plump, dass Isabell nur den Kopf schütteln konnte. »Vielleicht … vielleicht leben sie ja auch nicht mehr.«

Isabell biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte Julia bewusst nichts von den Gräueltaten berichtet. Den Massenmorden an den Indígenas. Julia konnte recht haben. Möglicherweise hatte niemand aus Juans Familie überlebt. »Pass auf, ich kontakte ein paar Leute und bitte sie, etwas über Juans Familie herauszufinden. Und ich lasse dich auf keinen Fall allein, wenn du nach Guate fahren willst.«

Julia antwortete nicht, sondern nickte nur.

»Du würdest doch schon bei der ersten Schlange umdrehen und schreiend nach Hause laufen«, fügte Isabell hinzu, um nicht weiter daran denken zu müssen, dass Julias Verwandte möglicherweise ermordet worden waren. »Und wärst völlig hilflos, wenn du einen Chickenbus anhalten wolltest.«

»Danke!«, sagte Julia. »Und auch wenn ich keine lebenden Verwandten habe oder sie mich nicht sehen wollen, ich will auf jeden Fall die Finca sehen, auf der Margarete gelebt hat. Und ich will ihren Wasserfall suchen.«

»¡Cómo no! Abgemacht. Wir fahren gemeinsam nach Guate. Hören Marimbas und suchen im Regenwald nach einem Wasserfall. Das wird super.«

»Aber erst mal schreiben wir unseren Projektbericht.« Julia lächelte. »Wer schreibt, der bleibt.«

Im Land der Kaffeeblüten
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