Bremen 2011

Pünktlich um drei Uhr klingelte Julia zwei Tage später bei Isabell. In ihrem Rucksack hatte sie eine Einführung ins wissenschaftliche Arbeiten und ein paar Hintergrundinformationen zu Guatemala – ein Land, das nicht gerade unter die Top Ten von Julias Urlaubszielen fiel. Nicht einmal unter die Top Fifty, wenn sie ehrlich war.

»Hallo«, begrüßte sie Isabell mit dem dicken grau-weißen Kater auf dem Arm. »Komm rein.«

Julia schloss die Haustür hinter sich und streichelte den stattlichen Stubentiger ausgiebig zur Begrüßung. »Möchtest du was trinken?«

»Wasser.« Julia lächelte Isabell an. »Mit Kohlensäure, wenn möglich.«

»Ich kann das stille Zeug auch nicht leiden. Schmeckt wie abgestanden.« Isabell deutete nach oben. »Geh einfach die Treppe hoch und dann geradeaus. Da ist mein Zimmer. Ich komme gleich.«

»Okay.«

Das Häuschen von Isabells Oma wirkte geradezu winzig im Vergleich zu der Patriziervilla von Julias Familie. Klein, aber gemütlich. An den Wänden die Treppe entlang hing rechts eine Sammlung von Katzenfotos. Wahrscheinlich alle ehemaligen und aktuellen Haustiere. Ihnen gegenüber hingen drei Kunstkalender: Franz Marc, Alphonse Mucha und Edward Hopper. Julia blieb vor der Hopper-Reproduktion stehen. Sie mochte den amerikanischen Maler, aber das Bild kannte sie noch nicht. New York Office.

»Ziemlich kühl. All das Blau und Weiß.« Isabell kam die Treppe hoch und balancierte ein Tablett. Zwei Becher Kaffee, dazu Milch, Zucker, Süßstoff sowie zwei Gläser und eine Flasche Wasser. »Die Frau erinnert mich an Grace Kelly. Irgendwie vornehm und einsam.«

»Es gibt keinen Eingang … und auch keinen Ausgang«, sprach Julia aus, was ihr als Erstes in den Sinn gekommen war.

»Das denkt sie bestimmt auch, so den ganzen Tag eingesperrt im Büro«, antwortete Isabell und drängte sich an Julia vorbei. »Wenn du was essen möchtest, kann ich gern noch was organisieren.«

»Danke, schon okay.« Julia riss sich von dem Bild los und folgte Isabell in ihr Zimmer. Nicht einmal halb so groß wie ihres, aber vollgestopft mit Bildern, CDs, Büchern und Erinnerungsstücken.

»Setz dich doch.« Isabell zerrte eine Hose und einen Pulli von einem gemütlich aussehenden Sofa und öffnete die Schranktür. Achtlos warf sie die Kleidung hinein. »Oder willst du lieber den Sitzsack?«

»Das passt schon. Und, wie läuft’s bei dir?«

»Bin etwas genervt.« Isabell stieß lauthals die Luft aus. »Diese schräge Zoe hat sich in Politik mit mir angelegt. Richtig heftig. Keine Ahnung, was ich der getan habe. Komische Streberin.«

»Ich glaube, die kann niemanden leiden.« Julia zuckte mit den Schultern. »Einfach ignorieren.«

»Sagt sich so leicht.« Isabell schüttelte sich, als ob sie die Erinnerung an einen unangenehmen Streit abschütteln wollte. »Egal. Wie fangen wir an?«

»Ich habe mich ein bisschen schlau gemacht.« Julia griff in den Rucksack, suchte ihr iPad und öffnete es. Sie rief die Dateien auf, die sie gestern Abend erstellt hatte. »Guatemala ist ein kleines Land mit großen Problemen. Davon hast du bisher nichts gesagt.«

»Wir sollen uns ja auch nicht mit dem Guate von heute beschäftigen«, schnappte Isabell, als ob Julia ihr auf die Füße getreten wäre, »sondern mit der Geschichte. Und Leute wie deine Familie haben gewaltig zu den Schwierigkeiten des Landes beigetragen.«

»Was soll das denn heißen? Meine Familie lebt in Bremen und wir verkaufen fair gehandelten Kaffee.«

»Ach so. Gutmenschen seid ihr. Und deine Vorfahrin, die Firmengründerin, die war wohl auch schon eine Menschenfreundin. Die hatte bestimmt was dagegen, dass den Maya von der Regierung das Land weggerissen wurde, um es den deutschen Einwanderern für den Kaffeeanbau zu geben.« Isabell konnte sich ihren Zynismus nicht verkneifen. »Und zum Dank durften die indígenas auf den Fincas wie Sklaven schuften.«

»Wenn du so drauf bist, können wir uns das Projekt schenken.« Julia bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Am besten erstellen wir eine Gliederung, teilen die Sachen auf und treffen uns noch ein- oder zweimal, um die Ergebnisse zusammenzupacken.«

»Sorry. Ich hätte mich nicht so aufregen sollen.« Isabell stand auf und ging durch ihr Zimmer. »Manchmal … also … alle Leute starten immer einen Angriff auf Guatemala, und da fühle ich mich verantwortlich.«

»Ich wollte dich nicht angreifen und das Land auch nicht«, lenkte Julia ein. »Vielleicht habe ich ein bisschen übertrieben mit meiner Kritik.«

»Ich will die Probleme des Landes nicht kleinreden. Der Bürgerkrieg ist zwar beendet, aber immer noch werden die Maya benachteiligt. Armut und fehlende Bildung sind die schlimmsten Probleme.« Isabell strich sich durch die Haare. »Oh Mann, jetzt höre ich mich an wie eine Politiklehrerin.«

Julia sagte gar nichts, sondern grinste nur. Schließlich streckte sie die Hand aus: »Frieden?«

»Frieden.« Isabell schlug ein.

»Also, wie würdest du die Situation in Guatemala erklären. Wie sind die Indios?«

»Den Begriff ›Indio‹ betrachten die Maya-Nachkömmlinge als Schimpfwort. Chapínes nennen sich die Guatemalteken selbst«, dozierte Isabell, was Julia die Augen verdrehten ließ. »Das umfasst alle, sowohl Ladinos als auch Indígenas.«

»Ladinos?« Vorher hatte sich Julia nie mit dem Land beschäftigt, aus dem der Reichtum ihrer Familie stammte. »Sind das die Maya?«

»Die Nachkommen der Spanier und Maya, also Mischlinge.« Isabell musterte Julia kritisch. »Sitzen in allen wichtigen Positionen und haben sozusagen die Herrschaft über Guatemala unter sich aufgeteilt. Auf Kosten der Indígenas, der Nachfahren der Maya.«

Julia schluckte. Sie wollte nicht glauben, dass Margarete arme Menschen ausgebeutet hatte und dass ihre Firma auf Enteignung und Unglück aufgebaut war.

»Müssen wir das alles für unsere Arbeit wissen?«, versuchte Julia Isabell auszubremsen. Sie war gern bereit, Zeit und Energie in das Projekt zu investieren, aber alles hatte seine Grenzen. »Wir sollen doch nur über das beginnende 20. Jahrhundert schreiben.«

»Interessiert dich das Land denn gar nicht?« Isabell wirkte enttäuscht.

»Doch schon, aber nach der ersten Recherche hatte ich den Eindruck, dass so unheimlich viel dort geschehen ist.« Julia bemühte sich, eine freundliche Ablehnung zu formulieren. Sie hatte weder Zeit noch Energie, in die Tiefen der guatemaltekischen Geschichte und Politik vorzudringen. »Ich fand es schwer, mir ein Bild zu machen.«

»Warte mal.« Isabell legte eine CD ein. »Hier, etwas aus Guatemala.«

Seltsame Klänge erfüllten das Zimmer. Ethno oder Weltmusik oder so etwas. Isabell trommelte mit den Händen in der Luft, als ob sie Schlagzeug spielte. Nein, nicht Schlagzeug, etwas anderes. Das Wort lag Julia auf der Zunge, aber es fiel ihr nicht ein.

»Was ist das?«, fragte sie nach ein paar Minuten. »Erinnert mich an den Song, den die Black Eyed Peas gemacht haben. Más que nada oder so.«

»Das ist DIE guatemaltekische Musik. Marimba. Kommt ursprünglich von den Westindischen Inseln.« Isabell suchte auf ihrem Notebook ein Bild und zeigte es Julia.

»Was ist das? So eine Art Xylophon?«

»Nicht ganz. Unter dem Xylophon-Ding hängen ausgehöhlte Kalebassen als Klangkörper, die den besonderen Sound geben. Man spielt es mit Kautschukklöppeln. Und übrigens nur Männer.«

»Warum?«

»Keine Ahnung. Aber eine Frau an der Marimba hat es noch nie gegeben. Wird vielleicht mal Zeit.«

»So weit muss die Emanzipation ja nicht gehen, oder?« Hoffentlich verstand Isabell den Witz. »Oder möchtest du die erste Marimba-Spielerin der Welt werden?«

»Mir gibt es ein Gefühl von zu Hause. Wenn ich die Augen schließe, fühle ich mich beinahe wie in Guatemala.« Isabell bewegte sich zu den rhythmischen Klängen. »Also, wie gehen wir das Ganze an?«

Im Land der Kaffeeblüten
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