36

Seit gestern wirkte es so, als hätten es Guatemalas Regenwälder auf Elise abgesehen. Die Affen schienen sie mit ihrem Gebrüll und die Vögel mit ihrem vielstimmigen Gesang zu verspotten. Alle bissigen Insekten hatten sich während der Nacht an ihrem Blut gelabt, und als ob das allein nicht reichte, hatte ihr gerade ein Ara auf den Kopf gesch… Sie wagte es nicht einmal, das Wort zu denken. »Das bringt Glück«, sagte ihre Mutter lachend. »Warte, ich putze es dir weg.«

»Geht schon!« Mit brennend heißen Wangen und Tränen der Wut in den Augen stapfte Elise davon. Zu allem Übel stolperte sich auch noch über eine Wurzel und fiel der Länge nach hin. Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so erniedrigt gefühlt. Unter dem Gelächter ihrer Eltern und der Träger rappelte sie sich auf und zerriss dabei auch noch ihr Reitkleid. »Ich hasse alles hier!«

»Ach, Lise, komm, das hätte jedem von uns passieren können«, hörte sie die fröhliche Stimme ihrer Mutter hinter sich. »Nimm’s doch nicht so ernst.«

»Nein, verdammt noch mal!«, fluchte Elise. Es hätte niemand anderem passieren können als ihr. Und nein, sie wollte auch nicht darüber lachen. Hätten ihre Eltern sie doch nur in Bremen glücklich leben lassen!

Oder wäre sie mit Margarete auf deren Finca gereist. Margarete, die bestimmt in einem wunderbar weichen Bett schlief, ohne Moskitos und ohne Angst vor Taranteln. Margarete, die sicherlich wunderbare Mahlzeiten von einer Heerschar von Dienern gereicht bekam. Essen, das nicht zu andauernden Magenbeschwerden führte und dazu, dass man alle halbe Stunde in den Tiefen des Dschungels verschwinden musste und gequält von Bauchschmerzen den peinlichsten Situationen ausgesetzt war.

Auf keinen Fall.« Elise verschränkte die Arme vor der Brust und stampfte mit dem Fuß auf, was ihr ein Kopfschütteln von Georg einbrachte. »Ich werde auf gar keinen Fall einen Fuß in dieses … dieses Ding setzen.«

Voller Empörung deutete sie auf das winzige Boot, das aussah, als ob es auf die Schnelle aus einem Baum geschnitzt worden wäre.

»Elise. Stell dich nicht an.« Man konnte Henni Hohermuth deutlich anhören, was sie von den Worten ihrer Tochter hielt.

»Mutter. Schau dir das Bötchen doch mal an. Es wird uns niemals sicher ans Ziel bringen.« Elise bemühte sich, ihre Stimme nicht allzu sehr zittern zu lassen, obwohl sie vor Angst am liebsten davongelaufen wäre. »In dem Fluss sind bestimmt Krokodile.«

»Kind, du hast zu viele Romane gelesen.« Jetzt klang Henni Hohermuth vollkommen ungehalten. Sie bedeutete dem einheimischen Führer, auf sie zu warten, und kam auf Elise zu. »Wir sind nicht die ersten Forscher, die nach Cancuen fahren. Es ist vollkommen ungefährlich.«

Warum nur musste ihre Mutter stets so vernünftig und so wenig mitfühlend sein? Wie kam es nur, dass Großmama und Großpapa so eine kaltherzige Tochter hatten? Aber Fragen brachten sie nicht weiter. Sie musste nach Argumenten suchen, mit denen sie ihre Eltern davon abhalten konnte, das unsichere Boot zu besteigen. Falls sie überhaupt noch eine Chance hatte. Schließlich waren ihr Vater und die Träger bereits dabei, einen Teil ihres Gepäcks auf dem ersten Boot zu verstauen.

»Mutter, warum der ganze Aufwand?« So verbohrt konnte doch kein Mensch sein. »Du hast selbst gesagt, dass es in Cancuen nichts Nennenswertes zu entdecken gibt. Warum fahren wir nicht einfach nach Hause?«

»Oh, da hast du ja genau zugehört«, antwortete Henni Hohermuth spöttisch. »Ich glaube aber, dass Cancuen noch am ehesten Überraschungen zu bieten hat. Weil es versteckt liegt und nur mit dem Boot zu erreichen ist.«

Elise seufzte. Immer wenn es um die große Entdeckung ging, war mit Henni Hohermuth nicht zu reden.

»Du kannst dich in die Mitte setzen. Da ist es wirklich am sichersten.«

Mit diesen Worten war für ihre Mutter die Debatte beendet und Elise blieb nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Oh, wie sehr sehnte sie den Tag herbei, an dem sie volljährig sein würde und eigene Entscheidungen treffen konnte. Die fünf Jahre bis dahin erschienen ihr unendlich lang.

»Was wird aus Nemo?«, beharrte sie eigensinnig. Sie strich dem Maultier über die weiche Schnauze. »Ich bin nicht bereit, ihn wieder Leuten zu überlassen, die ihm nicht einmal einen Namen geben. Er hat etwas Besseres verdient.«

»Wir kehren gemeinsam wieder zurück und reiten von hier aus weiter.« Auf dem Gesicht ihrer Mutter konnte Elise deutlichen Unmut erkennen, aber sie war nicht bereit nachzugeben. Nemo war der Einzige, der sie verstand. Sie würde ihn nicht einem ungewissen Schicksal überlassen. »Damit du Ruhe gibst, werde ich ihn kaufen. Einverstanden?«

Elise nickte. Vorsichtig setzte sie einen Fuß auf das Boot. Es schwankte beträchtlich. Ein Schauder lief ihr über den Rücken. Jemand geht über dein Grab, hatte Großmama das genannt und von Vorahnungen gesprochen.

Im Land der Kaffeeblüten
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