52

»Wir hätten die Pferde nicht vor der Stadt einstellen sollen.« Margarete kaute auf ihrer Unterlippe. Aber sie hatten nur an ihre schwindenden Geldvorräte gedacht. Jetzt erschien ihr der Weg zurück zum Gasthaus ewig lang. Wie sollten sie nur gegen den Menschenstrom ankämpfen, der sie mit sich riss?

Ein Stoß in den Rücken ließ sie stolpern und auf die Knie fallen. Ein weiterer Stoß drohte sie zu Boden zu werfen, hilflos der heraneilenden Menge ausgeliefert. Da sprang Juan vor sie und lenkte die Flüchtenden mit ausgebreiteten Armen um Margarete herum.

»Pass doch auf!«, schrie Juan den Jungen an, der Margarete umgerannt hatte und nicht einmal stehen blieb, sondern panisch weiterrannte. Juan reichte Margarete die Hand und zog sie hoch. »Komm, lass uns zu dem Haus dort gehen.«

Er wirkte sehr besorgt. Vorsichtig bahnte er ihnen einen Weg durch die Menschenmenge, bis sie den Unterstand erreichten und sich an die Hauswand lehnen konnten.

»Alles in Ordnung. Mir ist nichts geschehen.« Unbewusst legte Margarete die Hand auf den Bauch. »Ich habe mich nur erschreckt. Ich ahnte nicht, dass es so schlimm ist.«

Sie deutete auf die Menschen um sie herum, die aus der Stadt flohen und die engen Gassen verstopften. Schreie ertönten, Männer und Frauen warfen sich Beschimpfungen an den Kopf und wer nicht schnell genug ging, wurde von den Nachfolgenden zu Boden geworfen. Darüber dröhnte eine Kakophonie panischer Tierlaute. Je dunkler es wurde, desto lauter erschienen Margarete die Geräusche.

Da übertönte plötzlich ein einzelner Schrei alles andere. »Der Santa María! Herr im Himmel, hilf!«

Schlagartig blieben die Flüchtenden stehen und drehten die Köpfe. Ein dumpfes Grollen ertönte. Die dunkle Wolke, die wie ein böses Omen über dem Vulkan schwebte, wurde von Blitzen durchzuckt. Gelbe und grüne Lichter jagten über den Himmel wie bei einem Feuerwerk. Asche und Steinbrocken wurden in die Luft geschleudert. Die Fliehenden duckten sich ängstlich.

Ein weiteres Beben erschütterte Xela. Die Menschen schrien auf. Ein nächstes Beben folgte und die Häuser verloren den Kampf. Vor Margaretes erschrockenen Augen brach ein massives Steinhaus zusammen, als ob es aus dünnem Holz gebaut worden war. Eilig zerrte Juan sie weiter, weg von den einstürzenden Gebäuden. Die Flüchtenden drohten übereinanderzufallen, nur durch Juan, der sich schützend vor Margarete stellte und bereit war, sie mit seinem Leben zu verteidigen, gelang es ihr, auf den Beinen zu bleiben. Mühsam taumelte sie voran, von der Menschenmenge mitgerissen wie von einer gewaltigen Flutwelle.

Endlich, nach einer Zeit, die ihnen wie eine Ewigkeit vorkam, erreichten sie den Stall. Schon von Weitem hörte sie die Pferde wiehern und das Maultier gab Laute von sich, als ob es sich in einen verzweifelten Kampf befände. Die Stallburschen waren geflohen und hatten die Tiere sich selbst überlassen. Die Pferde stiegen hoch und bei dem Versuch, auszubrechen, hatten sie sich bereits einige blutige Stellen geholt.

»Lass uns die Tiere befreien«, rief Margarete Juan zu und bedeckte dann die Ohren mit den Händen, um nicht von dem Lärm und der Panik mitgerissen zu werden. Endlich hatte sie die erste Box erreicht und schob den Riegel zur Seite. Ein riesiger Brauner stürmte sofort los. Nur mit einem schnellen Sprung gelang es Margarete, dem Tier auszuweichen.

»Lass mich das machen.« Juan tippte ihr auf die Schulter und sah sie voller Liebe an, was ihr Herz mit Wärme erfüllte. »Versuch du, unsere Pferde zu beruhigen. Wir brauchen einen Wagen. Für Elise.«

Margarete nickte als Zeichen, dass sie ihn verstanden hatte, und schaute sich um. Dort hinten in der Remise stand ein Holzwagen. Leere Kaffeesäcke waren darauf gestapelt. Vorsichtig näherte sie sich den Tieren und sprach beruhigend auf sie ein.

»Mein Pferd. Wo ist mein Pferd?«, erklang plötzlich eine zittrige Stimme neben Margarete. Sie drehte sich um und entdeckte einen alten Indio in der typisch indianischen Tracht. Suchend schaute er sich um. Ein Lächeln erhellte sein faltiges Gesicht, als er eine klapperige braune Stute entdeckte. »Helfen Sie mir. Bitte!«

Gemeinsam mit dem Alten legten sie der Stute einen Zaum an. Suchend sah sich Margarete um.

»Danke, Mädchen, es geht ohne Sattel.« Der Indio strich dem Pferd über die Nüstern und führte es aus der Box. »Ich warte auf dich und deinen Freund.«

Juan trat an Margaretes Seite. »Wir müssen zurück in die Stadt. Unseren Freunden helfen«, antwortete er.

»Ihr könnt nicht zurück.« Beschwörend griff der alte Mann nach Margaretes Arm. Seine Augen wirkten riesig in dem von Asche geschwärzten Gesicht. »Das wäre Selbstmord. Seht zu, dass ihr sofort verschwindet.«

Er schwang sich in einer fließenden Bewegung auf den Rücken seines Pferdes. Schneller und stärker, als Margarete es von einem Greis erwartet hätte. Sie wechselte einen Blick mit Juan. Die Miene ihres Geliebten wirkte wie in Stein gemeißelt. Er sah von Margarete zu dem Alten und wieder zu ihr. So, als ob er mit einer Entscheidung ringen würde.

»Schaut nur, diese Menschenmenge.« Der alte Mann wandte sich noch einmal um. »Es ist, als ob ihr das Meer teilen wolltet. Flieht! Rettet euch!«

»Wir müssen zurück«, verabschiedete sich Juan und nahm Margarete bei der Hand. »Komm, uns bleibt nicht viel Zeit.«

Angst fraß sich in Margaretes Herz. Vielleicht war der Alte ein Brujo gewesen und hatte sie warnen wollen? In diesem Augenblick bebte die Erde ein weiteres Mal. Der alte Mann hatte recht gehabt.

»Nein, Juan, bitte nicht.« Margarete klammerte sich an den Arm ihres Gebliebten und versuchte, ihn aufzuhalten. Mit aller Kraft zog sie ihn von den Pferden weg und zeigte zum Stall hinaus. Die Luft flirrte vor Hitze und Asche regnete herab und bedeckte Menschen, Tiere, Straßen und Häuser mit einem feinen Staub. »Lass uns fliehen.«

»Nimm du dir deine Stute und reite vor die Stadt, bis du in Sicherheit bist.« Juan zog sie an sich und küsste sie zärtlich. Margarete gelang es für einen Augenblick, alles um sich herum zu vergessen.

»Bitte, Juan, lass mich nicht allein«, flehte sie. Der Gedanke, ohne ihn aus der Stadt zu reiten und auf seine Rückkehr warten zu müssen, brach ihr das Herz. »Komm mit mir. Ich bitte dich.«

Sanft löste er ihre Finger von seinem Arm und drückte sie noch einmal an sich. Eine Umarmung, die den Abschied in sich barg. Ihr Herz schlug schneller.

»Bitte.« Er lächelte sie an. Die Asche in seinem Gesicht bekam winzige Risse. »Ich kann Elise und Georg nicht zurücklassen.«

»Dann komme ich mit dir!« Margaretes Stimme duldete keinen Widerspruch, obwohl die Angst sie zu überwältigen drohte. Rauchwolken hingen über der Stadt und schienen das Ende der Welt zu verkünden. Alle um sie herum wollten nur eines: fliehen. Fliehen aus der todgeweihten Stadt. Nur Juan wollte zurück, um Elise und Georg zu retten. Zwei Menschen, die er nur kurze Zeit kannte und für die er trotzdem bereit war, sein Leben zu riskieren. Margarete schwankte, ob sie ihn für seinen Mut bewundern oder ob sie ihn dafür hassen sollte. Nach einem Augenblick des Zögerns sprach sie mit klarer Stimme. »Ich gehe mit dir oder du gehst nicht.«

»Gut.« Juan nickte. Erschöpfung zeichnete sich auf seinem Gesicht ab. Schwarze Streifen, die sich aus Asche und Schweiß bildeten, zogen Furchen in seine Haut. Er versuchte ein ermutigendes Lächeln. »Dann komm.«

Er zog das widerstrebende Maultier am Zaumzeug hinter sich her. Margarete versuchte, beruhigend auf den Mula einzureden, doch Nemo schnappte nach Juan. Nur mit Mühe gelang es den beiden, das Tier in die Wagendeichsel einzuspannen. Es bockte, bis Margarete ihm ein Tuch über die Augen band. Da blieb es zitternd stehen und ergab sich seinem Schicksal.

Juan sattelte ihre drei Pferde und half Margarete beim Aufsitzen. Seinen Rappen und Georgs Fuchs band er hinten an den Wagen.

»Schaffen wir den Weg durch die Menge?«, flüsterte Margarete und konnte kaum sprechen, so trocken fühlte sich ihre Kehle an. Sie spürte, wie die Angst, hier und heute zu sterben, sie erfasste. »Schnell, lass uns gehen, bevor ich es mir anders überlege und dich doch noch zur Flucht überrede.«

Im Land der Kaffeeblüten
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