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Täuschte sich Julia oder hatte Isabell wirklich gerötete Augen vom Weinen?

»Komm rein. Willst du einen Tee oder was anderes?«, fragte sie über die Schulter, während sie vor Julia her in die Küche ging.

»Tee wäre schön.« Julia grinste schief. »Kaffee hatte ich heute schon mehr, als ich wollte.«

In der Küche saß Lina und rauchte. Julia fielen beinahe die Augen aus dem Kopf. Lina und eine Zigarette? Das hätte sie niemals gedacht.

»Schau nicht so entsetzt. Ich rauche selten.« Lina wedelte mit ihrer Zigarette und deutete auf einen Stuhl. »Setz dich doch. Ich gönne mir ab und an eine Kippe, wenn es etwas zu feiern gibt. Oder wenn ich völlig von der Rolle bin. Was in diesem Fall zusammentrifft.«

Julia verstand kein Wort und schaute Isabell Hilfe suchend an. Die stand mit dem Wasserkocher in der Hand da, wirkte wie ein Häufchen Elend und schwieg.

»Entschuldigung«, sagte Julia in die Stille hinein und beobachtete, wie Lina den Rauch tief einatmete und heftig wieder ausstieß. »Könnte mich bitte mal jemand aufklären?«

»Meine Mutter ist schwanger.« Isabell klapperte demonstrativ mit den Teebechern, als ob sie sich gegen weitere Fragen verwehren wollte. »Hat sie mir vorhin via Skype gesagt.«

»Ach du Schande!«, platzte Julia heraus. »Entschuldige.

Vielleicht sollte ich eher herzlichen Glückwunsch sagen, oder?«

»Na ja, es gibt Dinge, über die ich glücklicher wäre.«

Isabell schien immer noch gegen Tränen anzukämpfen. Julia legte ihr vorsichtig eine Hand auf den Unterarm.

»Sie hätten es mir ruhig schon in Guate sagen können. Ich … ich fühle mich so … so …«

»Sag’s ruhig.« Lina drückte die Zigarette auf einer Untertasse aus. »Wir fühlen uns verarscht. Katja und Matthias haben nicht einmal eine Andeutung fallen lassen, als sie fragten, ob Isabell hier wohnen kann.«

»Oh Mann!« Julia nahm Isabell den Wasserkocher aus der Hand. Isabell sah nicht so aus, als ob sie es heute noch fertigbrächte, Tee zu kochen. »Eltern können echt die Pest sein.«

»Ach genau. Du kennst das ja.« Isabell gestattete sich ein kleines Lächeln. »Echt blöd. Ich bin so sauer und habe gleichzeitig ein schlechtes Gewissen, weil ich mich nicht freue.«

»So, Mädels. Genug gejammert.« Lina sprang auf. »Ich füttere die Katzen, dann gehe ich einkaufen und heute Abend koche ich etwas Schönes für uns.«

»Gute Idee«, antwortete Julia, die sich in Isabells und Linas Gegenwart immer wohler fühlte.

»Meinetwegen kannst du auch gern hier übernachten«, schlug Lina vor.

»Danke, besser nicht. Aber vielleicht komme ich ein andermal darauf zurück.«

»Auch in Ordnung.« Lina zwinkerte ihr zu. »Ich gehe jetzt jedenfalls erst mal an die frische Luft.«

Wollen wir in mein Zimmer?« Julia nickte und griff sich die Teebecher. In der Küche roch es nach abgestandenem Rauch und es wirkte so, als ob Isabell sich lieber in ihre Höhle zurückziehen wollte.

»Hattest du einen besseren Tag?«, fragte Isabell, was Julia als Aufforderung verstand, nicht mehr über den unvermuteten Familienzuwachs zu sprechen. »Gibt’s was Neues?«

»Nein. Aber ich weiß nicht, ob das gut oder schlecht ist.« Julia holte tief Luft. Am liebsten würde sie Isabell von ihrem schrecklichen Nachmittag erzählen. Aber konnte sie sie jetzt wirklich mit ihrem Nerv belästigen? Doch Isabell hatte sie gefragt. »Ich habe mich heute mit Bea und Hannah getroffen … Und das war echt übel.«

»Deine Freundinnen aus dem Internat?« Isabell neigte den Kopf und schien sich wirklich dafür zu interessieren. »Was war denn?«

Julia warf die Haare nach hinten und erzählte vom dem verpfuschten Nachmittag in allen traurigen Details.

»A la gran púchica! Das war ja richtig bescheiden«, fluchte Isabell und runzelte mitfühlend die Stirn. »Mach dir nix draus. Manchmal läuft’s eben blöd.«

»Wie bitte?« Julia runzelte die Stirn. »Was ist eine große Puchika?«

»Nix Puchika«, antwortete Isabell. »›Menschenskind‹ oder ›verflixt und zugenäht‹ würde man im Deutschen wohl sagen.«

»Auf Spanisch klingt es eindeutig besser.« Julia grinste. »Passt auf meinen Nachmittag. A la gran púchica!«

»Was willst du jetzt machen?« Isabell trank einen Schluck Tee und zögerte einen Moment. »Willst du sie abschreiben oder ihnen noch eine Chance geben?«

»Ich weiß es nicht.« Julia hob fragend die Hände. Nach ihrem spontanen Aufbruch hatte sie nicht weiter über die Konsequenzen nachgedacht. »Im Moment können sie mir gestohlen bleiben. Aber … wir waren lange befreundet.«

»Ist schwer, Freundschaften aufrechtzuerhalten, wenn man sich nicht jeden Tag sieht.« Es kam Julia so vor, als ob Isabell eher mit sich sprach als zu ihr. »Trotz Internet und Facebook und Skype und allem.«

»Wie ist das denn mit dir und deinen Leuten in Guatemala?«, fragte Julia und kämpfte mit ihrem schlechten Gewissen, weil sie sich noch nie Gedanken darüber gemacht hatte, dass Isabell in Guatemala nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Freundinnen, vielleicht sogar einen Freund zurückgelassen hatte. »Habt ihr noch viel Kontakt?«

»Ich vermisse meine Freundinnen, aber …« Isabell zögerte und Julia schaute auf. »… irgendwie ist es anders. Selbst mit Skype bekomme ich nur noch ein Viertel von dem mit, was passiert. Ich fühle mich nirgendwo richtig zu Hause, bin nicht mehr ganz in Guate, bin aber auch hier noch nicht richtig angekommen.«

»Irgendwie hängt man echt in der Luft.« Julia nickte. »Aber du weißt ja immerhin, dass du nach dem Abi zurückgehen wirst.«

»Manchmal habe ich Angst, dass ich nach Guate fliege und nichts mehr von dem da ist, was mir wichtig war«, platzte es aus Isabell heraus. »Und dann sitze ich da und weiß überhaupt nicht mehr, wohin. Meine Eltern werden mit einem neuen Kind beschäftigt sein. Lina hat ein eigenes Leben und ich …?«

»Ich habe manchmal Angst, dass ich zur Uni gehe, in vier Jahren meinen Master mache und mich dann frage, ob es das wirklich war.« Julia leckte sich über die trockenen Lippen. Nicht einmal Hannah und Bea gegenüber hatte sie das bisher zugegeben. »Wollen meine Eltern, dass ich die Firma übernehme, oder will ich das? Ich habe mir oft gewünscht, ich hätte einen Bruder oder eine Schwester, die den Job übernehmen könnten.«

Isabell schaute sie ungläubig an. »Und ich dachte, du hättest überhaupt keine Zweifel.«

»Das hatte ich von dir auch gedacht.« Julia schwieg einen Moment. Wenn Hannah und Bea sie so sehen würden, wie sie mit Isabell ein Problemgespräch führte, wie Bea das abwertend nannte, dann wäre Julias Ruf für immer ruiniert. »Du bist doch Miss-ich-geh-zurück-nach-Guatemala-und-mein-Leben-ist-klar.«

»Das sagt Prinzessin-ich-werde-mal-Papas-Firma-übernehmen«, lautete Isabells trockene Antwort.

Einen Moment schwiegen sie beide. Dann brachen sie in lautes Lachen aus.

Im Land der Kaffeeblüten
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