Bremen 2011

»Möchtest du auch einen Tee?« Linas Stimme holte Isabell in die Realität zurück. Sie saß in ihrem Zimmer auf dem bunt gemusterten Sitzsack und grübelte. »Außerdem gibt es bald Essen.«

Es war der übliche Tag an einer neuen Schule gewesen. Alle kannten sich, nur sie kannte niemanden und jeder wusste, dass sie die Neue war. Die Neue aus einem exotischen Land. Die Neue, die allein während der Pause auf dem Pausenhof herumstand und von einigen beäugt wurde. Isabell hatte überlegt, sich irgendwo dazuzustellen, aber irgendwie machten die Grüppchen den Eindruck, dass sie exklusiv waren und nicht besonders scharf darauf, jemand Neuen aufzunehmen. Mal sehen, wie lange es dauern würde, bis sie eine Clique fand. Der Einzige, der auf sie zugekommen war, schien der übliche Schulmacho zu sein, der sein Glück bei jedem Mädchen versuchte. Isabell hatte dankend abgelehnt und war freiwillig zurück in die Cafeteria gegangen, obwohl ausnahmsweise die Sonne schien.

»Das ist Isabell. Sie ist aus Guatemala.« Die Lehrerin hatte gelächelt.

»Die sieht ja gar nicht aus wie’n Indio«, hatte jemand laut geflüstert. Der Großteil des Kurses hatte gekichert und Isabell hatte höflich mitgelacht.

»Ich hoffe, ihr zeigt euch von eurer gastfreundlichen Seite. Isabell kann uns bestimmt viel über das Leben in Südamerika erzählen.«

»Mittelamerika«, hatte Isabell korrigiert, ohne groß zu überlegen. Sie hatte bisher die Erfahrung gemacht, dass kaum jemand wusste, wo Guatemala lag. Am eisigen Schweigen, das ihren Worten folgte, erkannte sie, dass die Lehrerin über die Korrektur nicht gerade erfreut war.

»Entschuldigung. Das … das passiert ganz automatisch.« Doch das half jetzt auch nichts mehr.

»Dort neben Julia ist noch Platz«, sagte die Lehrerin kühl und deutete auf ein Mädchen, das locker bei Germany’s Next Topmodel hätte mitmachen können. Groß, sportlich, mittellanges blondes Haar, Strähnchen, wie sie nur ein teurer Friseur hinbekam. Auffallende Fingernägel mit nachtblauem Nagellack lackiert.

Isabell machte sich mit gesenktem Kopf auf den Weg. Schüler sind wie Jaguare. Wenn du ihnen nicht in die Augen schaust und sie reizt, bleiben sie friedlich, sagte sie sich.

»Oh, Miss Mittelamerika«, zischte es hinter ihr. So gehässig und unfreundlich, dass Isabell sich trotz besseren Wissens umdrehte. Sie musterte ihre Angreiferin aus dem Augenwinkel. Ein hageres Mädchen, in Schwarz gekleidet, mit schlecht gefärbten, aschgrauen Haaren. Die freute sich bestimmt, dass jetzt jemand Neues ans Ende der Nahrungskette geriet. Kurz überlegte sie, ob es sich lohnte, gleich am ersten Tag einen Streit anzufangen, dann entschied sie sich dagegen. Nur nicht auffallen.

»Isabell, wo bleibst du«, rief Lina, die ihrer Enkelin verboten hatte, sie weiterhin Omaha zu nennen. »Omaha ist was für Kinder. Nenn mich Lina, dann kommen wir gut miteinander aus.«

Auch sonst hatte Lina wenig mit den Großmüttern gemeinsam, die Isabell aus Guatemala kannte. Lina trug Jeans und selbst gestrickte, übergroße Pullover, färbte ihre Haare mit Henna zu einem leuchtenden Orange und war ständig unterwegs. Tierschutzverein, Malgruppe, Chor, Stadtteilfest – alle Termine hatte sie in einen großem Kalender eingetragen, der am Kühlschrank hing, und Isabell aufgefordert, ihre dazuzuschreiben. Als ob Isabell Verabredungen oder Ähnliches hätte.

»Seid ihr jungen Leute nicht alle per Facebook oder studiVZ, oder wie sich das nennt, miteinander vernetzt?« Lina hatte Isabell zweifelnd angesehen, als diese ratlos vor dem Kalender stand.

»Isabell! Essen!«, erklang es wieder von unten. Dieses Mal ließ der Ton in Linas Stimme erkennen, dass sie nicht noch einmal rufen würde.

Isabell hievte sich aus dem Sitzsack und ging hinunter in die Küche. Lina wohnte in einem Altbremer Haus in Peterswerder, einem Viertel, in dem es viele schmale Häuser mit Hochparterre gab. Am besten gefiel Isabell, dass die Gärten nach hinten hinausgingen und sich berührten, sodass man den Eindruck von viel Grün bekam. Ein Grün, das sie an Guatemala erinnerte. Ebenso wie die Orchidee, die sie Lina mitgebracht hatte und die ihr der Zoll beinahe weggenommen hätte.

»Was gibt es denn Gutes? Soll ich den Tisch decken?«, fragte sie. Ein dunkler Holztisch mit Kratzspuren an den Beinen stand mitten im Raum und wurde von vier bunt zusammengewürfelten Stühlen eingerahmt. Nur der taubenblaue Geschirrschrank war von Krallen verschont geblieben. »Wie hältst du die Katzen eigentlich von dem Schrank ab?«

»Mit drohenden Blicken. Und ja, deck den Tisch, bitte. Es gibt Pizza. Ich hatte keine Zeit, um was Richtiges zu kochen«, antwortete Lina knapp und öffnete den Backofen. Ein Edelstahlmonstrum, das seltsam modern in der gemütlichen Küche wirkte.

Isabell suchte nach Geschirr und fand sogar Servietten, die dem Essen einen feierlicheren Anstrich gaben. Sorgfältig dekorierte sie alles auf der Tischplatte, nachdem sie diese gründlich abgewischt und von Katzenhaaren befreit hatte.

»Im Kühlschrank ist noch Salat.« Lina stellte die Pizzen auf den Tisch. »Holst du ihn bitte?«

Einmal die Vier-Käse-Pizza, einmal die mit Champignons. Fleisch gab es im Haus ihrer Großmutter nur für die Katzen, wie Isabell nach ihrer Ankunft vor zwei Tagen erfahren hatte. Lina war Vegetarierin, nicht missionierend, wie sie sagte, aber bei ihr gäbe es eben weder Fisch noch Fleisch. Außer man hatte Fell und vier Beine.

»Wie war der erste Tag?«, fragte ihre Großmutter und rollte gleichzeitig mit einem Pizzaschneider über die Pizzen. »Hast du schon ein paar nette Leute kennengelernt?«

»Hm!«, antwortete Isabell und schaufelte sich zwei Stücke Pizza und Salat auf ihren Teller. Mit der Antwort hatten sich ihre Eltern immer zufriedengegeben. Sicherheitshalber setzte sie noch ein »Alles okay« nach.

»Was soll das heißen?« Linas Stimme klang so resolut, dass Isabell erstaunt den Kopf hob. Ihre Großmutter starrte sie über einer Gabel voll Salat an und schüttelte den Kopf. »Heute war dein erster Tag. Da wird dir doch wohl mehr dazu einfallen als ›Hm‹, oder?«

Isabell spürte ihre Wangen heiß werden. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Lina so beharrlich nachfragen würde.

»Na ja. Es ist nie toll, irgendwo die Neue zu sein«, sagte sie schließlich. »Immerhin bin ich nicht allein. Neben mir sitzt ein Mädchen, das hat auch nach den Ferien neu angefangen.«

»Damit habt ihr schon mal was gemeinsam. Darauf lässt sich aufbauen.« Lina nickte, als ob sie eine wichtige Erkenntnis von sich gegeben hatte. »Wie heißt sie denn?«

»Julia.« Isabell überlegte einen Moment. »Kommt wohl aus einer Kaffeefamilie. Schon eeeewig in Bremen und wichtig.«

»Und wie heißt das Mädchen mit Nachnamen?« Lina legte den Kopf leicht schräg, was Isabell zum Lachen brachte, weil es so sehr den Bewegungen der Katzen ähnelte. »Vielleicht kenne ich sie ja. Bremen ist wie ein großes Dorf.«

»Linden. Julia Linden. Kennst du die Familie?«

»Nicht persönlich. Aber ich weiß, dass sie eines der letzten unabhängigen Unternehmen besitzen.« Lina schien zu überlegen und schnitt gedankenverloren das Pizzastück in immer mehr Teile. »Und sie gehörten zu den Ersten, die Kaffee fair handelten. Ich glaube sogar in Guatemala. Da habt ihr doch schon zwei Dinge gemeinsam, diese Julia und du.«

»Hm«, antwortete Isabell wieder und beugte sich über ihren Teller. Sie fürchtete, dass ihre Großmutter ihr sonst das Unbehagen auf dem Gesicht ablesen würde. Isabells Interesse, in Julia Linden die neue beste Freundin zu finden, tendierte gegen null. Also versuchte sie, vom Thema abzulenken. »Eine Katze hat in meinen Rucksack gepinkelt.«

»Oh, das tut mir leid. Ich habe so ein Anti-Geruchsmittel, das gut wirkt. Das hole ich dir gleich.«

»Schon gut.« Isabell grinste. Mission erfolgreich. Thema gewechselt. »Ich lasse meine Tür jetzt vorsichtshalber zu.«

»Ich fürchte, das geht nicht.« Lina hob entschuldigend die Hände. »Die Katzen hassen verschlossene Türen und würden die ganze Zeit nerven, damit du sie wieder öffnest.«

»Dann stelle ich wohl besser alle Sachen hoch.«

»Ja genau. Ich sage immer, dass Katzen einen zur Ordnung erziehen.« Lina zuckte die Schultern. Dann runzelte sie die Stirn. »Kommst du klar mit den deutschen Fächern und dem ganzen Punktesystem? Ich kenne mich leider gar nicht mehr aus. Das Letzte, das ich mitbekommen habe, ist, dass es das Abitur jetzt nach zwölf Jahren gibt.«

»So viel anders als in Guatemala ist es nicht«, antwortete Isabell. »Und ich habe alles angerechnet bekommen, sodass ich nächstes Jahr Abi machen kann. Nur in Mathe muss ich nacharbeiten, aber das kriege ich hin.«

»Mit Mathe konnte ich nie etwas anfangen.« Lina lächelte. Ihre Gedanken schienen in die Vergangenheit zu wandern. Isabell überschlug im Kopf, dass das ja ewig her sein musste.

»Wie ich schon sagte, da du und Julia die zwei Neuen in der Klasse seid, habt ihr doch wirklich eine gute Ausgangsbasis, um euch einmal zu unterhalten. Was meinst du?«

Ihre Großmutter konnte wohl nie Ruhe geben.

»Mal sehen«, seufzte Isabell.

Im Land der Kaffeeblüten
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