50 Guatemala 1902

Die Sorge um meine Eltern ließ mir den Weg nach Xela unendlich lang vorkommen. Die Strecke von Nahualá an erwies sich als besonders kräftezehrend. Der Nieselregen wurde dichter und dichter, sodass wir Bäume und Büsche nur noch als Schatten am Wegesrand wahrnahmen. Die Pferde und mein braver Nemo trotteten so müde dahin, wie wir uns fühlten.

Die Nächte waren furchtbar kalt, was sich bis in die Morgenstunden hineinzog. Georg und ich leiden unter Hustenschüben. Margarete und Juan schien das Wetter nichts auszumachen, aber als wir endlich rasteten, konnte ich auch ihnen die Erschöpfung anmerken.

Die Luft im Hochland ist dünn und jede Bewegung kostet sehr viel Kraft. Wie lange werde ich noch durchhalten?

Ich muss durchhalten. Für meine Eltern. Für das Versprechen, das ich gegeben habe.

Am nächsten Tag erreichten sie einen Fluss. Elise, die vor Erschöpfung beinahe einschlief, konnte sich gerade noch auf dem Rücken des Maultiers halten, als der Mula die Beine in den Boden stemmte und sich weigerte, noch einen Schritt zu tun.

»Komm, Junge«, sprach Elise auf ihn ein und strich ihm über die Mähne. »Das kennst du doch. Einfach einen Huf vor den anderen setzen und wir kommen sicher ans andere Ufer.«

»Kikel-já. Vielleicht spürt er das«, sagte Juan so unvermittelt, dass Elise Nemo scharf zügelte. Der Mula wieherte auf. »Der Blutfluss.«

»Warum heißt er so?«, fragte Elise, nachdem sie das Tier wieder beruhigt hatte. »Trägt er rote Erde mit sich?«

»Nein.« Margarete zügelte ihre Stute, die nervös tänzelte und nach Nemo schnappte. »Hier fand die Entscheidungsschlacht zwischen Pedro de Alvarado und den Quiché-Maya statt. Die Eroberer erschlugen so viele Indios, dass sich das Wasser rot färbte vom Blut.«

Juan und sie wechselten einen Blick, bei dem sich Elise dumm und naiv fühlte. Georg allerdings nickte ihr zu.

»Oh«, sagte sie nur. Gab es in Guatemala nur Orte mit einer düsteren Geschichte? »Wie furchtbar. Vielleicht will Nemo deshalb nicht hier entlanggehen.«

Nur mit viel Zureden und einigen Mangostückchen konnte Elise den Mula dazu bewegen, die Furt zu durchqueren. Wahrscheinlich lag es an ihr, überlegte Elise. Ihre Anspannung übertrug sich auf das Maultier und ließ es nervös reagieren. Sie versuchte, sich abzulenken, aber immer wieder kreisten ihre Gedanken um eines: Würden sie Xela rechtzeitig erreichen, um ihre Eltern zu retten?

»Gib die Hoffnung nicht auf.« Georg hatte sein Pferd neben sie gelenkt und versuchte, Elise aufzumuntern. Doch auch auf seinem Gesicht spiegelte sich die Sorge um das Wohl von Henni und Johann wider. Als Elise die dunklen Ringe unter seinen Augen entdeckte, hatte sie plötzlich ein schlechtes Gewissen. Sie war so sehr in ihrem Elend verhaftet gewesen, dass sie sich nicht ein Mal gefragt hatte, was das Verschwinden ihrer Eltern für Georg bedeutete. Wie musste er sich fühlen, nachdem er das zweite Mal in seinem Leben Menschen, die ihm nahestanden, verloren hatte?

»Danke«, antwortete Elise mit belegter Stimme. Was konnte sie sagen? Ohne lange zu überlegen, streckte sie ihre Hand nach ihm aus. »Gemeinsam werden wir sie finden.«

»Wir werden hier rasten.« Margarete mischte sich ein und zerstörte den zarten Augenblick zwischen Georg und Elise. »Die Pferde sind zu müde, um heute noch weiterzureiten.«

Elise konnte nur staunen, wie unermüdlich und klaglos Margarete die Reise hinter sich gebracht hatte. Nur Juan hatte dafür gesorgt, dass sie genügend Ruhepausen einlegten. Manchmal schien es Elise, als ob Margarete vor etwas davonlaufen wollte, aber sie wagte es nicht, sie danach zu fragen.

Am nächsten Morgen hatte der Regen aufgehört und ab und zu blitzte ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke. Je näher sie Xela kamen, desto klarer wurde der Himmel, was Elise als gutes Omen deutete. Sie trieben die Reittiere an, um endlich den Ort zu erreichen, der sich ihnen inmitten eines Hochtals zeigte. Hinter der Stadt erhob sich eine Bergkette, die sich wie ein Schutzwall um Xela legte. Rund um die Stadt befanden sich Felder, auf denen Mais, Kartoffeln, Weizen, Gerste und Hafer angebaut wurde. Für Kaffeeanbau lag der Ort zu hoch, hatte Margarete erklärt.

»Sieh nur. Wie eindrucksvoll.« Georg wies Elise auf die Berge hin, die sich im Westen hinter der Stadt erhoben. »Der Santa María und der Cerro Quemado. Zwei Vulkane«, erklärte er.

»Aktive Vulkane?«, fragte sie erschrocken. Seitdem Elise über Pompeji gelesen hatte, hatte sie großen Respekt vor den Naturgewalten. Und die Geschichte ihrer Mutter über das Schicksal Antiguas hatte nicht dazu beigetragen, ihre Ängste zu besänftigen. »Warum baut man eine Stadt in der Nähe von Vulkanen?«

»Ich weiß es nicht.« Georg hob die Schultern. Er drehte sich zu Margarete und Juan und fragte: »Ihr vielleicht?«

»Sie ruhen.« Margarete wandte sich im Sattel um und lächelte Elise beruhigend zu. Ihr Gesicht war von den Strapazen der Reise nun deutlich gezeichnet. Die hellen Augen wirkten riesig in dem schmalen Gesicht. »Keine Sorge.«

»Ich fürchte mich nicht«, antwortete Elise barsch, so wie sie sich immer wehrte, sobald sie vermutete, dass jemand ihre Angst bemerkte. Sie biss sich auf die Lippen. Warum konnte sie nicht freundlicher sein? Warum dachte sie immer, dass alle Menschen sie angriffen? Sie schluckte ihren Stolz herunter. »Das beruhigt mich, aber hat die dunkle Wolke dort etwas zu bedeuten?« Sie zeigte auf den Santa María, über dessen kegelförmiger Öffnung sich eine schwarzgraue Wolke zusammenklumpte. Elise kniff die Augen zusammen. Es schien so, als würde ein feiner Staub über dem Vulkan tanzen.

Margarete und Juan wechselten einen Blick.

»Es wird schon nichts sein«, sagte Margarete und trieb ihre Stute an.

Schweigend setzten sie ihren Weg fort und erreichten endlich Xela. Langsam ritten sie durch die engen, verwinkelten Gassen, auf der Suche nach dem Gästehaus, in dem Robert Linden nächtigen sollte. Bald erreichten sie den weitläufigen Platz, der das Zentrum der Stadt bildete. Gebäude, groß und elegant wie Paläste, und eine gewaltige Kirche machten den Besuchern deutlich, dass Xela eine aufstrebende Metropole war, die Guatemala-Stadt den Rang abzulaufen gedachte.

»Herr Linden wird erst in drei Tagen wieder erwartet.« Die Wirtin des Gasthauses musterte sie mit unverhohlenem Interesse. Drei Gringos und ein Indio, in völlig verdreckter Kleidung, die Gesichter von Straßenstaub überzogen. »Er ist gestern aufgebrochen, um jemandem einen Besuch abzustatten.«

»Verflucht«, stieß Georg zwischen den Zähnen hervor, was ihm einen missbilligenden Blick der Wirtin einbrachte. »Ich meine, vielen Dank.«

Sie wandten sich ab. Elise wollte ihren Zorn am liebsten hinausschreien. Immer wieder stießen sie auf neue Verzögerungen. Obwohl, eigentlich brauchte sie Robert doch gar nicht mehr. Wartet in Xela, hatte der Brujo zu ihr gesagt. Sie mussten nur eine Bleibe finden, wo sie warten konnten. Georg schaute sie an, ihm schienen ähnliche Gedanken durch den Kopf zu gehen.

»Wie viel Geld haben wir noch?« Die Frage war Elise ein wenig peinlich, aber sie musste es wissen.

Margarete öffnete ihre Geldbörse und zählte die Quetzales. An ihrer Miene konnte Elise ablesen, dass ihnen nicht viel geblieben war.

»Wir … wir müssen die Reittiere unterstellen und uns ein billiges Gasthaus suchen.« Margarete sah aus, als ob sie sich keine Minute mehr auf den Beinen halten konnte. Sie straffte den Rücken und schloss einen Augenblick die Augen. »Ich werde mit der Wirtin verhandeln.«

Nach kurzer Zeit kehrte sie zurück, das Gesicht rot vor Zorn, die Hände zu Fäusten geballt.

»Sie ist zu teuer und …« Margaretes Stimme bebte vor Wut und sie schluckte. »… und sie würde uns nicht aufnehmen, wegen Juan. Aber sie hat mir einen Stall für die Tiere und zwei Wirtshäuser genannt, die …«

Margarete brach ab und schimpfte leise vor sich hin.

»Ich kann mir einen anderen Ort zum Schlafen suchen.« Juan lächelte ihr zu und strich ihr beruhigend über die Schulter. »Es macht mir nichts aus.«

»Aber mir macht es etwas aus. Sehr viel sogar.« Margarete richtete sich auf. Sie drehte sich zu Georg und Elise um. »Wenn ihr im besseren Viertel der Stadt bleiben wollt …«

»Nein.« Elise hatte nur einen Blick mit Georg wechseln müssen. »Wir bleiben zusammen. Einer für alle, alle für einen.«

Im Land der Kaffeeblüten
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