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»Wenn wir dieses Jahr einen fairen Preis erzielen, dann …« Margarete hob den Kopf und lächelte Alice Dieseldorf an. Die Gouvernante erwiderte das Lächeln, was ihren strengen Zügen eine unerwartete Sanftheit verlieh. »Ja«, antwortete sie. »Dann kommen wir in die schwarzen Zahlen. Ich habe mit Herrn Schultze verhandelt. Er gewährt uns wieder Kredit.«

Täuschte sich Margarete oder legte sich bei diesen Worten ein leicht rosiger Hauch über die Wangen des Fräuleins? Nein, das vermochte sie sich nicht vorzustellen. Das hagere Fräulein und der runde gemütliche Kaufmann.

»Habt ihr schon mit Alfred gesprochen?« Minna Seler nahm das Blatt in die Hand, auf dem in säuberlicher Handschrift zwei Zahlenkolonnen nebeneinander aufgelistet waren. »Er wird sich freuen.«

»Möchtest du ihm die gute Nachricht nicht überbringen, Großmama?«, fragte Margarete mit banger Stimme. Obwohl es langsam, aber stetig mit der Finca aufwärtsging, hatte ihr Vater immer noch kein freundliches Wort mit ihr gewechselt. Er schloss sich in seinen Räumen ein oder verschwand mit der Flinte in den Wäldern. Jaguare oder pécaris jagen, behauptete er. Margarete fürchtete jedes Mal, dass er von seinem Ausflug nicht zurückkäme. »Und bitte sage ihm, dass wir es ohne seine Vorarbeit niemals geschafft hätten.«

Wie gern hätte sie selbst mit ihrem Vater darüber gesprochen, ihm gesagt, wie beeindruckt sie davon war, dass es ihm gelungen war, La Huaca in den schwierigen Jahren zu halten. Aber sie fürchtete, dass er ein Lob von ihr nicht annehmen könnte. Alfred Seler hatte ihr nicht verziehen, dass sie weder Karl Federmann noch Robert Linden heiraten wollte.

Ich habe Robert weggeschickt.« Margarete strich sich durch ihr Haar. Sie lächelte Juan an. Ihr Herz schlug so schnell wie die Flügel eines Kolibris. Es hatte sie viel Überwindung gekostet, Roberts Angebot abzulehnen. Zu verlockend erschien ihr die Zukunft, die ihr eine Ehe mit ihm bieten konnte. Die Sicherheit einer Kaufmannsgattin verbunden mit der Freiheit, weiterhin Juan lieben zu können. Aber Juan hatte sich so sehr gegen das Arrangement gesträubt, dass Margarete keinen anderen Ausweg sah. »Er … er möchte in vier Wochen noch einmal wiederkommen, sagte er, und ist jetzt nach Xela gereist.«

»Wirst du deine Entscheidung ändern?« Juan hielt den Atem an.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »Ich werde Robert Linden niemals heiraten. Ich liebe dich.«

»Dann lass uns zusammen weglaufen. Bitte, ich kann so nicht leben.«

Margarete antwortete nicht, sondern betrachtete ihn nur schweigend. Die dunklen Haare, schwarz wie das Fell des Jaguars, die braunen Augen, die sie voller Liebe ansahen. Sie hob die Hand und strich sanft über die feine Narbe auf Juans Wange, die sich wie ein heller Strich von seiner dunklen Haut abhob. Die Narbe, die er ihr verdankte.

»Lass uns gehen.« Juan schaute sie liebevoll an, aber seine Stimme klang drängend. »Du hast alles getan, um die Finca zu retten. Du bist deinem Vater nichts schuldig. Lass uns woanders einen Neuanfang machen.«

»Wo sollten wir denn hin?«, flüsterte sie und hasste sich dafür, dass sie nicht bereit und stark genug war, ihr Leben zurückzulassen und gemeinsam mit Juan die Flucht zu wagen. Liebte sie ihn nicht genug? Immer wieder stand ihr die Vernunft im Weg. Immer wieder fragte sie sich, wie eine gemeinsame Zukunft mit Juan aussehen könnte. Die Tochter eines Finca-Besitzers, die mit einem Indio lebte. Ausgestoßen würden sie sein. Von ihren und von seinen Leuten. Und wovon sollten sie leben? Manchmal wünschte Margarete – und sie verachtete sich für diesen Wunsch –, dass Juan sie während ihres Bremer Jahres vergessen hätte, dass sie sich nur noch als ehemals Liebende begegnet wären. Mit schönen Erinnerungen, aber die Gefühle verblasst wie ein altes Bild. »Juan, ich … ich liebe dich, aber … aber meine Familie. La Huaca. Alles, was ich aufgebaut habe. Was meine Familie aufgebaut hat …«

Sie löste sich von ihm, stand auf und ging zum Wasserfall. Sie bewunderte die Regenbogenfarben, die sich bildeten, wenn die Sonne auf die Gischt des fallenden Wassers traf. Als Kind hatte sie einmal versucht, das Ende eines Regenbogens zu finden. Mit dem Topf voller Gold wollte sie noch mehr Tieren eine Heimat bieten, neben Adele und dem Gürteltierjungen, das sie gerettet hatte. Der Plan war gescheitert und im Laufe der Jahre waren ihre Wünsche andere geworden. »Ich kann meine Großmutter jetzt nicht im Stich lassen.«

»Ich weiß. Dafür liebe ich dich.« Juan war ebenfalls aufgestanden und hinter Margarete getreten. Er legte seine Arme um sie und drückte sie an sich. Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. »Doch dein Vater wird nie zulassen, dass wir uns lieben.«

»Ich weiß.« Für einen Augenblick schloss Margarete die Augen. Sollte es möglich sein? Sollte es einen Ort geben, an dem sie und Juan als Mann und Frau leben konnten? »Wir müssten Guatemala verlassen. Aber wohin sollten wir gehen? Nach Deutschland etwa?«

»Ich kenne dein Land nicht.« Margarete spürte das Lächeln in Juans Stimme. Er schien wirklich bereit, alles für sie aufzugeben. »Aber mit dir gehe ich überallhin.«

»Und deine Familie? Wer wird ihnen helfen, wenn du sie verlässt?« Margarete kam sich schäbig vor, dass sie nach einem Grund suchte, der auch Juan in Guatemala hielt. Wenn er sie so sehr liebte, da konnte sie doch nicht zurückstehen, oder? »Ich fürchte, wir sind beide gebunden.«

»Nein!« In Juans Stimme lag so viel Härte, dass Margarete erschrocken zusammenfuhr. Was ließ ihn plötzlich so zornig werden? »Ich kann nicht mehr warten. Ich habe ein Jahr gewartet, ohne zu wissen, wie es dir geht. Das könnte ich nicht noch einmal ertragen.«

Margarete schwieg. Zum ersten Mal seit ihrem Wiedersehen wurde ihr schmerzlich bewusst, wie düster ihre Zukunft aussah. Niemals würde ihr Vater erlauben, dass sie einen Indio heiratete. Er würde weiterhin versuchen, sie wie eine Zuchtstute an den Meistbietenden zu verschachern, um seine Ehre und die Finca zu retten. Und ihre Großmutter? Minna Seler würde in dem Streit zerrieben werden und erlöschen wie eine Kerze. War da ein klarer Schnitt nicht die bessere Lösung für alle?

»Warum nicht?«, sprach sie ihren Gedanken laut aus. Gemeinsam mit Juan traute sie sich zu, sich allen Gefahren zu stellen. Nie wieder wollte sie ein so einsames Jahr verbringen wie in Bremen. Ihre Kehle schnürte sich zu, als sie an die Nächte dachte, in denen sie leise in ihre Kissen geweint hatte, nur damit ja niemand erfuhr, wie unglücklich sie war. Die Sorge, dass Juan sie vergessen hatte. Die Angst, dass ihm etwas geschehen war. Nein, so etwas wollte sie nicht noch einmal durchmachen müssen. »Mit dir würde ich auch überallhin gehen. Aber Deutschland würde uns nicht freundlich aufnehmen.«

»Mexiko? Es ist nah genug und bietet sicher Arbeit für mich«, schlug Juan vor. In dem Augenblick wurde Margarete bewusst, dass er schon länger über eine Flucht nachgedacht haben musste. Sie lächelte und drehte sich in seinen Armen, bis sie sein Gesicht sehen konnte.

»Mexiko ist zu nah.« Zärtlich küsste sie ihn auf den Mund. »Mein Vater könnte mich suchen lassen. Aber Nordamerika, was hältst du davon? Ich spreche ein wenig Englisch.«

»Ich kann nur Kekchí und Spanisch.« Juan lächelte, doch in seinen Worten lag Bitterkeit. Nur zu gut erinnerte sich Margarete an die Nachmittage, die sie damit verbracht hatten, gemeinsam in ihren Büchern zu lesen. Schon damals hatte Juan sie dafür bewundert, dass sie Deutsch und Spanisch fließend sprechen und lesen konnte. Auf ihren Einwand, dass sie kaum Kekchí konnte, obwohl er sich so sehr bemühte, es ihr beizubringen, hatte Juan nur abwehrend die Hand gehoben und gesagt, das sich niemand für Maya-Sprachen interessierte, während die Deutschen ihre Sprache in die Welt trugen. »Dann musst du in der ersten Zeit für uns reden.«

»Ich habe in der Zeitung gelesen, dass es in Nordamerika wieder Goldfunde gibt«, sagte sie träumerisch. Je mehr sie darüber nachdachte, desto erstrebenswerter erschien ihr ein Neuanfang. Warum nicht? Wenn Juan und sie reich wären, könnte sie zurückkehren, La Huaca zurückerobern, und ihr Vater würde sie mit offenen Armen aufnehmen. »In Alaska. Ganz im Norden. Aber wir bräuchten Geld …«

»Pssst.« Sanft legte er ihr den Finger auf den Mund. Eine Geste voller Zärtlichkeit, die Margarete die Tränen in die Augen trieb. »Ich weiß, was du sagen willst. Bitte schweig. Lass uns heute träumen.«

Margarete schluckte und versuchte, die Tränen zurückzudrängen. Sie schloss die Augen und schmiegte sich enger an Juan, an seine Brust und hörte sein Herz schlagen. Ja, träumen. Von einer gemeinsamen Zukunft, in der ihre Herkunft sie nicht trennen würde. Träumen von einer gemeinsamen Familie. Ohne Anfeindungen. Ohne Diskriminierungen. Warum nicht? Wenn sie beide sich nur liebten, dann würde sich alles andere finden.

Im Land der Kaffeeblüten
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