25

Wie bezaubernd. Sie hatte vergessen, wie bezaubernd dieser Ort war. In den Tiefen der Nebelwälder erstreckte sich die Lichtung rund um den kleinen See vor ihr. Ein Paradies, in dem die Zeit stehen geblieben war. Die Luft war schwer vom Duft der Blüten, die sich um das blaugrüne Wasser sammelten. Wie Juwelen reckten Blumen ihre Köpfe aus dem Grün der Farne und Bäume. Margarete schluckte. Ihre Gefühle überwältigten sie. Die Erinnerung an die glücklichen Stunden mit Juan. Der Schmerz des Verlusts. Die Bitterkeit seines Verrats. Margarete schluchzte auf. Vielleicht wäre es klüger gewesen, nicht wieder hierher zurückzukehren. An diesen verwunschenen Ort. Das Licht der Sonne brach sich in der Gischt wie in einem Prisma und zauberte einen Regenbogen über den Wasserfall. Ihren Wasserfall. Warum nur musste sie Juan immer noch lieben? Warum war ihr Herz nicht so klug wie ihr Verstand, sondern beharrte darauf, dass Juan der Eine gewesen war, der Mann, der ihr bestimmt war und den sie ihr ganzes Leben lang lieben würde?

Margarete stand auf und stolperte. Ihre Knie zitterten. Ihr Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb, als ob sie den Weg von der Finca hierher gerannt wäre. Dabei war sie langsam gegangen. Sehr langsam, hatte gezögert und war dreimal beinahe umgekehrt. Schließlich hatte sie sich dazu durchgerungen, ein letztes Mal den Ort aufzusuchen, mit dem sie so viel Glück verband. Sie wollte Abschied nehmen. Abschied von ihrer großen Liebe. Dann wäre sie frei, sich dem Wunsch ihres Vaters zu beugen und den ungeliebten Karl Federmann zu ehelichen. Damit die Finca gerettet würde. Damit ihr Vater und ihre Großmutter weiterhin ein Zuhause hatten. Margarete schluckte und richtete sich auf.

»Incuan bi«, flüsterte sie. Auf Wiedersehen. Wie schade, dass sie nur wenige Worte Kekchí sprach und sich nicht angemessen von diesem Ort und allem, was er für sie bedeutete, verabschieden konnte. Sie schloss die Augen, atmete den Geruch der Bäume und Gräser ein und lauschte dem Rauschen des Wasserfalls. Ein Geräusch schreckte Margarete auf. Es klang, als ob sich ein Tier durch das Unterholz anschlich. Sie wirbelte herum und ihr Herz setzte einen Augenblick aus.

»Marga. Ich habe jeden Tag auf dich gewartet.« Er stand unbeweglich im Licht der Sonne, die sein schwarzes Haar berührte. Wie bei ihrer ersten Begegnung. Der Junge, der sie gefunden hatte. Der Junge, der sie gerettet hatte. Niemals würde sie den Blick seiner dunklen Augen vergessen.

»Juan«, flüsterte sie. Die Luft drohte ihr wegzubleiben und ihr Körper fühlte sich an, als ob er nicht zu ihr gehörte. Vergessen war die Zeit des Wartens, ihre Trauer, ihr Zorn über sein Schweigen. Sie krallte die Finger in den Stoff ihres Kleides, um ihm nicht in die Arme zu fallen. Sie würde es nicht ertragen, wenn er sie zurückstieße. Sein Name entwich ihrem Mund, obwohl sie es nicht wollte. Nur ein Wort, das ihre ganze Sehnsucht enthielt. »Juan.«

»Marga.« Er stand vor ihr, die Hand halb ausgestreckt, als ob er sie berühren wollte und es dann doch nicht wagte. »Sie haben gesagt, du kommst nicht mehr zurück. Aber ich wollte es nicht glauben.«

»Wer? Wer hat das gesagt?«

Margarete fiel es schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Zu sehr war sie von Juans Anblick eingenommen. Er war älter geworden, wirkte stärker … männlicher. Seine Schultern waren breiter und unter dem hellen Hemd zeichneten sich Muskeln ab, wie sie mit harter körperlicher Arbeit einhergingen. Eine Narbe wie von einem Peitschenhieb zog sich über seine linke Wange und verlieh ihm etwas Verwegenes. Sie senkte den Blick, um sich konzentrieren zu können.

»Wer hat das behauptet?«

»Der Herr.«

Seine Stimme zitterte leicht. Margarete schaute auf. Juan hatte seine Hand zurückgezogen, strich sich verlegen durchs Haar und schlang dann seine langen Finger ineinander, als ob er sie beruhigen müsste. »Dein Vater. Er hat mich zu sich gerufen und …« Seine Finger lösten sich und seine linke Hand flog zu seiner Wange, strich über die Narbe.

»Das … das war mein Vater?«

Margarete schluckte. Sie konnte sich kaum vorstellen, dass ihr Vater, der freundlichste Mann, den sie kannte, jemandem die Peitsche durchs Gesicht zog. Aber sie hatte sich auch nicht vorstellen können, dass ihr Vater sie gegen ihren Willen mit Karl Federmann verheiraten wollte. Vielleicht war es an der Zeit, dass sie ihre Weltsicht überprüfte und erwachsen wurde.

»Warum?«

»Als Strafe dafür, dass du und ich weggelaufen waren.«

Juan zuckte die Schultern. Er musterte Margarete mit durchdringenden Augen. Obwohl sie den Jungen beinahe ihr Leben lang kannte, fühlte sie sich plötzlich befangen und wusste nicht, wohin sie ihren Blick wenden sollte.

»Dann sagte er, dass du in Bremen bleiben und dort heiraten würdest. Dass das dein Wunsch wäre. Das hat sehr wehgetan.«

Wieder strich er über die Narbe, die ihn ewig an jenen Nachmittag erinnern würde. Er schaute an Margarete vorbei, schien in seinen Erinnerungen gefangen. Erinnerungen, bitter wie die ihren. Margaretes Kehle schnürte sich zu und sie rang verzweifelt nach Worten. Was konnte sie sagen? Wie konnte sie sich aus dem Netz der Lügen befreien, das ihr Vater über sie geworfen hatte?

»Hast … hast du ihm geglaubt?«, flüsterte sie schließlich, die Stimme zitternd von dem Ansturm der Gefühle, die das Wiedersehen und Juans Worte in ihr entzündet hatten. Sie wünschte nichts mehr, als sich in seine Arme zu stürzen und sich an ihn zu schmiegen, in einem Kuss zu versinken, um den Schmerz und die Traurigkeit zu vergessen. Aber sie wagte es nicht, auch nur einen Schritt näher zu treten. Erst musste sie wissen, wie es um sie beide stand. »Ich hatte dir versprochen …«

»Kein Wort habe ich ihm geglaubt.« Juan schaute sie an und legte den Kopf leicht zur Seite, sodass ihm seine widerspenstigen Haare in die Stirn fielen. Ohne nachzudenken, trat Margarete auf ihn zu und strich ihm die Haare zurück. Er griff nach ihrer Hand und drückte einen Kuss in die Handfläche. Schnell ließ er ihre Finger los, beinahe erschrocken über seine Kühnheit. »Ich habe auf dich gewartet. Obwohl du nicht geantwortet hast.«

»Geantwortet?«, fragte Margarete wie in Trance. In ihrer Hand spürte sie noch immer die Zartheit seines Kusses. Süß, aber nicht süß genug, um die Bitterkeit des Wartens vergessen zu lassen. »Du hast doch geschwiegen. Ein unendliches Jahr lang.«

»Du hast meine Briefe nicht bekommen?« Röte überzog Juans Wangen. Er wirkte verlegen, was in Margarete erneut den Wunsch erweckte, ihn zu küssen. Und doch wartete sie ab, was er sagen wollte. »Ich … ich dachte, du antwortest nicht, weil meine Briefe nur wenige Zeilen enthielten.«

»Meine Tante.« Margarete ballte die Hände zu Fäusten. Zorn wallte in ihr auf. Ein Zorn, wie sie ihn noch nie verspürt hatte. Ein Zorn, genährt durch all die Tränen, die sie im vergangenen Jahr geweint hatte. Genährt von dem Schuldgefühl, dass sie so schnell bereit gewesen war, an Juans Verrat zu glauben. »Sie muss alle Briefe abgefangen haben. Sie oder das Fräulein.«

Ihre Brust bebte, weil sie den Atem so hastig einzog und wieder ausstieß, um die Wut zu bezähmen, die sich ihrer bemächtigen wollte. Doch dann gelang es der Freude, all die dunklen Gedanken und Gefühle beiseitezuschieben.

»Du … du hast auf mich gewartet«, flüsterte sie und biss sich auf die Unterlippe, um nicht in Tränen auszubrechen, weil Juan ihr weit mehr vertraut hatte als sie ihm. »Du hast an uns geglaubt.«

»Ich hatte es dir versprochen.« Mehr musste er nicht sagen. Mit einem unterdrückten Schluchzer stürzte sich Margarete in seine Arme, presste ihren Kopf an seine Brust und weinte. Weinte Tränen der Dankbarkeit darüber, dass sie ihre Liebe nicht verloren hatte, dass die Möglichkeit, ein gemeinsames Leben mit Juan zu führen, immer noch bestand.

Sanft hob er ihren Kopf, sodass sie ihm in die Augen schauen konnte. In seinem Blick lag so viel Liebe, dass Margaretes Herz zu zerspringen drohte. Sie schloss die Augen, voll gespannter Erwartung. Endlich beugte er sich vor und küsste sie. Alles war vergessen. Jetzt zählte nur der Augenblick. Juans Kuss.

»Mar-ga-re-te!«, erklang die gefürchtete spitze Stimme und zerstörte den Augenblick des Glücks. Das Fräulein. Margarete spürte den Zorn zurückkehren. »Mar-ga-re-te!«

Warum nur hatte ihr Vater die Gouvernante zurückgeholt? Sicher weil er sie bestrafen wollte, als sie sich weigerte, Karl Federmann zu heiraten. Warum redete ihr Vater nicht mit ihr, damit sie sich ihm gegenüber erklären konnte? Sie würde sicher einen Weg finden, die Finca zu retten, ohne ihre Liebe zu opfern.

»Ich muss gehen.« Juan küsste sie noch einmal leidenschaftlich, dann riss er sich aus ihren Armen. »Sie sollte mich nicht sehen.«

»Ja, geh.« Margarete nickte. Ihr Verstand sagte ihr, dass das das Richtige sei, aber ihr Herz wünschte, dass er für immer bei ihr bliebe. Sie wollte sich nicht wieder von ihm verabschieden, nachdem sie ihn gerade erst wiedergefunden hatte. »Schnell. Das Fräulein wird gleich hier sein.«

Er lief ein Stück, drehte sich noch einmal um und eilte mit großen Schritten auf Margarete zu. Er presste seinen Mund so fest auf ihre Lippen, dass es schmerzte. »Morgen wieder hier an unserem Wasserfall?«

»Ja, aber nun spute dich.« Margarete schaute sich ängstlich um, ob die Gouvernante bereits zu sehen war. »Morgen. Am Nachmittag.«

Im Land der Kaffeeblüten
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