20 Bremen 2011

»Das ist ja ein Ding!« Isabell legte das Tagebuch zur Seite und streckte sich. »Unsere beiden Ururgroßmütter waren auf demselben Schiff und haben sich auch noch kennengelernt. Das glaubt uns kein Mensch. Ich glaub’s ja selbst kaum.«

»Ich wusste nicht einmal, dass Margarete für ein Jahr in Bremen war.« Julia spielte mit einer Haarsträhne. »Und ich hätte mir nie vorstellen können, dass sie so romantisch war, dass sie sich umbringen wollte. Auf den Bildern wirkt sie so seriös, beinahe streng.«

»Hat sie den Mann geheiratet, den ihr Vater für sie ausgesucht hat?« Isabell blätterte in dem Tagebuch. »Diesen Karl Federmann.«

»Nee. Den Namen habe ich noch nie gehört.« Julia schüttelte den Kopf und runzelte die Stirn. »So richtig viel weiß ich über Margarete eigentlich gar nicht. Nur dass sie die Firma gerettet hat und dass ihr Bild an prominenter Stelle bei uns im Haus hängt. Das wirst du ja morgen sehen. Und es gibt an der Uni sogar ein Archiv, das nach ihr benannt ist.«

»Ein Margarete-Archiv? Wow.« Isabell war beeindruckt. »Wo ist das? In der Universitätsbibliothek?«

»Nein, in der Linden-Bibliothek bei den Historikern.« Julia war nahe daran, sich zu entschuldigen. »Mein Großvater hat wohl viel Wert darauf gelegt, dass sein Name verewigt wird.«

»Was hat denn dein Großvater damit zu tun?«

»Großvater hat der historischen Fakultät viel Geld für eine Bibliothek gespendet, aber …« Julia legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »… nur, wenn sie seinen Namen trägt und außerdem ein paar Räume zur Verfügung gestellt werden, in denen Margaretes Briefe und Bücher und alle möglichen anderen Sachen archiviert werden.«

»Also ein Margarete-Archiv in der Linden-Bibliothek in der Bibliothek der historischen Fakultät«, fasste Isabell zusammen. »Das ist ja wie bei den russischen Puppen. Wenn du eine aufmachst, steckt noch eine drin und noch eine und noch eine.«

»Wenn du mehr über Margarete wissen willst, müssten wir uns die Erlaubnis meiner Eltern holen. Das Archiv ist nämlich nicht öffentlich.«

»Lass uns den einfachen Weg gehen. Hast du schon mal im Netz gesucht?« Isabell öffnete ihr Notebook und wollte den Namen eintippen. Sie stockte. »Äh, wie hieß deine Großmutter eigentlich? Wie du?«

Als Julia nicht antwortete, schaute Isabell verwundert auf. Julia starrte auf ihren iPad. Röte bedeckte ihren Nacken und ihren Hals.

»Stimmt was nicht?« Isabell überlegte, ob sie etwas Falsches gesagt hatte. »Irgendwas daneben?«

»Nein. Nein. Entschuldige. Auch Margarete hieß Linden. Die Firma heißt aber noch nach ihrem Vater, also Seler.« Julia schaute auf und bemühte sich um ein Lächeln. »Es ist nur … Ich dachte immer, dass ich viel über Margarete weiß, aber eigentlich …«

»Schau mich an.« Isabell zog einen Mundwinkel hoch. »Ich kannte gerade mal den Namen meiner Ururgroßmutter. Überleg doch mal, die beiden sind bestimmt schon fünfzig Jahre oder so tot. Warte.«

Sie öffnete ein neues Fenster, gab Elise Hohermuth ein und stieß einen Pfiff aus.

»Und?« Julia war aufgestanden und schaute Isabell über die Schulter. »Oh. Über Elise findet sich aber auch einiges. Wusstest du das?«

Jetzt war es an Isabell, sich zu räuspern. Wie konnte es sein, dass sie gerade mal den Namen ihrer Vorfahrin kannte, obwohl Elise Reiseberichte geschrieben und zu ihrer Zeit sogar eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte?

»Meine Eltern haben irgendwann mal was erwähnt. Aber … na ja, ich hab wohl nicht so richtig zugehört.« Isabell kratzte sich mit dem Finger auf dem Nasenrücken und überlegte. »Elise ist 1963 gestorben. Da müsste Lina sie noch gekannt haben … Wir können mit einer Zeitzeugin reden. Das ist doch schon mal was.«

»Margarete ist erst 1968 gestorben.« Julia saß wieder vor ihrem iPad und hatte mehrere Dateien geöffnet, die sich mit der Firmengeschichte beschäftigten. »Da müsste mein Vater sich noch an sie erinnern. Aber er erzählte immer nur von der Finca in Guatemala, obwohl Margarete und ihr Mann schon 1903 wieder nach Bremen gekommen waren.«

»1903?« Isabell blätterte wieder durch das Tagebuch. Elise und Margarete hatten sich 1902 auf dem Schiff getroffen. »Lass uns mal überlegen, was wir alles herausfinden müssen. Und zur Haberkorn müssen wir auch und ihr mitteilen, dass wir über den Kaffeehandel und über unsere beiden Ururgroßmütter schreiben wollen.«

»Gut, machen wir einen Plan.« Julia tippte auf das Tastaturfeld des iPads ein. »Was hältst du von einem Familienstammbaum als Ausgangspunkt? Und dann könnten wir noch ins Margarete-Archiv. Und die Tagebücher lesen. Und Interviews mit unseren Familien führen.«

»Das klingt nach einem Haufen Arbeit. Puuh.« Isabell stöhnte. Doch wer wusste schon, ob nicht wirklich etwas Interessantes dabei herauskam? »Wollen wir uns das Ganze aufteilen?«

»Gute Idee.« Julia tippte immer noch auf ihrem iPad herum. Endlich schaute sie auf. »Was meinst du? Ist es klüger, wenn ich deine Oma interviewe und du meinen Vater? Oder bleiben wir besser in der Familie?«

Gute Frage. Isabell dachte einen Moment nach. »Pass auf. Ich spreche nachher mal mit Lina. Nenn sie bloß nie meine Oma. Das kann sie echt nicht leiden.« Isabell grinste. »Dann wissen wir schon mal, ob sie überhaupt etwas über Elise weiß. Und morgen gehen wir zur Haberkorn.«

»Ich rede mit meinem Vater.« Julia nickte und packte ihre Sachen zusammen. Sie lächelte. »Dann sind wir auf jeden Fall schon mal einen großen Schritt weiter.«

Nachdem Isabell Julia verabschiedet hatte, ging sie in die Küche und schaute, ob Lina da war. Niemand zu sehen. Am Kühlschrank entdeckte sie einen Zettel.

Liebes. Überraschende Chorprobe heute. Füttere bitte die Katzen. Wird später. Warte nicht. Danke + Küsschen. Lina

Also würde es wohl heute nichts mehr mit der Befragung. Isabell fütterte die Katzen, verteilte Streicheleinheiten und machte sich schnell ein Brot. Sie nahm den Teller und eine Tasse Chai-Tee mit nach oben in ihr Zimmer, setzte sich an ihr Notebook und bedauerte einmal mehr, dass sie kein iPad besaß.

Was sie im Netz fand, konnte sie beim besten Willen nicht mit dem Mädchen aus dem Tagebuch zusammenbringen. Elise hatte Bücher geschrieben: Reiseberichte, aber auch politische Streitschriften. Über das Frauenstudium. Über den Zugang von Frauen zur Universität und über einen pfleglichen Umgang mit den Schätzen anderer Völker. Jetzt war Isabells Neugier geweckt. Wann hatte sich die kleine Neurotikerin denn in eine Kämpferin verwandelt?

Im Land der Kaffeeblüten
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