Eine gute halbe Stunde später war bei den Polizisten von dem anfänglichen Schock kaum noch etwas zu spüren. Kluftinger blickte aus der Tür des Einsatzwagens über den Platz vor dem Museum, das bereits fast vollständig geräumt war. Willi Renn hatte lautstark darauf hingewiesen, dass er nur vernünftige Ergebnisse liefern könne, wenn ihm nicht sämtliche Spuren kaputt getrampelt wurden. Jetzt liefen die Eröffnungsgäste auf dem Vorplatz durcheinander oder standen in kleinen Grüppchen zusammen und versuchten in Gesprächen zu verarbeiten, was gerade passiert war. Wer das Gelände verlassen wollte, durfte dies erst, nachdem die Personalien aufgenommen worden waren.
Kluftinger betrachtete das alles mit leerem Blick, dann rieb er sich mit der Hand über die Augen, als könne er damit den Schreck von eben wegwischen. Die ersten Sekunden nach der Enthüllung waren die Menschen wie paralysiert im Ausstellungsraum herumgestanden, bis sich ein gewaltiges Stimmengewirr in der Halle erhoben hatte. Der Mann, den Kluftinger zu Boden gerissen hatte, stellte sich als der etwas sonderbar auftretende, aber völlig harmlose Herausgeber einer Fachzeitschrift für sakrale Kunst heraus.
In dem Durcheinander hatte man erst nach einer Viertelstunde bemerkt, dass nicht nur die Monstranz, sondern auch noch andere Preziosen gestohlen worden waren: Es fehlten mehrere kostbare Ringe aus einer Vitrine, die anderen waren unangetastet geblieben. Den Polizisten war schnell klar geworden, warum: Die Diebe hatten nur so viel entwendet, dass es auf den ersten Blick nicht auffiel und es auf den Bildern der Überwachungskameras, die sich routinemäßig alle dreißig Minuten einschalteten, wirkte, als sei alles in bester Ordnung.
Kluftinger und seine Kollegen waren ratlos: Wie hatte dieser Diebstahl sich nur unbemerkt abspielen können in der letzten Nacht? Die Täter mussten nach einem ungeheuer ausgeklügelten Plan vorgegangen sein und waren zugleich bestens informiert gewesen – schließlich hatten sie allem Anschein nach alle Sicherheitsvorkehrungen ausgeschaltet, die Alarmfallen und Sensoren umgangen und waren völlig unbemerkt wieder verschwunden. Allein den im Boden eingelassenen Tresor zu überlisten sei beinahe unmöglich, hatte der Versicherungsmensch erst gestern noch erklärt. Und nun? Man hatte sie alle Lügen gestraft. Schlimmer noch, man hatte sie vorgeführt. Sie tappten völlig im Dunklen, und Kluftinger hatte nicht gerade das Gefühl, dass sich das allzu bald ändern sollte. So wie es aussah, waren die Täter mit ihrer Beute längst über alle Berge.
Der Kommissar ließ den Blick schweifen und erblickte den Polizeipräsidenten, der sich gerade gestenreich mit dem Landrat und dem Kemptener Oberbürgermeister unterhielt; darum herum hatten sich die Journalisten postiert. Auch wenn er es nicht hören konnte, ahnte er, was dort gesprochen wurde: Lodenbacher würde in bunten Farben schildern, welchen Aufwand man nun betreibe, um die Monstranz einschließlich der Täter zu finden, er würde wie immer behaupten, es gebe schon Hinweise und einen ersten Verdacht. Seine »besten Männer« habe er mit »dera Sach« betraut, es bestehe kein Grund zur Sorge, auch wenn es eine große Herausforderung für ihn und seine Truppe sei.
Kluftinger stieß mit bitterer Miene die Luft aus. Gerade hatte ihm Lodenbacher in schneidendem Tonfall erklärt, er erwarte, dass der Fall umgehend geklärt werde, ansonsten würde er dafür sorgen, dass Kluftinger als Streifenpolizist in den Bayerischen Wald versetzt werde. »Do steht mei Karriere aufm Spiel, Sie … Sie Kasperl!«, hatte er geendet, dann war er in Richtung der regionalen Prominenz wieder abgerauscht. Um die Monstranz machte er sich offenbar weitaus weniger Sorgen.
In der Hand hielt Kluftinger nun eine Tüte mit der Figur, die in der Vitrine gestanden hatte. Wieder und wieder betrachtete er den kleinen Zettel, der daran befestigt war. »4,35 Millionen«, murmelte er resigniert. Was für eine seltsame Zahl. Seine Gedanken wurden unterbrochen, als sich Hefele an ihm vorbeizwängte. Den fragenden Blick seines Chefs beantwortete er mit einem »Ich muss bloß schnell biseln« und zeigte vage auf den Museumsbau.
Kluftinger nickte abwesend. Er dachte an diesen Strehl, den sie vor ein paar Tagen in Wien vernommen hatten. Hatte der sie kaltschnäuzig belogen? Oder hatte der Schutzpatron seine Pläne geändert, nachdem sie seinen Komplizen geschnappt hatten?
»Richard, haben die im Hubschrauber jetzt schon irgendwas Neues?«, fragte Kluftinger. Der Helikopter zog nun größere Kreise über der Gegend. Schließlich hatte man die Monstranz mit einem Funkchip versehen, den sie nun zu orten versuchten.
»Nein, bis jetzt haben die nix!«
»Sollen aber weitersuchen!«
»Werde es weitergeben, Chef! Aber ich glaube, dein Typ wird verlangt.« Maier zeigte nach draußen.
»Herr Kluftinger! Hier!« Langhammer stand an einem Stehtisch vor dem Metzgerwagen, zusammen mit seiner Frau, dem Altusrieder Pfarrer und Kluftingers gesamter Familie, und winkte aufgeregt. Auch der Pfarrer bedeutete ihm, dass er herkommen solle. Als auch noch Erika zu gestikulieren anfing, setzte er sich schließlich in Bewegung.
»Was ist denn los?«, fragte er, als er bei ihnen angekommen war, und gab sich Mühe, dabei nur Erika anzusehen und die anderen zu ignorieren – vergeblich.
Der Doktor klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und sagte mit strahlendem Lächeln: »Großartig, mein lieber Kluftinger, mit Ihnen ist doch immer was geboten!« Beifall heischend blickte er in die Runde, erntete jedoch nur Stirnrunzeln für seine seltsame Äußerung. Also setzte er schnell eine Miene auf, die wohl Besorgnis und echte Anteilnahme signalisieren sollte, wobei er seine Lippen spitzte und mit getragener Stimme verkündete: »Spaß beiseite, wenn ich Ihnen helfen kann – jederzeit!« Er sah Kluftinger eindringlich an.
Anscheinend erwartete er ernsthaft eine Antwort auf sein Angebot.
»Nein, vielen Dank, wir sind personell ganz gut besetzt heut. Sollte sich aber jemand den Fuß verstauchen oder in den Finger schneiden, sag ich Bescheid, gell?«
»Ich dachte nur, manchmal ist Input mit ein wenig Außensicht ganz hilfreich. Oft setzt ja eine gewisse Betriebsblindheit bei den Experten ein. Und wir haben doch schon sehr gut zusammengearbeitet, nicht wahr?«
»Ja, ja, schon recht. Aber in diesem Fall ist ein Input mit ein wenig Ahnung wichtiger. Sonst noch was? Ich mein, alles klar sonst?«
Erika fasste ihn am Arm. »So was Furchtbares für dich jetzt! Sei vorsichtig, gell? Habt ihr denn schon eine Spur?«
Kluftinger setzte zu einem resignierten Kopfschütteln an, besann sich aber eines Besseren: Schließlich glotzten ihn der Pfarrer und der Doktor samt Ehefrau mit großen Augen an. »Du, mei, klar, so eine Spur, die muss man ja haben. Ohne Spur kannst du ja gar nicht ermitteln, so gesehen. Alles so weit … in geregelten Bahnen.«
Erika nahm die linke Hand ihres Mannes in ihre und drückte fest zu. »Pass bitte auf dich auf!«, hauchte sie ihm ins Ohr. Sie wusste, dass ihr Mann nun Zuspruch brauchte.
Nicht so Markus. »Kannst ja die nachgemachte Monstranz aus deinem Auto reinstellen, dann können sich die Leut was anschauen! Die können doch eh nicht unterscheiden, was echt und was eine billige Kopie ist!«
»Du hast eine Monstranz im Auto?«, fragte der Pfarrer entgeistert.
»Schon.«
»Eine geweihte Reliquienmonstranz?«
»Nein, das ist nur eine nachgemachte, eine Kopie von der Magnusmonstranz halt.«
Der Pfarrer atmete erleichtert auf, was Kluftinger ein wenig befremdlich fand.
»Ach, mein Lieber, das ist ja interessant. Haben die Diebe denn mit einer Replik gearbeitet?«, gab Langhammer auf einmal den Experten. »Ein subtiler Plan, der aber offenbar durchkreuzt wurde, habe ich recht?«
»Wisst ihr was? Ich muss jetzt leider wieder was schaffen, gell?«
»Nein, warte noch«, bat der Pfarrer, »du weißt, was für einen guten Katholiken angezeigt ist, wenn etwas so Kostbares, so Heiliges verschwunden ist, nicht wahr? Wie gut, dass uns Katholiken unsere Patrone beistehen, um beim Allmächtigen um Beistand für uns zu bitten!«
»Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich hab nichts dagegen, wenn Sie zum Antonius beten. Aber ich verlass mich da von Berufs wegen eher auf anderweitige Methoden.«
»Aber auch du glaubst doch an die Wundertätigkeit der Heiligen, nicht wahr? Hast du denn nicht erst neulich eine Kerze angezündet in unserer Pfarrkirche und in das Buch bei der Madonna ein kleines Anliegen eingeschrieben?«
Alle richteten ihre Augen auf den Kommissar. Der wurde rot und kam sich vor wie ein ertappter Sünder. Doch in dieses Gefühl der Peinlichkeit und Bedrängnis mischte sich eine ordentliche Portion Wut über den Pfarrer – offenbar hatte der nichts Besseres zu tun als das Büchlein mit den Gebetsanliegen seiner Gemeinde auszuspionieren! Wenn der Geistliche jetzt auch noch den Inhalt des Anliegens ausplauderte, war er vollends geliefert: Und woher wusste der überhaupt davon, er hatte seinen Eintrag schließlich nicht unterschrieben.
»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich nicht dran glaub! Aber mein Job schaut halt anders aus«, sagte er und hoffte inständig, dass das Thema damit vom Tisch wäre. »Also, was wollen Sie jetzt von mir?«
»Ah, herrlich, wie dieser einfache Volksglaube noch so verwurzelt ist in den Herzen der Menschen hier!«, jubilierte der Doktor. »Worum haben Sie denn gebetet, mein Lieber?«
Annegret stieß ihrem Mann den Ellenbogen in die Seite.
Kluftinger kniff die Augen zusammen. »Ach wissen Sie, ich hab mir gedacht, wenn der Antonius Sachen wiederbringen kann, dann kann er sie bestimmt auch verschwinden lassen. Und was mit Sachen geht, das geht ja sicher mit Personen auch! Aber bisher lässt das Wunder auf sich warten, gell, Herr Langhammer?«
Der Doktor sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Also, was ist jetzt, Herr Pfarrer?«, fragte der Kommissar schließlich.
»Wir werden um fünfzehn Uhr einen Rosenkranz beten, mit dem Anliegen, dass die Monstranz wieder unbeschädigt auftaucht. Mach bitte eine Durchsage deswegen.«
»Ganz bestimmt«, presste Kluftinger hervor und ging grußlos.
Als er schon fast wieder beim Kombi angekommen war, lief ihm ein aufgelöster Bürgermeister Hösch über den Weg. Er hatte nervöse rote Flecken im Gesicht. »Du, Klufti, die Presse löchert mich schon andauernd! Mensch, findet bloß die Scheißmonstranz, sonst können wir das Museum gleich wieder dichtmachen! Da kann ich mir jetzt schon die Schlagzeilen vorstellen! Das Ding reist jahrelang durch die ganze Welt, und kaum ist es hier, lassen wir es uns unter dem Arsch rausklauen!«
Kluftinger stutzte. Zwischen Höschs aktueller Ausdrucksweise und seinem Duktus bei der Rede vor nicht einmal einer Stunde lagen Welten.
»Entschuldige, dass ich so deutlich werde, aber unser Ruf ist jetzt schon beim Teufel, da gilt es zu verhindern, dass wir die neuen Schildbürger werden! Und ohne die Monstranz können wir die ganzen schönen Tourismusprojekte wieder begraben!«
»Du, Dieter, ich bin mir sicher, dass …«
»Schnell, ihr müsst kommen! Sofort!« Hefeles Stimme hallte über den Vorplatz. Er stand mit rotem Kopf im Haupteingang des Museums und gestikulierte.
Ohne ein weiteres Wort rannte Kluftinger los. Er kannte Hefele seit Jahren – wenn den einmal etwas derart aus der Ruhe brachte, war es ernst.
Auch Maier und Strobl kamen aus dem Einsatzwagen gelaufen. Gleichzeitig mit Kluftinger erreichten sie Hefele.
»Ihr müsst’s mit ins Klo kommen! Schnell!«
Die Kollegen sahen sich fragend an, folgten ihm dann aber durch den Ausstellungsraum, wo sie von den ratlosen Blicken der Spurensicherer begleitet wurden.
»Letzte Klokabine hinten an der Wand, schaut’s euch selbst an!«, keuchte Hefele, als sie die Herrentoilette im Untergeschoss erreicht hatten.
»Kreuzkruzifix!« Kluftinger war der Erste, der sich in die Kabine gezwängt hatte. Mitten in der Tür blieb er stehen und starrte auf die gegenüberliegende Wand: Etwa auf halber Höhe prangte ein riesiges Loch, mit einem Durchmesser von vielleicht einem halben Meter. Kluftinger sah zu Boden. Bis auf einige Fliesensplitter lag dort nichts. Ein muffiger Geruch strömte aus der Öffnung. Er sah in die Schwärze hinter dem Durchbruch und bekam große Augen: Es war nicht einfach nur ein Loch, in das er da blickte, es war der Eingang zu einer niedrigen Höhle oder einem unterirdischen Gang. Sofort fielen ihm die Sagen und Berichte über geheimnisvolle unterirdische Gänge unter der Ruine wieder ein und über schwarze Pudel, die sie bewachten.
Schaudernd trat er nach draußen, damit sich auch die Kollegen ein Bild von der Lage machen konnten. Eine Weile standen sie nur da, schwer atmend und ohne ein Wort zu sagen.
Maier war schließlich der Erste, der die Stille durchbrach. »Wer geht rein?«, wollte er wissen.
Kluftinger, Hefele und Strobl sahen sich an. »Du!«, kam es schließlich wie aus einem Munde.
»Gut, von mir aus!«, sagte Maier und machte keinen Hehl aus seiner Freude über das bevorstehende Abenteuer. »Ich hol schnell noch eine große Taschenlampe. Ich bin ja von euch doch der Drahtigste, Sportlichste und Jüngste.«
»Und Nervigste«, ergänzte Strobl leise, als Maier bereits auf der Treppe zu hören war.
»Männer«, sagte Kluftinger nachdenklich, »was heißt das jetzt? Kommt, lasst uns mal überlegen: Die sind hier, nehmen wir mal an, durch eine Höhle, einen Gang oder sonst was reingekommen, oder?« Die Kollegen nickten. »Das heißt, sie müssen sich schon mal mit den örtlichen Gegebenheiten saugut ausgekannt haben. Aber was dann? Ich mein, hier im Keller ist zwar die Sicherung nicht so ausgefeilt wie oben, aber spätestens wenn man die Treppe rauf ist, gibt es einen Haufen Sensoren, die müssen ja irgendwie lahmgelegt worden sein.«
»Der Lodenbacher hat schon die Kollegen vom Raub und vom Einbruch hinzugezogen, mal schauen, was die für eine Theorie haben«, sagte Strobl.
»Jetzt mal blöd gefragt«, meldete sich Hefele zu Wort, »glaubt ihr wirklich, die sind alle durch das Loch geschlüpft? Das ist doch viel zu klein. Da passt ja grad ein Maier durch.«
»Das werden wir gleich wissen, Kollegen!« Maier war wieder zurückgekehrt, gefolgt von Willi Renn, der sich den Mauerdurchbruch interessiert ansah, gleichzeitig aber besorgt auf die vielen Leute blickte, die sich hier aufhielten. Sicher hatte er wieder Angst um seine Spuren.
Schließlich kletterte Maier ein wenig ungelenk in das Loch, und schon bald war nur noch der schwache Schein seiner Taschenlampe zu sehen und ein gedämpftes Stöhnen und Ächzen zu hören. Gebannt starrten die Männer auf das Loch, doch schon nach kurzer Zeit wurden Maiers Unmutslaute wieder deutlicher vernehmbar. Auf einmal erschienen erst zwei staubige Füße, dann der ganze Polizist. Schnaubend und prustend klopfte er sich Staub und Schmutz von der Kleidung, seine Haare klebten am hochroten Kopf.
»Sorry, da ist kein Durchkommen!«
»Ist was eingestürzt?«, fragte Kluftinger.
»Ich glaub nicht. Es wird halt wahnsinnig eng da drinnen. Das ist ein Gang, durch den man eh nur kriechen kann, dann wird es so verwinkelt und schmal, dass ich nicht mehr durchkomme. Dazu müsste man schon ein Schlangenmensch sein!«
»Meinst du, den Gang gibt es schon lang? Also, ist der mittelalterlich? Oder haben die den extra dafür gegraben?«, wollte Strobl wissen.
»Also: Gegraben haben die den nicht, würd ich sagen. Vielleicht streckenweise. Aber was weiß ich! Jedenfalls kommen wir so nicht weiter. Am besten wär, wir hätten einen Hund. Wenn man den mit einer kleinen Videokamera versehen würde …«
»Ein Hund, sagst du?«, fiel Kluftinger ihm ins Wort.
»Ja. Ich denke, so könnte es gehen. Man bräuchte eine vernünftige Lichtquelle …«
Wieder ließ der Kommissar seinen Kollegen nicht ausreden. »Eugen, hol doch mal schnell den Kohler, du weißt schon, den Finder von damals. Der hat doch seinen Dackel dabei. Der ist sicher klein genug, dass er da durchkommt. Dann wissen wir, wenn’s gut geht, immerhin schon mal, wo der Gang endet.«
Strobl ging los, Maier aber gab sich noch nicht zufrieden. »Ich weiß aber jetzt nicht, wo ich auf die Schnelle so eine Mikrokamera auftreiben soll!«
»Was?« Kluftinger hatte gar nicht richtig zugehört.
»Eine Mikrokamera für den Dackel!«
»Schmarrn, Richie, das kann man später immer noch machen! Hauptsache, wir wissen, wo die reingekommen sind. Wegen der Spuren!«
»Sehr in meinem Sinne, Klufti«, schaltete sich Willi ein. »Wobei so ein Hundsviech natürlich auch viel kaputt machen kann. Mir wär ein vernünftiger Polizeihund da schon lieber.«
»Mei, Willi, das hilft jetzt halt nix!«
»Ja, ja, schon recht. Ich sag ja bloß. Übrigens – erinnert dich dieses Zeug an irgendwas?« Renn hielt ihm eine Handvoll der Splitter vom Boden hin.
Der Kommissar schüttelte den Kopf.
»Wenn mich nicht alles täuscht, sind das die gleichen Fliesensplitter, wie wir sie in der Werkstatt gefunden haben. Vitroporzellan, du erinnerst dich!«
»Jetzt seid halt mal leise!«
Kluftinger hielt seine rechte Hand in die Luft. Mit zusammengezogenen Brauen horchte er in die Burgruine hinein. Doch das Bellen des kleinen Hundes war zu schwach. Es musste woanders herkommen. Allerdings klang es nicht so, als dringe das Geräusch aus dem Erdreich. Das kleine Tier musste einen Ausgang gefunden haben. Nur wo?
»Thor! Wo bist du? Thor, mein Kleiner?«, rief Kohler nervös. Er hatte sich sofort bereit erklärt, seinen Dackel – mit dem er viel Zeit in der Hundeschule verbracht hatte, wie er betonte – in den unbekannten Hohlraum zu schicken. Jetzt schien er mit seiner Entscheidung jedoch zu hadern.
»Das ist ja kurios«, merkte Maier an, »jetzt brauchen wir noch einen Suchhund, der nach unserem kleinen Spürhund sucht!«
»Ja, weil du deine Wampe nicht durch den Gang bekommst!«, brummte Hefele.
»Da redet der Richtige! Schau dich doch mal …«
»Herrgott, Männer, Schluss jetzt!«, herrschte Kluftinger die beiden an. Noch einmal konzentrierte er sich auf das Bellen. »Sagt mal, das kommt doch aus Richtung Iller, oder?«, sagte er und rannte los. Am Steilufer des Flusses angekommen, hatten sie dann Gewissheit: Kluftinger beugte sich über das Geländer und entdeckte etwa auf halber Höhe des Steilhangs zwischen Felsen, Grasbüscheln und Geröll tatsächlich den kleinen Hundekopf. »Respekt! Ihr Thor ist mal gar nicht so dumm, wie er heißt. Hoffentlich findet er den zurück auch so gut«, sagte der Kommissar und klopfte Kohler lächelnd auf die Schulter.
»Jetzt lasst uns alles noch mal der Reihe nach durchdenken«, bat Kluftinger, der eine kleine Teambesprechung im Einsatzwagen anberaumt hatte. Auch Lodenbacher hatte es sich nicht nehmen lassen, daran teilzunehmen, während die Kollegen vom Raub zusammen mit Willi Renns Leuten noch das Museum auf Spuren untersuchten.
»Ich schneide das Ganze mal mit dem Aufnahmegerät mit, dann fällt das Protokollieren leichter«, erklärte Maier, und in Anbetracht der Anwesenheit des Polizeipräsidenten ließ ihn Kluftinger gewähren.
»Willis Leute haben unten an der Iller nicht nur einen Kletterkarabiner und einen verbogenen Abseilachter, sondern auch jede Menge Fußabdrücke gefunden«, berichtete Maier. »Wir können also davon ausgehen, dass nicht nur ein Einzeltäter in das Museum eingedrungen ist.«
»Okay. Wie genau sie die ganzen Sicherungen ausgeschaltet haben, wissen wir noch nicht, die vom Einbruch haben aber den Verdacht, dass sie die Türkontakte einfach abgeschraubt haben. Die sind ja nur gegen Einbruch von außen geschützt, lassen sich von innen aber abnehmen. Willi hat außerdem Haarspray oder irgendein anderes klebriges Zeug auf einigen Bewegungs- und Wärmesensoren entdeckt. Wir können jedenfalls davon ausgehen, dass sich die Leute verdammt gut im Haus auskannten und die Sicherheitsvorkehrungen bis ins kleinste Detail studiert haben.«
Lodenbacher ließ sich auf einen Stuhl sinken. Diese Erkenntnis schien zu viel für ihn zu sein. Kreidebleich stammelte er: »Sie moanan also, doss so eine Art Maulwurf … also … in den eigenen Reihen …« Dann stimmte er wieder das Lamento über sein vorzeitiges Karriereende an.
Kluftinger winkte ab. »Also, ich glaub jetzt nicht an eine undichte Stelle bei der Polizei oder aufseiten der Gemeinde, wenn Sie das meinen«, erklärte er, »schauen Sie – da waren doch zig Leute dran beteiligt, von der Versicherung über die Planungsbüros bis hin zu den Firmen, die hier alles verlegt haben, Alarmtechniker, Elektriker, was weiß ich!«
Lodenbacher nickte erleichtert und nahm wieder etwas Farbe an.
Da wurde die Tür des Wagens aufgerissen, und Eva Brandstätter, sichtlich aufgelöst, stürmte herein. »Ich … ich stör nur ungern, aber wir … unser Unternehmen … hat soeben eine … ja, eine Art Lösegeldforderung für die Monstranz bekommen«, sprudelte sie sofort los. »Per Mail übermittelt. Nicht zurückzuverfolgen, versteht sich.«
Die anderen sahen sie mit großen Augen an.
»Wie viel?«, fragte Strobl.
»Das ist etwas seltsam«, fuhr sie fort. »Es handelt sich um denselben Betrag, wie er auf dem Zettel bei der Figur steht. 4,35 Millionen. Weitere Anweisungen folgen.«
»Wieso ist das seltsam?«, hakte Strobl nach.
»Stellen Sie sich vor, was mir die Kollegen in der Zentrale gerade mitgeteilt haben: Diese Summe ist exakt die, die bei uns die Benchmark darstellt. Bis zu diesem Betrag würden wir tatsächlich bezahlen, das ist so geregelt.«
Die Polizisten starrten die Frau verständnislos an.
»Wissen Sie, manchmal ist es billiger, einfach so eine Forderung zu akzeptieren. Wenn die Monstranz für immer verschwindet, wäre der Versicherungsschaden, den wir berappen müssten, weitaus höher. Also formuliert man intern eine Benchmark für den Fall der Fälle. In diesem Fall liegt diese eh schon sehr, sehr hoch.«
»Aha«, versetzte der Kommissar vage. »Sie meinen also, das ist entweder ein Riesenzufall, oder aber jemand hat den genauen Betrag gekannt. Und wer weiß über diese … Bentschmarken da Bescheid und setzt das fest?«
»Na ja, das Controlling, die Geschäftsleitung, das Risikomanagement und der Sachgebietsleiter, der das aktuelle Projekt betreut. Ich war da jetzt aber aktuell nicht eingebunden.«
»Aber der Herr Kuffler, oder?«, hakte Kluftinger nach.
»Ja, natürlich, als betreuender Sachgebietsleiter eben.«
»Wo ist der eigentlich heute?«, wollte der Kommissar wissen, der sich erst jetzt der Abwesenheit des Mannes bewusst wurde.
»Herr Kuffler hat sich heute krank gemeldet, habe ich erfahren. Bei mir hat er nicht angerufen, nur bei der Zentrale. Komisch eigentlich.«
Kluftinger horchte auf. Tatsächlich fand auch er es seltsam, dass Kuffler ausgerechnet heute fehlte. Schließlich war das Ganze hier ja sein Projekt gewesen. Sein Blick fiel auf einen der Monitore. Willi Renn, der über die Vitrine gebeugt war, zog gerade sein Handy aus der Tasche und telefonierte. Dieses Bild rief in Kluftinger irgendeine vage Erinnerung wach …
Auf einmal sah er auf. Wie ein Blitz durchfuhr ihn eine Ahnung dessen, was hier möglicherweise vor sich gegangen war! Er hatte schon einmal einen Mann auf einem Monitor beobachtet, wie der in der Nähe der Vitrine telefoniert hatte. Das war in Wien gewesen, am Telefon war der Schutzpatron und … Kruzifix, hatte Kuffler nicht gerade in dem Moment den Raum verlassen?
»Frau Brandstätter, haben Sie die Handynummer von Kuffler?«, fragte er aufgeregt.
»Hier sind die Verbindungsdaten!«
Maier war gerannt. Jetzt hielt er seinem Chef, der mittlerweile zu Willi ins Museum zurückgekehrt war, eine Liste hin.
Kluftinger sah ihn auffordernd an. »Und? Auswertung?«
»Also«, begann Maier geschäftig, »Kuffler hat am besagten Mittwoch zur fraglichen Zeit einen Anruf getätigt. Auf ein Prepaidhandy. Und rate mal, in welcher Stadt sich das befunden hat!«
»Wien?«
Maier nickte.
»Herrgott, Richie, dann dürfen wir keine Zeit mehr verlieren! Wir müssen versuchen, das Handy vom Kuffler zu orten. Der hängt da ganz tief mit drin! Und außerdem müssen wir es mit dem Prepaidhandy aus Wien versuchen. Wobei ich eigentlich nicht glaube, dass dieser ominöse Schutzpatron das immer noch in der Hosentasche hat!«
»Ortung war bereits erfolgreich!«, meldete Maier dienstbeflissen. »Kufflers Handy befindet sich in der Nähe von Pfronten. Und stell dir vor, das andere ist grad mal im Nachbarort, in der Nähe von Wiggensbach! Wer macht was?«
»Okay, du und Roland, ihr kümmert euch um den Kuffler. Nehmt euch aber ein paar Grüne mit! Und ich fahr mit dem Eugen nach Wiggensbach! Auf geht’s!« Wie auf ein Stichwort rannten beide los.
Kluftinger war überrascht, wie gut sein neues Auto mit der hügeligen Strecke zurechtkam, die sie nun entlangjagten, begleitet vom Getöse mehrerer Polizeiwagen mit Sirene. Sie passierten das Freibad, das Freilichtspielgelände, schossen die Steigung hinauf in Richtung der kleinen Weiler oberhalb des Dorfes. Der Kommissar musste das Gaspedal ganz durchdrücken, um den Anschluss nicht zu verlieren. Er wusste nicht genau, wo es hinging, aber je näher sie dem Ort kamen, desto mehr wuchs die Ahnung, das Gefühl, das Ziel zu kennen. Oder besser: den Namen des Ziels. Und tatsächlich: Nachdem sie Flecken mit so klingenden Namen wie Lausers und Bräunlings hinter sich gelassen hatten, schalteten die Polizeiwagen plötzlich die Sirenen ab und bogen in einen schmalen Weg ein. Kluftinger warf einen Blick auf den Holzwegweiser: Behütgott stand darauf. Er warf Strobl auf dem Beifahrersitz einen vielsagenden Blick zu. Offenbar hatte ihr unbekannter Gegner Spaß an diesem Spiel mit religiösen Begriffen.
Sie fuhren auf der schmalen Straße an ein paar Einödhöfen vorbei, bis nur noch ein Feldweg übrig war. Etwa fünfhundert Meter weiter, vor Blicken durch zwei Waldstücke rechts und links geschützt, tauchte eine kleine Hütte auf. Die Polizeiwagen preschten auseinander und platzierten sich ringsherum. Die Beamten sprangen aus den Fahrzeugen und gingen mit gezogenen Waffen hinter ihren geöffneten Türen in Stellung. Kluftinger und Strobl hielten ein paar Meter hinter ihnen und liefen dann gebückt zu einem der Autos.
»Rührt sich drin was?«, fragte Kluftinger einen der Polizisten, doch der schüttelte nur den Kopf. »Darf ich?« Mit diesen Worten griff sich der Kommissar das Mikrofon im Polizeiwagen, und seine Stimme erschallte aus dem Lautsprecher auf dem Dach: »Hier spricht die Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händen raus. Sie haben keine Chance zu fliehen. Tun Sie uns und sich einen Gefallen, und lassen Sie es nicht drauf ankommen.«
Kluftingers Ruf verhallte in der einsamen Weite der Landschaft hier oben. Nur das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln war zu hören.
»Was machen wir jetzt?«, fragte der Polizist, ohne seine Pistole zu senken oder den Blick von der Hütte abzuwenden. Kluftinger wiederholte seine Durchsage. Als auch diese unbeantwortet blieb, sagte er: »Geht’s rein.«
Mit zaghaften Schritten und vorgehaltener Waffe setzten sich sechs Polizisten in Bewegung und näherten sich von allen Seiten dem Schuppen. Die Kommissare beobachteten mit angehaltenem Atem, wie sie kurz davor noch einmal riefen, alle sollten herauskommen und sich ergeben, um dann auf einen Schlag die Hütte zu stürmen. Ein paar Sekunden hörten sie nur die Schreie der Polizisten, dann wurde es still. Schließlich kam einer von ihnen wieder heraus, steckte seine Waffe weg und winkte ihnen zu. Dann sprach er etwas in das Funkgerät.
Kluftinger verließ seine Deckung und eilte auf die Hütte zu. »Niemand da?«, keuchte er im Laufen.
»Na ja … irgendwie schon«, sagte der Polizist und deutete mit dem Kopf zum Eingang. Der Kommissar blieb stehen, sah ihn prüfend an und ging dann zögernd hinein. Die wenigen Sonnenstrahlen, die durch die Spalten zwischen den Brettern drangen, tauchten alles in ein schummriges Licht. Auf einmal hielt er sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Ist er tot?«, hörte er Strobl hinter sich keuchen.
»Nein, nur bewusstlos. Ich hab schon den Notarzt gerufen«, antwortete der Polizist vom Eingang aus.
Vor ihnen lag, mit nacktem Oberkörper, ein übel zugerichteter Mann auf dem dreckigen Boden. Südländischer Typ, soweit sich das erkennen ließ. Sein Gesicht war verquollen, seine rechte Augenbraue aufgeplatzt. Er musste heftige Schläge eingesteckt haben. Was Kluftinger aber noch mehr erschreckte, war sein Unterarm. Darauf hatte jemand ein Wort mit einem Messer eingeritzt. Die Wunden waren nicht sehr tief und das Blut bereits geronnen, doch die Botschaft war eindeutig:
Verräter.
»Mein lieber Scholli«, sagte Strobl heiser. »Ist das einer von den Phantombildern?«
»Wenn du mich fragst: nein!«
»Vielleicht solltet ihr euch das hier mal ansehen«, rief ein weiterer Polizist, der in einer dunklen Ecke der Hütte kniete.
Die Kommissare gingen langsam zu ihm, darauf gefasst, noch ein weiteres Opfer zu finden. Doch als der Beamte die Taschenlampe anknipste und damit auf den Boden leuchtete, fiel ihnen die Kinnlade herunter: Dort, im Dreck, halb verdeckt von staubigem Heu, lag die Reliquienmonstranz.
»Kruzifix«, presste Kluftinger hervor.
»Im wahrsten Sinne des Wortes«, grinste der Polizist.
»Kann ich mal?«, fragte Kluftinger und nahm sich die Taschenlampe. Er hob das Schmuckstück vorsichtig auf und leuchtete es an. Es war ziemlich demoliert; die goldenen Strahlen waren zum Teil verbogen, zum Teil fehlten sie auch. Einige der Edelsteine waren ebenfalls aus den Fassungen gebrochen und lagen am Boden herum. Die Jahrhunderte hatte es unversehrt überstanden, und nun das! Kluftinger musste schlucken. Er war kein großer Kunstliebhaber oder Museumsgänger, aber er bedauerte diesen unwiederbringlichen Verlust. Vielleicht wäre es fähigen Restauratoren ja möglich … er stutzte. »Moment mal!« Er hielt den Lichtstrahl der Taschenlampe an eine der Bruchstellen im Metall und strich mit dem Finger darüber. »Himmelherrgott, das ist Blech.«
»Was?« Strobl kniete sich neben ihn.
»Ja, ich hab mich schon gewundert, wie leicht das Ding ist. Aber hier, schau mal: Da ist die goldene Farbe abgeblättert, und darunter kommt Blech zum Vorschein.« Er stockte. Strobl hielt ihm einen der abgefallenen Edelsteine hin. Kluftinger nahm ihn, drehte ihn in der Hand – und staunte nicht schlecht. Made in Taiwan stand dort in winzigen Lettern.
»Jetzt versteh ich gar nix mehr, Klufti.« Der Kommissar erhob sich und kratzte sich am Kopf. »Haben die noch eine Nachbildung gehabt?«
Kluftinger fuhr herum. Auf einmal wurde ihm heiß. Er rannte wortlos nach draußen, bahnte sich unter den erstaunten Blicken der Beamten schnellen Schrittes den Weg zu seinem Auto, schloss den Kofferraum auf, öffnete die Kiste, die sich darin befand, und schlug die Decke zurück. »Jetzt leck mich doch am …«, quetschte er wütend zwischen zusammengepressten Zähnen hervor.
»Was suchst du denn?«, wollte Strobl wissen, der eben angerannt kam.
»Gar nix. Ich hab mich nur von etwas überzeugen müssen.«
»Und wovon?«
»Siehst du das?«, fragte er und zeigte in seinen Kofferraum.
»Nein, ich seh nix.«
»Eben. Aber bis gestern war da noch was drin. Und zwar die Nachbildung von der Monstranz.«
»Also ehrlich, ich hab keine Ahnung, was das zu bedeuten hat.«
»Hm, so ganz sicher bin ich mir da auch nicht, aber wir müssen ja wohl davon ausgehen, dass die falsche Monstranz da drin …«, er hob den Arm und zeigte auf die Hütte, »… bis vor Kurzem noch hier drin gelegen hat.« Er zeigte auf seinen Kofferraum.
»Du meinst, jemand hat die aus deinem Auto geholt? Hat es jemand aufgebrochen? Aber wann? Und vor allem: warum?«
»Eben, die wichtigste Frage ist: Was wollte derjenige, der es gestohlen hat, damit? Und wo ist das Original?« Kluftinger ging in gebückter Haltung um sein Auto herum und betrachtete die Schlösser genau. »Ich seh nix«, sagte er schließlich.
In diesem Moment raste der Krankenwagen in einer Staubwolke auf dem Feldweg heran. Grübelnd liefen die beiden zurück zur Hütte und sahen dabei zu, wie der immer noch bewusstlose Mann auf eine Trage gebettet wurde. Ein bisschen hatte Kluftinger darauf gehofft, dass er zu sich kommen und ihnen einige ihrer Fragen beantworten würde, doch der Verletzte, von dem sie noch nicht einmal wussten, um wen es sich eigentlich handelte, rührte sich nicht.
»Herr Kluftinger, wir haben das Handy gefunden.« Etwa zehn Meter vom Eingang entfernt stand ein junger Beamter in Uniform und zeigte auf eine Stelle im Gras.
»Immerhin etwas«, raunzte Kluftinger. Als er bei dem jungen Mann stand, blickte er etwas unschlüssig auf das Gerät. Er überlegte kurz, ob er warten sollte, bis Willi hier war und das Telefon erkennungsdienstlich bearbeitet hatte. Andererseits: Was für Spuren hätte er finden sollen, die ihnen im Moment weitergeholfen hätten? Fingerabdrücke? Dass das Handy dem Schutzpatron gehörte, wussten sie auch so. Ächzend ging er in die Knie und hob es auf. Es war eingeschaltet, zeigte aber nur minimalen Empfang.
Kluftinger reichte das Gerät an Strobl weiter: »Schau mal nach, ob da irgendwelche Nummern drin sind.«
Strobl tippte sich durch das Menü und fand tatsächlich mehrere Telefonnummern, die jeweils hinter einem Heiligennamen standen. »Guck mal, die Nummer kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte er und zeigte auf den Eintrag Santa Assecura.
Kluftinger rieb sich das Kinn: »Ja, wart mal, das ist … genau, das ist die Nummer vom Kuffler. Santa Assecura – sag mal, Assecura ist doch auch eine Versicherung, oder?«
»Ja, schon, wieso fragst du?«
»Lies die anderen Namen noch mal vor.«
»Also, wir haben da Christophorus, Servatius, Lucia …«
»Stopp. Also die ersten beiden sind sicher Schutzheilige. Christophorus für die Autofahrer, Servatius für die Schlosser. Lucia weiß ich nicht, aber, mal ehrlich, es würd mich nicht wundern, wenn unser Schutzpatron lauter kleine Schutzpatrönle um sich versammelt hätte. Kannst du das mal überprüfen?«
Sein Kollege blickte ihn ratlos an. »Und wie soll ich das hier machen? Den nächsten Pfarrer fragen? Oder um himmlische Zeichen bitten?«
»Herrgott, du wirst das doch mit deinem Handy machen können, oder? Der Maier kann das doch auch.«
»Ja, wenn dir dein neues Schätzle Richard Maier hier lieber wär, dann hättest halt mit dem fahren müssen. Ich bin leider kein solcher Technikfreak.«
Tatsächlich bedauerte es der Kommissar ein wenig, dass er Strobl mitgenommen hatte. Sosehr ihn die technischen Spielereien seines Kollegen Maier manchmal nervten, so hilfreich waren sie vor allem in den letzten Tagen gewesen. Doch das Bedauern währte nur kurz: »Nein, nein, um Gottes willen, jetzt sei nicht gleich beleidigt. Ich mein, dann lass das doch gleich mal überprüfen, ja?«
Strobl nickte.
»Und, ist sonst noch was drin?«
»Ja, ein paar SMS. Warte, ich les mal vor: Meine Schäfchen, da die Werkstatt für uns entweiht ist, treffen wir uns morgen um 23 h in der Einsiedelei. Gelobt sei Jesus Christus.«
»Von wann ist die?«
»Vom 6. September.«
»Noch welche?«
»Ja, hier hab ich noch eine vom 14.: Meine Schäfchen, um euch von einer bevorstehenden Pilgerfahrt zu erzählen, muss ich Euch heute um Mitternacht in unserer mobilen Zelle treffen. Sie steht auf dem Parkplatz, Ihr wisst, wo. Gelobt sei Jesus Christus.«
»Die Pilgerfahrt ging dann wohl nach Wien.«
Strobl nickte.
Plötzlich weiteten sich Kluftingers Augen. »Zefix, Eugen, ist dir klar, was du da in der Hand hältst?«
»Ja, das Handy vom Schutzpatron.«
»Schon, aber ich mein: Was wir damit machen können?«
»Wir? Na ja, wir könnten die ganzen Nummern orten lassen, und …«
»Ja, schon klar, aber es geht noch viel einfacher. Das ist der Schlüssel zur Lösung des Mordfalls!«
Strobl zog die Brauen zusammen.
»Denk doch mal nach: Wir beordern sie alle einfach hierher.«
»Aha, und wie? Sollen wir ihnen vielleicht eine SMS …?« Die Miene des Beamten hellte sich auf: »Natürlich, du hast recht. Aber wenn sie mitkriegen, dass es eine Falle ist?«
»Wie sollten sie?«
»Na, die verwenden ja schon einen speziellen Tonfall.«
»Den können wir doch nachmachen. Erinner dich doch: Das haben wir damals sogar bei den E-Mails an die Terroristen hingekriegt! Und wenn’s nicht klappt: Verloren haben wir dadurch nichts. Sollten sie ausgemacht haben, keinen Kontakt mehr aufzunehmen, dann haben sie ihre Handys eh nicht mehr. Falls doch …«
»… trudeln die hier einer nach dem anderen ein«, beendete Strobl den Satz. »Klufti, du bist doch gar nicht so dumm, wie manche meinen.«
»Wer meint das?«
Strobl grinste. »Schmarrn, war nur Spaß. Also los, was schreiben wir?«
Zehn Minuten später sah der Platz wieder genauso verlassen aus, wie sie ihn vorgefunden hatten. Sie hatten eine SMS verschickt mit der Botschaft »Meine Schäfchen, dringendes Treffen in einer Stunde in der Einsiedelei erforderlich. Wichtige Planänderung. Gelobt sei Jesus Christus«. Dann hatten sie die Autos versteckt und sich in den Wald direkt hinter der Hütte zurückgezogen, um sich auf die Lauer zu legen.
Kluftinger ließ sich gerade neben Strobl auf einem umgefallenen Baumstamm nieder, da klingelte sein Telefon.
»Du solltest vielleicht besser den Vibrationsalarm einstellen«, mahnte ihn sein Kollege.
Kluftinger nickte schuldbewusst und meldete sich flüsternd. Es war Maier, der ihm erzählte, dass sie Kuffler gerade noch erwischt hatten. Offenbar hatte er sich mit leichtem Gepäck absetzen wollen. Es habe auch nicht lange gedauert, und der Versicherungsmann habe zumindest ein Teilgeständnis abgelegt. Er hatte die Informationen über die Sicherungsvorkehrungen an den Schutzpatron weitergegeben, so viel stand fest. Vermutlich habe er auch die Sensoren mit Haarspray lahmgelegt. Und mit großer Wahrscheinlichkeit sei er auch der Auftraggeber der ganzen Chose. Kluftinger hörte sich alles an, lobte die Kollegen zufrieden und schilderte die Situation vor Ort. »Ich melde mich wieder, sobald sich hier was tut«, schloss er und legte auf.
Als er das Handy wieder einstecken wollte, sagte Strobl: »Vibrationsalarm.«
»Ach, freilich, wollt ich grad …«
Ein junger Polizist näherte sich ihnen in gebückter Haltung. »Herr Strobl, hier die Liste, die Sie in der Zentrale angefordert haben.«
Strobl nahm den Zettel entgegen, las ihn durch und reichte ihn an Kluftinger weiter: »Du hattest recht. Alles Schutzpatrone. Hier die ganze Liste. Weiß zwar nicht, was du damit anfangen willst, aber bitte.«
Kluftinger nahm den Zettel, las ihn durch, las ihn ein zweites Mal, ein drittes Mal …
»Hallo, Erde an Klufti?«
»Hm?«
»Ich hab gefragt, was wir machen, wenn die nicht alle pünktlich sind. Sollen wir warten, bis der Letzte da ist, oder was?«
»Wie? Ach so, nein, wir greifen uns einen nach dem anderen.« Er blickte wieder auf den Zettel.
»Was ist denn an der Liste so interessant?«
»Ich bin mir nicht sicher. Ist nur so ein Gefühl. Lass mich mal noch überlegen.«
Strobl fragte nicht weiter nach. Er wusste, wenn sein Chef »so ein Gefühl« hatte, störte man ihn besser nicht. In den meisten Fällen kam dann tatsächlich etwas Brauchbares heraus. So saßen sie fast eine halbe Stunde stumm nebeneinander, Kluftinger in das Papier vertieft, ab und zu unverständlich vor sich hin murmelnd, Strobl damit beschäftigt, mit einem Stöckchen Muster in den weichen Waldboden zu zeichnen.
»Au, verreck, jetzt hab ich’s!«, rief Kluftinger plötzlich, und Strobl fuhr so zusammen, dass der Kreis, den er gerade malte, eine Delle bekam.
»Was denn?«
»Ich weiß, wie sie’s gemacht haben. Gestern, mein ich. Also, nicht im Detail, aber grob.«
Strobl schien sich zu fragen, ob sein Chef halluzinierte.
»Nein, wirklich, Eugen, pass auf. Wenn das alles Schutzpatrone sind, und das wissen wir ja jetzt, dann haben wir da quasi eine Aufgabenbeschreibung vom Team des Schutzpatrons vor uns. Jetzt hör zu: Christophorus, das ist ja auch der Schutzheilige der Flößer. Ich mein, überleg mal: Wir haben uns zunächst gefragt, wo die hergekommen sind, es ist ja einleuchtend, dass sie die besondere Lage an der Iller genutzt haben und mit dem Boot gekommen sind. Von da aus konnten sie unbemerkt in die Wand steigen. Und von da aus in den Gang. Klar, der sieht ziemlich eng aus, aber wenn man einen sehr gelenkigen Menschen dabeihätte? Einen Akrobaten zum Beispiel. Und schon sind wir beim heiligen Georg, dem Patron der Artisten. Den haben sie vorgeschickt, und der hat die anderen dann reingelassen. Wie sie das drinnen genau gemacht haben, das werden wir schon noch rausfinden, ich mein, wir haben hier Namen von den Schutzpatronen der Elektriker und der Schlosser, das werden schon so ein paar Spezialisten sein. Die eigentliche Frage ist ja eher: Wie konnten die unbemerkt die hohle Wand im Klo hinkriegen? Und da bleibt für mich nur ein Schluss: Die haben einen eingeschleust bei den Bauarbeitern – und da haben wir den heiligen Wunibald.«
Je länger Kluftinger erzählte, desto interessierter hörte Strobl zu. Obwohl er wusste, dass sein Chef über einen messerscharfen Verstand verfügte, war er doch immer wieder überrascht, wozu der bisweilen in der Lage war. »Reschpekt«, sagte er schließlich.
Die nächsten Minuten hing jeder seinen Gedanken nach, bis plötzlich das Funkgerät des Polizeibeamten neben ihnen knackte und eine Stimme sagte: »Da kommt jemand.«
Vorsichtig hoben sie ihre Köpfe gerade so weit, dass sie über den Baumstamm blicken und die Hütte sehen konnten. Tatsächlich stiegen dort am Ende des Feldweges gerade zwei Männer aus einem grauen Opel. Sie blickten sich mehrmals um, bevor sie sich langsam auf die Hütte zubewegten. Es war ein ungleiches Paar: ein schmächtiger junger Mann und ein muskulöser Blondschopf. Jetzt kam alles auf die Kollegen an, er selbst konnte nun nichts mehr tun. Gespannt folgte er den beiden mit den Augen.
Genau in diesem Moment verlagerte hinter ihm ein Beamter sein Gewicht. Ein Ast zerbrach knackend. Die Männer stoppten und horchten in den Wald. Kluftinger hielt den Atem an. Etwa eine Minute lang rührte sich niemand mehr, dann setzten die beiden Männer ihren Weg fort. Lautlos stieß der Kommissar die Luft aus. Das war knapp gewesen. Dann hörte er, wie die beiden die Holztür des Schuppens aufzogen. Wieder war es ein paar Sekunden lang still, dann wurde die hintere Tür der Hütte aufgestoßen, und die beiden Männer kamen wieder heraus – im Würgegriff zweier in Schwarz gekleideter Beamter des Sondereinsatzkommandos. Kluftinger war beeindruckt, wie schnell und geräuschlos sie die Männer überwältigt hatten.
Das Spiel wiederholte sich insgesamt noch drei weitere Male, dann saß die gesamte Truppe des Schutzpatrons in Handschellen im Gefängniskombi, der außer Sichtweite am Waldrand geparkt war. Als Kluftinger den Wagen ächzend bestiegen hatte, blickte er einen nach dem anderen an. Eine seltsame Zusammenstellung der unterschiedlichsten Typen. Den Phantombildern ähnelte keiner, da hatte Strehl sie wohl verladen.
»Sie kenne ich«, sagte er zu einem von ihnen. »Sie waren damals auf dem Hof bei der Werkstatt. Ihre langen Koteletten hab ich nicht vergessen.«
Christophorus senkte den Blick.
»Und wir haben uns schon mal gesehen.« Kluftinger zeigte auf einen Grauhaarigen, der kurz aufsah und dann wieder zu Boden starrte. »Jetzt weiß ich’s!« Der Kommissar schlug sich gegen die Stirn. »Sie waren einer der Handwerker im Museum.« Er lächelte. »Würde mich nicht wundern, wenn Sie an den Fliesenarbeiten im Klo beteiligt gewesen sind.« Jetzt sahen auch die anderen auf. »Ja, meine Dame, meine Herren, wir sind im Bilde. Die Frage ist nur: Wo ist Ihr Anführer? Oder besser gesagt: Ihr angeblich doch so fürsorglicher und verlässlicher Schutzpatron?«
Sie schwiegen.
»Ich würde mir an Ihrer Stelle überlegen, ob Sie ihn decken wollen. Er würde vermutlich keine Sekunde zögern, jeden Einzelnen von Ihnen ans Messer zu liefern.«
»Würde er nicht!«, entfuhr es der Frau in schneidend scharfem Ton.
Der Kommissar blickte sie freundlich lächelnd an. »Es spielt ja eigentlich auch keine Rolle. Falls einer von Ihnen etwas zu sagen hat, dann bitte jetzt. Wenn wir ihn erst mal haben, wirkt es sich leider nicht mehr strafmildernd aus.« Wieder blickte er einen nach dem anderen an. »Niemand? Gut. Wie wäre es damit: Wo ist die Monstranz?«
»Wir haben sie nicht. Hatten sie auch nie«, sagte der Schmächtige bitter. Er wippte nervös mit dem Fuß.
»Was soll das heißen?«, rief Strobl irritiert von draußen in den Wagen.
»Dass wir sie nicht haben. Sie haben doch sicher den Servatius, also den Mann in der Hütte, gefunden, oder?«
Kluftinger nickte.
»Eben. Was glauben Sie, warum wir ihn als Verräter gebrandmarkt haben? Weil er uns übers Ohr gehauen hat, die Drecksau. Er hat das Ding ausgetauscht, verstehen Sie? Wir haben es nie gekriegt.«
Irritiert wandte sich Kluftinger zu Strobl um, der lediglich mit den Schultern zuckte. »Was soll denn das heißen? Wer hat sie denn dann?«
Die Gefangenen sahen sich unschlüssig an.
»Ist Ihnen mal die Idee gekommen«, fuhr Kluftinger fort, »dass Ihr Schutzpatron Sie reingelegt hat? Hm? Wäre das vielleicht eine Möglichkeit?«
Wieder war es die Frau, die ihn verteidigte: »Nein, das würde er nicht. Dann könnte er nie mehr in dieser Branche arbeiten.«
»Vielleicht hat er das nach dieser Sache ja auch nicht mehr nötig.«
Die Männer und die Frau rutschten unruhig auf der Bank hin und her. Langsam schien Kluftingers Verunsicherungstaktik aufzugehen. Deshalb beschloss er, noch eins draufzusetzen: »Wenn Sie schon einen Verräter in Ihren Reihen gehabt haben, wer garantiert Ihnen, dass es nicht noch mehr waren?«
Jetzt warfen sie sich gegenseitig misstrauische Blicke zu.
»Wann haben Sie denn die richtige Monstranz das letzte Mal gesehen?«
»Wir haben sie ja gar nicht gesehen«, platzte es aus der Frau heraus. »Es war die Aufgabe von Servatius, sie aus dem Tresor zu holen.«
»Aber er muss sie ja irgendwann ausgetauscht haben. Was hat er dann mit der echten gemacht? Und vor allem: Wo hatte er denn die Kopie her?«
Sie schwiegen, aber – so kam es dem Kommissar vor – mehr aus Betroffenheit darüber, dass sie sich diese Fragen selbst nicht beantworten konnten. Es hatte wohl erst einmal keinen Sinn, in diese Richtung weiterzubohren.
Also stellte Kluftinger die Frage, die ihn schon seit Tagen umtrieb: »Wer hat die alte, wehrlose Frau Zahn ermordet?«
Erst blieben alle wie versteinert sitzen, dann blickten sie einer nach dem anderen zu dem grobschlächtigen Mann am Ende der Pritsche. Kluftinger war zufrieden: Offenbar wollte sich keiner von ihnen auch noch mit einem Mord belasten. So wie es aussah, würde seine Arbeit in dieser Hinsicht recht einfach werden.
»Klufti, kommst du mal?« Strobl winkte dem Kommissar zu.
Er stieg ungelenk aus dem Wagen und sah den Kollegen neugierig an.
»Die Monstranz …«, begann Strobl, und sofort hatte er die ungeteilte Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten. »Sie ist quasi aufgetaucht.«
»Was heißt quasi?«
»Erinnerst du dich an den Chip?«
»Der, der doch nicht gefunkt hat?«
»Genau. Jetzt sendet er Signale.«
»Hör auf!«
»Doch. Die Experten vermuten, dass er in irgendetwas eingewickelt oder eingepackt war, was ihn abgeschirmt hat. Jetzt funkt er jedenfalls wieder.«
»Wo?«, war alles, was Kluftinger wissen wollte.
»Du wirst es kaum glauben: in Kempten. Und er bewegt sich.«
»Fahrt bitte direkt zur Nordbrücke in Kempten, da irgendwo muss das Ding sein – wir können aber nicht sagen, ob oben oder unten, eventuell sogar in der Iller! Wir bekommen komische Signale: Das Ziel hält andauernd an und bewegt sich dann wieder weiter. Wenn ihr dort seid, gebt Bescheid, over!«
Kluftinger und Strobl saßen in dem kleinen rosa Auto und rasten hinter einem Streifenwagen her in Richtung Stadt. Ein mobiles Blaulicht hatte er nicht im Wagen, also hupte der Kommissar einfach, wenn Gefahr drohte, was zahlreiche Autofahrer mit Kopfschütteln und obszönen Gesten quittierten.
In zwei Minuten wären sie an dem Ort, den ihnen Maier, der im Polizeihubschrauber mitflog, gerade durchgegeben hatte – dann würde die Suche nach der Monstranz endlich konkreter weitergehen und hoffentlich zu einem Ergebnis führen.
»Himmelarsch, diese Drecksampel!«, entfuhr es Kluftinger. Sie waren nur noch zwei Kreuzungen von der Illerbrücke entfernt, konnten den Polizeihubschrauber über der zweispurigen Ringstraße kreisen sehen, als ein neuer Funkspruch aus Strobls mobilem Funkgerät schepperte.
Der Chip – und damit die Monstranz – bewege sich jetzt auf dem Ring weiter, in Richtung Berliner Platz, einer nahe gelegenen großen Kreuzung im Osten der Stadt. Als die Ampel auf Grün schaltete, hieß es über Funk, der Chip sei stehen geblieben.
»Wenn das Ding in einem Auto liegt, müssen die doch sagen können, wo es genau ist!«, wetterte Kluftinger. »Frag mal nach, Eugen.«
Maier zitierte einen neben ihm sitzenden Experten mit den Worten, die Ortung des schwach funkenden Chips vom Hubschrauber aus sei zu schwierig, um genauere Angaben machen zu können, zudem sei es bei den vielen Autos, die auf dem Ring unterwegs waren, unmöglich, das richtige auszumachen. »Jetzt fahren sie wieder in Richtung Gewerbegebiet«, gab Maier durch.
An der großen Kreuzung schaltete die Ampel erneut direkt vor Kluftinger auf Rot. Der Streifenwagen war bereits über der Kreuzung, der Kommissar trat energisch aufs Gas und erschrak kurz darauf heftig über die roten Blitze der Kameras. Priml. Noch war das Auto nicht einmal auf ihn zugelassen, und schon stand ihm eine bürokratische Odyssee bevor, damit die Strafe zurückgenommen wurde. Er zog den Wagen um die Kurve, wobei er fast das Gefühl hatte, als habe ein Rad für einen Moment die Bodenhaftung verloren. Strobl griff nach dem Haltegriff – ins Leere, denn es gab keinen. Der kleine Motor heulte beängstigend auf.
»Heli an Smart?«, tönte es auf einmal aus dem schwarzen Funkgerät.
»Smart?«, antwortete Strobl und verdrehte die Augen.
»Im Moment steht das Objekt, wir vermuten es auf dem Parkplatz beim Einkaufszentrum!«
Kluftinger sah Strobl stirnrunzelnd an. Der Dieb schien sich seiner Sache ja ziemlich sicher zu sein, wenn er jetzt erst mal gemütlich shoppen ging.
»Verstanden. Wir kommen.«
Zwei Minuten später bog Kluftinger mit quietschenden Reifen auf den Parkplatz ein. Der Streifenwagen hatte die Sirene ausgeschaltet.
»Smart an Heli«, funkte Strobl daraufhin grinsend nach oben.
»Heli.«
»Was jetzt?«
»Warten. Im Moment keine Bewegung. Irgendwo hier muss das Scheißding sein. Bleibt, wo ihr seid, wir melden uns bei Bewegung und versuchen inzwischen, weiter einzugrenzen.«
Der Kommissar fuhr über den Parkplatz und bog auf eine kleine Straße, die zum Lager des Einkaufszentrums führte. Dort herrschte reges Treiben, einige Lkws wurden beladen, die Müllcontainer geleert. Kluftinger stellte den Motor ab. Von hier aus konnte er den ganzen Parkplatz überblicken. Kaum ein Platz war frei, ausgerechnet ein Samstag hatte es sein müssen. Immerhin, sie wussten, dass sich hier irgendwo die Monstranz befand – nur wo genau, das war im Moment schwer auszumachen. Immer wieder fuhren Fahrzeuge auf den Parkplatz, andere verließen ihn. Erleichtert sah Kluftinger, dass jetzt zwei weitere Polizeiwagen heranrasten.
»Heli an Smart! Zielobjekt bewegt sich wieder! Muss direkt vor euch sein!«
Der Kommissar kniff die Augen zusammen. Direkt vor ihm setzte sich gerade der Müllwagen in Bewegung. Der Müllwagen? Das konnte nicht sein. Andererseits: Das würde auch die ständigen Zwischenhalte erklären. Aber warum zum Teufel ein Müllwagen? Es war wohl nicht anzunehmen, dass die Diebe die Monstranz weggeworfen hatten. Er riss seinem Kollegen das Funkgerät aus der Hand. »Hier Kluftinger für Heli. Kommt euch von dem, was sich bewegt, irgendwas bekannt vor?«
»Wie meinen Sie?«
»Ich meine, war der Müllwagen auch schon auf dem Ring unterwegs?«
»Moment, Objekt bewegt sich nach Norden, Richtung Industriegebiet. Schwer zu sagen, welches von den Fahrzeugen …«
Nach Norden! Da war doch kaum noch etwas, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Ein paar kleine Firmen, dann kam schon die Müllverbrennung. »Kruzifix, Scheiße, doch das Müllauto!«, entfuhr es ihm. Er startete den Wagen. »Das Müllauto! Eugen, sag durch, dass alle dem Müllauto in Richtung Verbrennungsanlage folgen. Wir müssen uns beeilen, stell dir vor, der lädt ab!«
Strobl tat, wie ihm geheißen war, und tatsächlich bestätigte die Besatzung des Hubschraubers die Vermutung des Kommissars: Die Signale des Funkchips bewegten sich nun in Richtung Heizkraftwerk.
»Was soll denn das?«, fragte der Kommissar mehr sich selbst als seinen Nebenmann. Der schüttelte nur den Kopf.
Kurz nach den Polizeiwagen kam der rosafarbene Smart am Tor der Anlage an, das sich gerade wieder schloss. Kluftinger ließ die Seitenscheibe herunter und winkte dem erschrocken dreinblickenden Mann an der Pforte. »Polizei! Das Müllauto, das grad durch ist?«, fragte er hektisch.
»Lädt am Bunker ab!«
»Sofort stoppen!«, brüllte er, dann gaben sie wieder Gas.
Sie sahen gerade noch, wie der Wagen rückwärts an eine Rampe fuhr, dann hatten sie ihn erreicht. Sie sprangen aus ihren Autos und rannten auf das Führerhaus zu.
Der Fahrer schien wenig erfreut über die Störung bei seiner Arbeit und bekam große Augen, als der Kommissar ihm erklärte, er solle seine Ladung auf dem geteerten Platz vor dem Kraftwerk abladen. »Wie, abladen?«, rief der ihm vom Führerhaus zu. »Ich glaub, ihr spinnt.«
Kluftinger, von der nervenaufreibenden Fahrt noch in Rage, begann zu brüllen: »Abladen! Und zwar hier auf dem Platz! Aber dalli!«
»Ich mach hier gar nix, bis mir das mein Chef anschafft, ja?«, maulte der Mann zurück.
»Im Moment sind wir deine Chefs, klar? Und wenn du in Zukunft nicht ganz ohne Chef dastehen willst, dann behinderst du jetzt besser nicht unsere polizeiliche Arbeit, kapiert?«
Diese Drohung schien Wirkung zu zeigen, denn der Mann hob abwehrend die Hände. »Schon gut, schon gut! Aber deine Leute helfen mir, das Zeug wieder einzuladen, ich verlass mich drauf!«
Dann startete er den Motor, und allmählich hob sich der riesige Müllbehälter an. Der Laster fuhr einige Meter nach vorn, und der Müll fiel dahinter auf den Boden.
Kluftinger zog sein Stofftaschentuch heraus und stapfte auf den Abfallberg zu. Die Kollegen hatten ihm Gummihandschuhe gegeben, und der Lastwagenfahrer hatte ihm obendrein seine Gummistiefel angeboten, die er jedoch dankend ablehnte. Er hatte lediglich seine Anzughose hochgekrempelt, das musste reichen. Auf den ersten Blick war nichts von der Monstranz zu erkennen. In einer Schachtel vielleicht?
Kluftinger stieg ein beißender Geruch in die Nase. Ihn grauste, aber hier gab es keine Alternative. Mit dem Fuß drehte er einige Kartons um – vergeblich. Die anderen liefen neben ihm her und stocherten immer wieder willkürlich in den Tüten herum.
»Habt ihr sie schon?« Sie hoben die Köpfe: Maier kam über den Platz auf sie zugerannt. Der Hubschrauber war in der Nähe gelandet und hatte ihn abgesetzt.
Kluftinger schüttelte den Kopf.
Da nahm Maier den Kasten, mit dem er vom Hubschrauber aus den Chip geortet hatte. »Damit sollte es gehen«, sagte er.
Dann lief er damit um den Müllberg herum, wobei er darauf achtete, nicht mit den Abfällen in Berührung zu kommen.
»Wenn du mich fragst, ist der Ausschlag hier am größten!«, rief er auf einmal.
»Wo?«, fragte Kluftinger.
»Da!«
»Herrgott, Richie, jetzt komm halt her!«
»Nein, nein, das braucht’s nicht, zwei Schritte weiter links, da musst du schauen.«
Kluftinger konnte außer vollgestopften Müllbeuteln nichts entdecken. Die Monstranz war nicht hier, so viel stand fest. Er hätte sie sehen müssen.
»Kreuzkruzifix, wisst ihr, was das bedeutet?«, schimpfte Kluftinger.
»Warte«, rief Maier. »Jetzt stehst du genau davor. Bück dich mal!«
Der Kommissar ging in die Knie, schob eine Kukident-Schachtel zur Seite – und blickte auf den Chip. Er hob ihn auf und zeigte ihn den anderen.
»Scheiße«, keuchte Strobl.
Der Dieb hatte sie also einmal mehr an der Nase herumgeführt: Er wusste von dem Sender, hatte ihn aber nicht einfach zerstört, nein, er musste ihn abgeschirmt haben, bis er eine günstige Gelegenheit hatte, ihn loszuwerden – und sie hinter dem Müllwagen herzuschicken. Von der Monstranz hatte er ihn freilich längst entfernt. Wieder hatten sie wertvolle Zeit verloren.
»Sag mal, Richie, wo hat das Ding eigentlich zuerst gesendet?«, fragte Kluftinger, auch wenn er wenig Hoffnung hatte, damit irgendwie weiterzukommen. Resigniert sah er zu Boden. Langsam wurde ihm übel inmitten all dieser Windeln, Infusionsflaschen und Nierenschalen. Klinikmüll, priml. Wahrscheinlich würde er jetzt auch noch krank werden. Als er herunterstieg, fiel sein Blick wieder auf die Packung Zahnprothesenreiniger.
»Adenauerring!«, riss ihn Maier aus seinen Gedanken.
»Hm?«
»Es war in der Gegend um den Adenauerring, wo wir zum ersten Mal das Signal bekommen haben.«
»Ja? Ich hätt schwören können, das Zeug hier stammt aus dem Krankenhaus! Aber da ist ja eigentlich keins, sondern nur …« Auf einmal riss der Kommissar die Augen auf. »Kreuzkruzifix!«, zischte er und warf die Handschuhe weg, dann lief er zum Fahrer des Müllautos, der ein wenig abseits an ein Mäuerchen gelehnt stand und die Szene rauchend betrachtete.
»Waren Sie im Altersheim, ich meine, haben Sie im Altersheim eingeladen, am Adenauerring?«
Der Mann nickte.
Kluftinger machte auf dem Absatz kehrt und rannte zu seinem Auto.
»Wohin fahren wir?«, wollte Strobl wissen, der ihm hinterhergelaufen kam.
Der Kommissar hob die Hand. »Ich fahr allein, Eugen. Ich muss da was überprüfen. Bleib bitte da, die sollen Leute schicken, die das hier noch mal alles durchsuchen. Nicht, dass da doch was Wertvolles drin ist – die Ringe oder so. Bis nachher!«
Ohne weitere Erklärungen ließ er den Kollegen stehen und startete den Smart.
Atemlos hetzte Kluftinger die Korridore entlang, flog die Stufen bis in den dritten Stock hinauf, achtete nicht auf die fragenden Gesichter der Menschen, die stehen blieben und ihm nachsahen, ignorierte die Rufe des Personals, er solle gefälligst aufpassen, bog um die letzte Ecke, wo er gerade noch der Kollision mit einem Rollstuhlfahrer ausweichen konnte, und stand schließlich vor der Tür mit dem Katzenposter.
Etwa eine Minute stand er nach Luft schnappend da, dann hatte er sich wieder einigermaßen im Griff. Er drückte die Klinke und trat ein. Das Zimmer war natürlich dasselbe wie noch vor zwei Wochen, doch es kam ihm anders vor. Zu viel war seit seinem ersten Besuch hier passiert. Und es sah auch ein wenig anders aus. Zwar saß in dem einen Sessel wieder der alte Mann und schlief, aber auf dem Tisch stand diesmal ein Koffer, der bereits halb gepackt war. Von dort aus starrte ihn ein überraschter Heinz Rösler wortlos an.
»Herr Rösler, Sie sind auf dem Sprung, wie ich sehe«, presste Kluftinger keuchend hervor.
Der alte Mann räusperte sich. »Sie auch, scheint es, Herr Kommissar.«
»Ja, ich hatte es ziemlich eilig, zu Ihnen zu kommen.«
»Das sehe ich. Hätten Sie noch irgendwas von mir gebraucht?«
»Allerdings.«
»Es tut mir leid, Herr Kommissar. Ich war wohl keine große Hilfe für Sie.«
»Nein, das kann man wirklich nicht behaupten.« Kluftinger verzog die Mundwinkel zu einem bitteren Lächeln.
»Wie Sie sehen, pressiert es ein bisschen. Ich verreise zu meinem … Neffen. Wenn Sie also noch eine Frage haben, dann stellen Sie sie doch bitte gleich.«
»Ja, ich habe noch eine Frage. Ganz einfach und ganz kurz: Würden Sie bitte die Monstranz herausgeben?«
Röslers Gesicht verlor seinen freundlichen Ausdruck. Mit versteinerter Miene blickte er Kluftinger an. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er leise.
Kluftingers Kiefermuskeln begannen zu arbeiten. Er war schweißgebadet, sein Puls raste. Der Alte wollte ihn offenbar immer noch für dumm verkaufen. Er hatte ihm vertraut, doch Rösler hatte ihm das auf ganz spezielle Art gedankt. »Hören Sie jetzt endlich auf mit dem Schmarrn! Ist Ihnen nicht klar, dass der Schutzpatron auch weiß, wo er Sie findet? Der wird nicht so verständnisvoll wie ich sein. Es reicht, meine Geduld ist am Ende, was Sie betrifft. Ich lass mich nicht gern verarschen.«
Jetzt lächelte sein Gegenüber wieder. »Was soll das, Herr Kluftinger? Meinen Sie etwa, ich hätte Sie reingelegt? Wie hätte ich das machen sollen? Meinen Sie, ich war es, der nachts da eingestiegen ist, die ganzen Sicherheitseinrichtungen überwunden hat und sich dann wieder aus dem Staub gemacht hat? Schauen Sie mich doch an.« Er zeigte auf seinen Stock.
»Nein, das ist mir schon klar, dass es nicht so abgelaufen ist. Sie hatten einen Mitstreiter, doch der ist nicht weit gekommen. Wir haben ihn gefunden. Aufs Übelste zugerichtet. Die anderen haben sich um ihn gekümmert. Verräter sind nicht sehr beliebt in der Verbrecherwelt, wie es scheint.«
Er hielt inne und sah Rösler prüfend an, doch der verzog keine Miene. »Wie Sie’s gemacht haben, weiß ich noch nicht genau, aber dass Sie es waren, da bin ich mir sicher. Das mit dem Müllwagen war ein nettes Ablenkungsmanöver, aber als mir klar wurde, dass er hier vorhin die Tonnen geleert hat, ist mir ein Licht aufgegangen.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«
»Himmelherrgott, jetzt behandeln Sie mich nicht wie einen Deppen!«, entfuhr es dem Kommissar.
Ein paar Sekunden taxierten Sie einander, dann sagte Rösler: »Wissen Sie was? Es gibt ja wohl nur diese eine Möglichkeit, Sie zu überzeugen: Durchsuchen Sie mein Zimmer, Sie brauchen nicht mal einen richterlichen Beschluss. Ich erlaub’s Ihnen. Schauen Sie nach, wo Sie wollen. Ich gehe mir inzwischen einen Tee holen.«
Mit diesen Worten nahm er sich eine schmutzige Tasse vom Tisch, stellte sie auf sein Gehwägelchen und schlurfte damit auf die Tür zu.
In diesem Moment fiel bei Kluftinger der Groschen. Auf einmal sah er vor seinem geistigen Auge, wie der Coup abgelaufen sein musste, angefangen am Tag vor der Eröffnung bis zu der verhängnisvollen Enthüllung der Monstranz. Er stand ein paar Sekunden wie erstarrt da, während die Bilder auf ihn einströmten, doch das Geräusch der Zimmertür, die Rösler gerade öffnete, brachte ihn wieder zurück ins Hier und Jetzt.
»Herr Rösler, warten Sie doch noch einen Moment«, sagte er.
Der Alte blieb stehen, wandte sich jedoch nicht um.
»Sie scheinen mir heut gar nicht so schlecht beieinander. Wollen Sie nicht lieber nur Ihren Stock nehmen?«
Langsam drehte Rösler sich um. Aus seinem Gesicht war jegliche Farbe gewichen. »Touché«, war alles, was er herausbrachte. Er schloss die Tür wieder und kam zurück ins Zimmer.
»Ich darf doch?«, sagte Kluftinger, drängte ihn vom Rollator weg, bückte sich und öffnete die Klappe der kleinen Kiste, die an der Gehhilfe befestigt war. Als er hineinblickte und die Monstranz darin funkeln sah, spürte er zu seiner eigenen Überraschung kein Triumphgefühl. Stattdessen breitete sich eine lähmende Erschöpfung in ihm aus, wie er sie lange nicht gespürt hatte.
Rösler ließ sich in seinen Sessel sinken. Mit zitternder Hand wies er auf das Waschbecken: »Würden Sie mir ein Glas Wasser bringen?«, bat er mit brüchiger Stimme. Kluftinger tat ihm den Gefallen. Rösler wirkte schwach. Er trank das Glas in langen Schlucken leer. Dann stellte er es sorgfältig vor sich auf den Tisch, faltete die Hände in seinem Schoß, blickte zu Kluftinger und sagte: »In Ihnen habe ich wohl meinen Meister gefunden. Ist Ihnen klar, dass man mich noch nie auf frischer Tat erwischt hat? Mir nie nachweisen konnte, wie ich einen Bruch begangen habe? Wenn ich überführt worden bin, dann erst, wenn es ums Losschlagen der Beute ging.«
»Soll ich darauf jetzt stolz sein oder was?«
Rösler wirkte abwesend. »Wie sind Sie draufgekommen?«
»Dass noch jemand anderes im Spiel war, war klar, nachdem wir Ihren … Komplizen gefunden hatten. Sie haben ihn gekauft, damit er den Schutzpatron hintergeht, oder? Er wird übrigens durchkommen.«
Rösler nickte erleichtert.
»Und als ich da stand, inmitten dieses stinkenden Müllbergs, da war mir plötzlich klar, dass nur Sie es gewesen sein konnten. Wieder einmal. Ich wusste nur nicht, wie. Bis Sie mit Ihrem Wägelchen hier rausmarschieren wollten. Genauso unschuldig, wie Sie vorhin, in all dem Aufruhr und all der Hektik, unbehelligt das Museum verlassen haben. Respekt, Herr Rösler, Sie haben die anderen die Arbeit machen lassen und selbst die Früchte geerntet. Haben Sie selbst die Replik aus meinem Auto geklaut?«
Wieder nickte der alte Mann.
»Dachte ich mir. So ein Smart ist für jemanden wie Sie wohl kein ernst zu nehmendes Hindernis, oder?«
Rösler schüttelte den Kopf. »Die Heckklappe war nicht abgesperrt.«
Kluftinger lief rot an. »Der Rest ist ziemlich genial, das muss ich sagen. Der Schwächeanfall, der dafür gesorgt hat, dass Sie abtransportiert wurden, Ihr Rollator samt der falschen Monstranz aber im Museum zurückblieb. Die Ihr Komplize dann gegen die echte ausgetauscht hat. Und Sie mussten Ihre Gehhilfe nur nehmen und rausschieben. Wahrscheinlich hat Ihnen noch jemand die Tür aufgehalten. Wer achtet schon darauf, ob ein gebrechlicher Mann mit einem Stock oder einem Gehwägelchen unterwegs ist? Hut ab, wirklich. Und wie haben Sie das mit dem Sender gemacht? Ich meine: Warum hat er keine Signale gegeben?«
»Bleiverkleidung«, sagte Rösler lediglich.
Kluftinger sah sich nach einer Sitzgelegenheit um und ließ sich dann auf einem der beiden Betten nieder. Lange saßen sie so da und schwiegen. Nur das Gurgeln von Röslers schlafendem Zimmergenossen war zu hören.
Dann stellte Kluftinger die Frage, die ihn umtrieb, seitdem er sich in der Müllverbrennungsanlage ins Auto gesetzt hatte. »Hab ich Sie eigentlich erst drauf gebracht?«
Sein Gegenüber sah ihn lange an, dann erwiderte er: »Was würden Sie denn gerne als Antwort hören?«
Kluftinger lächelte. Rösler hatte recht. Was wollte er hören? Änderte die Antwort denn etwas? Er stellte eine andere Frage: »Warum, Herr Rösler? Was bringt Ihnen die ganze Sache denn? Ich meine, Sie sind doch schwer krank, Sie haben …« Er stockte.
»… nicht mehr lange, sprechen Sie es ruhig aus. Ich weiß das und mache mir selber nichts vor. Da haben Sie schon einen der Gründe. Wissen Sie, man kommt ins Nachdenken, wenn man so kurz vor dem Ende steht. Alles erscheint plötzlich in einem anderen Licht. Vorher war ich mit mir im Reinen – dachte ich jedenfalls. Und dann diese Krankheit. Ich hab mir auf einmal vor Augen gehalten, was ich anderen Menschen alles angetan habe. Den Opfern meiner Verbrechen. Sicher, ich habe nie jemanden umgebracht oder ernsthaft verletzt. Jedenfalls körperlich. Aber was ist mit den seelischen Wunden? Sitzen die nicht viel tiefer? Wie lange haben die Leute kein Auge mehr zugetan, weil sie dachten, der Einbrecher würde wieder in der Nacht unbemerkt in ihrem Haus herumschleichen, würde ihnen diesmal aber vielleicht an die Kehle gehen? Haben bei jedem Knacken gedacht, jemand stehe hinter ihrer Tür? Ich hab vielen große Angst eingejagt. Solche Gedanken sind mir durch den Kopf gegangen. Und da habe ich gedacht, ich müsste etwas gutmachen. Indirekt habe ich das Unglück mit der alten Frau neulich ja mitverschuldet.«
»Soll das heißen, dass Sie früher …«
»Ja, ich war einst der Schutzpatron. Dass ich diesen Namen an einen so nichtswürdigen Nachfolger weitergereicht habe, tut mir leid. Wissen Sie, er hat nichts verstanden, der Albert.«
Kluftinger hob die Brauen.
»Ja, so heißt er. Albert Mang. Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Dieser Name? Aber er wird Ihnen wenig nutzen, den hat er schon lange abgelegt. Schon lange vor dem Mord an der Alten. Wissen Sie, das hätte es bei mir nie gegeben. Ich bin wütend geworden. Ich wollte ihm zeigen, dass man besser fährt, wenn man präzise arbeitet und seinen Verstand benutzt, als sich die Finger schmutzig zu machen! Er hat sich über all das erhoben, was ich ihm eingebläut hatte! Eine Lektion sollte er noch bekommen. Und dann, wie gesagt, mein schlechtes Gewissen. Ich hab gedacht, vielleicht könnte ich noch was gutmachen. Wenn ich das Geld spenden würde. An eine Organisation für Verbrechensopfer hier im Allgäu.«
Der Kommissar sah ihn mit gerunzelter Stirn an.
»Ja, ja, ich weiß, das ändert aus Ihrer Sicht vielleicht nichts. Aber für mich hat es sehr wohl eine Bedeutung. Da ich nur über diese speziellen Fähigkeiten verfüge, musste ich mir die Mittel dafür eben auf diese Weise beschaffen. Ich habe keine Ersparnisse. Und ja: Natürlich hat es mich auch noch einmal in den Fingern gejuckt. Aber ich wollte dieses eine Mal, ausgerechnet dieses verdammte letzte Mal, bei dem Sie mich erwischt haben, einfach nur Gutes tun, ehrlich.«
Kluftinger war sich nicht sicher, was er dem Mann noch glauben konnte. Aber spielte das überhaupt eine Rolle? Er würde in Kürze sterben, so viel stand fest, das hatte ihm neulich schon eine Schwester bestätigt.
»Können Sie uns helfen, den Schutzpatron zu kriegen?«
Rösler rieb sich über die Augen. »Ich weiß nicht, Herr Kluftinger. Er wird mir wohl kaum mehr vertrauen. Nach dieser Sache …«
Kluftinger seufzte. Wieder saßen sie eine Weile schweigend da, dann fragte Rösler: »Und jetzt?«
Genau das fragte sich auch Kluftinger. Was sollte er machen? Sicher, das Gesetz gab seinem Handeln hier eine eindeutige Richtschnur vor, an die er sich halten müsste. Aber würde er damit das Richtige tun?
Er zweifelte daran. Zum ersten Mal, seit er Polizist war, schienen ihm die Buchstaben des Gesetzes nicht die richtige Lösung für einen Fall.
Der Mann war todkrank. Und was, wenn wirklich er ihn erst auf die Idee gebracht hätte? Wenn er seine Vorbereitung aufs Sterben mit dieser Idee einer Kooperation durcheinandergebracht hatte? Und was in seinen Augen noch weitaus mehr wog: Was, wenn Rösler seine Finger nicht im Spiel gehabt hätte? Dann wäre die Monstranz mit dem Schutzpatron über alle Berge, so viel war klar. Verloren, vielleicht für immer. Ob er Rösler die Sache mit dem guten Zweck nun abnahm oder nicht: Durch ihn war, wenn auch aus Versehen, das Schmuckstück in Sicherheit. War das nicht Sinn und Zweck der ganzen Aktion gewesen? Selbst den Mord hatte er geklärt oder stand zumindest kurz davor.
Er seufzte, während all diese Gedanken auf ihn einprasselten. Ein solches moralisches Dilemma hatte er noch nie auszufechten gehabt. Doch er musste eine Entscheidung treffen, und zwar schnell. Auf einmal war er der Richter, nicht nur der Jäger.
»Geht es Ihnen nicht gut?« Nun war es Rösler, der mit einem Glas Wasser vor dem Kommissar stand. Er hielt ihm das Getränk hin. Offenbar sah man Kluftinger die inneren Kämpfe an, die er gerade ausfocht. Doch als er den alten Mann so vor sich sah, die zittrige Hand helfend ausgestreckt, da fällte Kluftinger seine Entscheidung.
»Herr Rösler«, begann er zögerlich, »was ich Ihnen jetzt sage, wird mir vielleicht schon sehr bald wieder leidtun, also unterbrechen Sie mich besser nicht. Ich werde jetzt die Monstranz nehmen und sie dorthin zurückbringen, wo sie hingehört. Sie dagegen … können machen, was Sie wollen. Niemand wird von mir erfahren, wie die Sache gelaufen ist. Führen Sie Ihr Leben weiter, solange Sie es noch können. Und fangen Sie etwas Sinnvolles mit der wenigen Zeit an, die Ihnen noch bleibt. Schlagen Sie sich die Sache mit der Spende aus dem Kopf: Man kann nicht Gutes tun mit Geld, das man anderen geraubt hat. So etwas gibt es nur im Märchen! Es wird immer ein Verbrechen am Anfang stehen. Und das macht das Gute zunichte.«
Die Augen des Mannes bekamen einen wässrigen Glanz. »Danke«, hauchte er.
»Ich habe allerdings zwei Bedingungen«, schränkte Kluftinger ein.
Röslers Blick verfinsterte sich wieder. »Und die wären?«
»Nummer eins: In Ihren Memoiren wird nichts anderes stehen, als dass Sie uns durch Ihr Insiderwissen bei der Lösung des Falles geholfen haben.«
»Selbstverständlich. Und die zweite Bedingung?«
Kluftinger lächelte. »Sie müssen mir verraten, wie Sie die Monstranz damals zum ersten Mal gestohlen haben.«
Rösler nickte. Er wirkte erleichtert. Er setzte sich neben dem Kommissar aufs Bett, legte seine Hände in den Schoß und sagte: »Also gut, es ist etwas kompliziert, hören Sie genau zu …«
Auf dem Weg vom Altusrieder Museum, wohin er die Monstranz unter großem Hallo zurückgebracht hatte, nach Kempten wirbelten unzählige Gedanken durch Kluftingers Kopf. Es würde noch lange brauchen, bis er mit diesem Fall abgeschlossen hatte. Nicht nur, weil die gesamte Büroarbeit noch vor ihm lag, sondern vor allem, weil diesmal einfach zu viele Fragen offengeblieben waren.
Er hatte zwar einiges erreicht: Der Mörder von Frau Zahn saß in Gewahrsam, und die Monstranz war da, wo sie hingehörte. Doch hatten ihm die Kollegen die Geschichte wirklich abgekauft, die er ihnen gerade erzählt hatte? Waren da nicht Zweifel in ihren Augen gewesen, als er ihnen erklärt hatte, dass Rösler ihn kontaktiert und ihm das Stück übergeben hatte, dass er es nur »in Sicherheit« gebracht hatte vor den Dieben? Aber Kluftinger war im Grunde nach wie vor sicher, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Eigentlich konnte er auch zufrieden sein, dass sie die Bande gefasst hatten, die den Raub geplant und durchgeführt hatte. Damit hatte er dem Verbrechen im Allgäu mit Sicherheit einen empfindlichen Schlag versetzt. Allerdings wurmte ihn, dass sie den Kopf der Gruppe, den mysteriösen Schutzpatron, nicht hatten dingfest machen können. Kluftinger hatte das ungute Gefühl, dass sich ihre Wege nicht das letzte Mal gekreuzt hatten.
Über all dies grübelte er noch nach, als er wieder einmal einen Parkplatz vor dem Polizeigebäude suchte. Sein neuer Geheimplatz war zugeparkt mit Einsatzwagen, dazu stand auch noch der Gefängniskombi mitten im Weg. Obendrein lag ihm noch die Notlüge im Magen, die er seiner Familie wegen des Wagens aufgetischt hatte. Gerade noch war ihm Erika um den Hals gefallen, als er mit der Monstranz, dem verloren geglaubten Schmuckstück, am Museum angekommen war, Markus hatte ihm stolz auf die Schulter geklopft, und sogar Yumiko hatte ihn in den Arm genommen.
»Kruzifix noch mal!« Er machte seinem ganzen Frust mit einem lautstark ausgestoßenen Fluch Luft. Darin lag auch der Ärger über die erneut erfolglose Parkplatzsuche. Er setzte zurück und beschloss, heute wieder auf ein Notfallangebot zurückzugreifen, das ihm Frau Uschi vom Nachbarhaus einmal gemacht hatte, nämlich, dass er durchaus auch einmal die Kundenparkplätze im Hof ihres Etablissements benutzen …
Kluftinger stieg so heftig auf die Bremse, dass die kleinen Reifen quietschten. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er durch die Windschutzscheibe, nicht in der Lage, auch nur einen Finger zu rühren. Mehrere Minuten saß er einfach so da, unfähig zu begreifen, was er sah. Himmelherrgott, das konnte nicht sein! Es war einfach nicht möglich: Auf dem äußersten Parkplatz des Hofes, hinter dem Haus, stand sein Auto. Sein geliebter grauer Passat, sauber eingeparkt und völlig intakt. Als hätte er ihn gerade erst dort abgestellt.
Kluftingers Mund war trocken. Sein Herz pochte bis zum Hals, als er aus dem Smart ausstieg und auf den Passat zuschritt. Seine Augen wurden ein wenig feucht, die Lippen begannen zu zittern. Er hatte ihn wieder! Das Glücksgefühl übertraf jenes beim Auffinden der Monstranz bei Weitem. Doch dann setzte die Erkenntnis mit der Wucht eines Schlags in die Magengrube ein. Seine Wangen begannen zu leuchten, und er schlug sich so heftig mit der Hand gegen die Stirn, dass ein roter Fleck zurückblieb. Er musste sich an der Hauswand abstützen, weil er weiche Knie bekam. Natürlich! Er erinnerte sich wieder. Dienstagmorgen vor zwei Wochen. Eigentlich war er damals in der gleichen Lage gewesen wie heute – er hatte es eilig gehabt, keinen Parkplatz gefunden und beschlossen, ausnahmsweise hier, hinter dem Haus … Und dann waren all diese Ereignisse über ihn hereingebrochen und hatten ihm regelrecht die Sinne vernebelt!
Ein »Hallo, Kommissar!« ließ ihn zusammenzucken. Oben im Haus 69 war ein Fenster aufgegangen, aus dem sich Uschi im rosa Bademantel herausbeugte.
»Ich wollt ja schon lang mal fragen, wie lange Ihr Wägelchen hier noch parkt. Aber Sie haben ja nie Zeit gehabt. Nicht, dass Sie mich jetzt falsch verstehen: Es ist kein Problem, wenn Sie da mal einen Tag stehen, das hab ich Ihnen ja gesagt, aber gleich über zwei Wochen? Ich meine, nicht, dass man noch denkt, Sie hätten ein Dauerabo bei uns!« Die vollbusige Blondine lachte kehlig auf.
Kluftinger räusperte sich. »Nein, nein, Fräulein Uschi. Ich … äh, danke. Wirklich – tut mir leid, aber ich konnte aus … aus ermittlungstechnischen Gründen nicht mein Auto nehmen, und dann … ich …«
»Schon gut – jederzeit gern. Wenn Sie keine Probleme kriegen deswegen.«
»Ja. Nein, ich mein, nein. Ich … genau. Also, vielen Dank noch mal, Fräulein Uschi!«
Unschlüssig blickte er nun zwischen seinen beiden Autos hin und her. Jetzt musste er wählen. Mit welchem sollte er heute Abend nach Hause fahren? Welches stehen lassen? Schließlich fällte er die letzte Entscheidung des heutigen Tages: Er würde den Passat nehmen. Zum einen, weil sein Fahrrad noch immer in der Pförtnerkabine stand, zum anderen aus sentimentalen Gründen: Er freute sich jetzt schon auf das vertraute Fahrgefühl, das gequälte Jaulen des Anlassers und das Nageln des alten Diesels.
»Sagen Sie, Frau Uschi, dürft ich meinen … Zweitwagen ausnahmsweise bis morgen hier noch parken?«
»Diese halbe Portion da? Na klar, Kommissar! Der passt farblich eh viel besser hierher! Aber denken Sie daran: Wir haben beide einen Ruf zu verlieren!« Sie zwinkerte ihm mit einem Auge zu.
»Ich hol ihn morgen, ganz bestimmt«, versprach Kluftinger, auch wenn er noch keine Ahnung hatte, was er mit dem kleinen Auto anstellen und wie er das seiner Familie erklären sollte. Doch darüber wollte er heute nicht mehr nachdenken.