Samstag, 25. September
»Erika, kannst du mir jetzt endlich diese Scheißkrawatte binden? Ich krieg das einfach nicht hin heut früh!« Kluftinger stand in der Küche, biss in eine Marmeladensemmel und lief dann ins Bad. Was für ein Morgen! Er hatte kaum geschlafen, immer wieder hatten ihn düstere Gedanken an das, was heute alles passieren könnte, heimgesucht. Erst in den Morgenstunden war er in einen unruhigen Schlummer gesunken, den das Schrillen des Weckers jäh beendet hatte. Auch der Blick aus dem Fenster auf einen wolkenlosen Himmel besserte seine angespannte Stimmung nicht.
»Butzele, jetzt sei halt nicht so nervös«, sagte Erika lächelnd, legte ihre Haarbürste aus der Hand und nahm die losen Enden von Kluftingers Krawatte in ihre Hände.
»Was heißt da nervös? Immer ist ein Ende von dem Drecksding zu lang. Ich lass sie vielleicht einfach weg.«
»Kommt ja gar nicht infrage«, protestierte Erika. »Heut sind so viele wichtige Leut da. Und wenn du mal kurz stehen bleibst, dann hab ich den Knoten auch gleich.«
Trotz ihrer Ermahnung zappelte der Kommissar unruhig hin und her. »Ich weiß auch nicht. Ich glaub, wir hätten das doch alles absagen sollen. Und ich find’s nicht gut, dass ihr alle mitgeht. Da kann so viel passieren heut.«
»Also, wenn wir irgendwo sicher sind, dann heute da draußen, so viel Polizei, wie da rumlaufen wird. Da mach ich mir wirklich keine Sorgen. Fertig!«
»Was?«
»Die Krawatte.« Sie trat einen Schritt zurück. »Stattlich siehst du aus.«
»Nicht ganz so eng den Knoten, bitte!«
Markus steckte den Kopf zur Tür herein: »Mama, ich brauch jetzt dringend noch ein frisches Unterhemd. Du wolltest die doch noch bügeln.«
»Hab ich ja. Liegen bei uns im Schlafzimmer auf dem Sessel. Dass das bei uns immer so hektisch sein muss, wenn wir zusammen was unternehmen«, schimpfte Erika.
»Sag das mal deinem Sohn!«, polterte Kluftinger. »Immerhin muss man dem Herrn ja noch seine Unterhemden bügeln.«
Erika überhörte die Nörgelei ihres Mannes und sagte stattdessen: »Willst du dir nicht noch andere Socken anziehen?«
Kluftinger sah auf die von seiner Mutter gestrickten grünen Wollstrümpfe, die im Laufe der Jahre an mehreren Stellen recht dünn geworden waren. »Nix, das sind meine Glückssocken. Und in den Haferlschuhen sieht sie eh niemand.«
»Na ja, das musst du selber wissen. Sind denn jetzt die Kinder auch fertig? Ich hab extra Frühstück gemacht.«
»Ja, die Kinder sind bereits auf dem Weg in die Küche und im Gegensatz zu euch auch schon fertig angezogen«, tönte es von draußen.
Erika spitzte durch die Badtür. »Morgen, Yumiko! Du, Markus, komm doch mal kurz zu mir rein!«
»Was ist denn?«, seufzte der. »Willst du mich noch kämmen, oder wie?«
Kluftinger blickte in den Spiegel und nestelte an seinem Krawattenknoten, als Markus das Badezimmer betrat. Er trug eine graue Kapuzenjacke, unter der ein gelbes T-Shirt herausschaute, dazu Jeans und Turnschuhe. Seine Mutter musterte ihn missbilligend.
»Also, Markus«, sagte sie leise und zog die Badtür zu, »ich find, so kannst du nicht gehen. Der Vatter muss schließlich offiziell da hin. Und das ist ja ein richtiger Festakt mit Gottesdienst und allem. Zieh dir halt bitte ein Hemd und eine nette Jacke an. Ich hab dir alles schon gewaschen und hingelegt.«
Markus verdrehte die Augen. »Eine nette Jacke? Sag mal, Mutter, ich kann auch dableiben, wenn du dich für mich genierst!«
»Ach Schmarrn. Aber wenigstens einen Pulli. Und, bitte, Markus, vernünftige Schuhe!«
»Ich bin übrigens schon groß, Mama, gell? Und such mir meine Klamotten selber raus.«
»Aber waschen darf sie dir deine Sachen schon noch, oder?«, brummte Kluftinger, ohne seinen Blick von seinem Spiegelbild abzuwenden.
»Du musst grad reden!«, gab Markus zurück.
»Das ist was völlig anderes.«
»Herrschaft, müsst ihr immer streiten?«, mischte sich Erika ein. »Können wir nicht einmal ganz friedlich zusammen irgendwohin gehen?«
»Mir brauchst du das nicht zu sagen«, erklärte der Kommissar.
»Also, was ist jetzt mit deinen Schuhen?«, drängte Erika.
»Aber der Vatter kann schon mit seinen Ökosocken und seinen Trachtentretern gehen, oder?«
»Du, gell, das kannst du grad noch mir überlassen! Außerdem hab ich meinen Trachtenanzug an, da gehören Haferlschuhe dazu!«
»Und zu meinem Style gehören Sneakers!«
Kluftinger wandte sich um. »Herrgott, Markus, wie du redest, das versteht ja kein normaler Mensch mehr!«
Die Tür öffnete sich, und Yumiko kam herein. »Hallo zusammen. Schaffen wir noch ein Frühstück, oder reicht die Zeit nicht mehr aus?«
Markus ergriff die Gelegenheit und sagte: »Bei der Yumiko sagt ihr ja auch nix! Die hat sogar Chucks an! Und ihre Hose hat Löcher.«
Erika schluckte. »Ach, das trägt man in Japan halt so, oder? Aber wenn du dir was Netteres anziehst, passt sich die Yumiko bestimmt an, gell?«
Markus schüttelte resigniert den Kopf.
»Jetzt lasst mich mal raus da, für das kleine Bad sind das ein bissle zu viel Leut hier«, grummelte der Kommissar und zwängte sich durch die Tür. Er lief in die Küche und schenkte sich im Stehen eine Tasse Kaffee ein.
»Ich glaub, die Mutter wird nie akzeptieren, dass ich erwachsen bin, oder?«, fragte Markus, der sich zu seinem Vater gesellt hatte.
»Ja, Markus, das mit den Frauen, das ist ein weites Feld!«, sagte der und bot seinem Sohn ebenfalls eine Tasse an. Dann ging er noch einmal ins Schlafzimmer, wo sich Erika gerade über seinen Wien-Koffer gebeugt hatte und eine Zeitschrift herausfischte. Blass hielt sie den Playboy in der Hand und hielt ihn fragend hoch. Ihre Lippen bebten, ihre Augen wurden feucht. »Also doch«, flüsterte sie kaum hörbar. »Erst das Parfüm und jetzt … wenn dir das«, sie machte eine unbestimmte Handbewegung zum Bett, »nicht mehr reicht, dann hättest du halt mal was sagen müssen.«
»Ich … also«, stammelte Kluftinger. Seine Wangen leuchteten, die Situation war ihm mehr als unangenehm. »Herrgott, Erika«, fuhr er bestimmt fort, »meinst du vielleicht, ich geh in den Puff, oder was? Weil’s grad so bequem ist, wo der doch jetzt direkt gegenüber vom Büro liegt?«
Für einen Moment war er nicht sicher, ob sie tatsächlich über die Möglichkeit nachdachte, dann winkte sie ab.
»Nein, aber ich mein …«
Er unterbrach sie sofort: »Das ist alles ganz harmlos, ich erklär’s dir später!« Als er merkte, dass sie damit noch nicht zufrieden war, ging er auf sie zu, nahm sie in den Arm und gab ihr einen ungewöhnlich langen und intensiven Kuss.
Zwanzig Minuten später verließen alle vier das Haus – Markus hatte sich zu einer Jeansjacke und seinen ledernen Motorradstiefeln überreden lassen, und Yumiko trug sogar einen Rock unter ihrem engen Sommermantel. Mit einem Siegerlächeln im Gesicht schloss Erika die Tür.
»Auf geht’s, fahr’ mer!«, drängte Kluftinger, als er das Garagentor aufschwang.
Auf einmal entfuhr Markus ein schallendes Lachen. Auch Yumiko schmunzelte, und Erika schlug sich mit der Hand an die Stirn.
»Gib’s zu, Vatter, daran hast du jetzt auch nicht mehr gedacht! Sollen wir einen Shuttleservice einrichten? Mit vier Fahrten wären wir ja alle drüben!«
»Drei, wenn schon, du Schlaumeier!«, blaffte der Kommissar.
»Falsch, Vatter: vier! Die Mutter hat doch ihre Handtasche dabei – ich glaub nicht, dass die in das Babykofferräumchen passt!«
»Ich kenn einen, der sich das Auto noch gern mal ausleihen wird!«, maulte Kluftinger.
Erika, bemüht, die Situation nicht eskalieren zu lassen, fasste Yumiko am Arm und sagte: »Komm, Miki, wir gehen zu Annegret und Martin runter, die wollen auch zur Eröffnung. Und wir sind eh noch viel zu früh dran.«
Kluftinger verstand das als Angriff und konterte: »Ich hab gleich gesagt, dass ich vor der Eröffnung da sein muss. Aber ihr wolltet euch ja alles anschauen, bevor die ganzen Leut da sind. Also bitte jetzt nicht auf mich schimpfen.«
»Nein, nein, Butzele, schon gut. Fahrt ihr Männer mal vor, wir fahren beim Martin mit, der hat ja ein richtiges Auto! Also, bis später!«
Nachdem sie den Smart auf dem frisch gekiesten Parkplatz abgestellt hatten, gingen der Kommissar und sein Sohn den schmalen Weg zum Museum in Kalden einträchtig nebeneinander. Markus hatte gemerkt, wie nervös sein Vater war, und ließ ihn in Ruhe. Kluftingers Blick glitt über die Wiesen, über denen der morgendliche Dunst schwebte. In wenigen Stunden würde er wissen, wie schließlich alles ausgegangen war.
Markus klopfte ihm im Gehen auf die Schulter. »Du packst das, Vatter! Kopf hoch, das wird schon alles. Du bist doch ein wilder Hund!«
Kluftinger nickte dankbar.
Als sie am Museum ankamen, hatte der Kommissar trotz der frühen Stunde das Gefühl, zu spät dran zu sein, so geschäftig ging es dort bereits zu: Der Metzger hatte seinen Imbisswagen nebst Stehtischen und Bierzeltgarnituren aufgebaut und war gerade dabei, Sonnenschirme aufzustellen, daneben hatten die Damen vom Frauenbund einen Tisch mit einer riesigen Schupfnudelpfanne in Position gebracht. Auch der Pilswagen des Getränkemarkts war schon vor Ort. In dem Durcheinander von Menschen machte der Kommissar immer wieder Kollegen in Zivil, die Mitarbeiter der Sicherheitsfirma in ihren schwarzen Anzügen und seine Kollegen von der Blaskapelle aus, die mit ihren Instrumentenkoffern gerade die Szenerie betraten.
»So, bist heute wieder was Besseres?«, rief ihm der Dirigent zu, der wie immer vor ihren Einsätzen vor Aufregung einen hochroten Kopf hatte.
Kluftinger winkte ihm fröhlich zu. Wenigstens der Auftritt mit der Kapelle blieb ihm heute erspart.
Ein wenig abseits standen einige Autos: Neben den Lieferwagen der Gastronomiebetriebe waren bereits ein paar Fernseh- und Radioteams vor Ort, die Feuerwehr hatte einen Einsatzwagen auf der Wiese abgestellt, und ein Krankenwagen stand für den Notfall bereit. Außerdem hatten sich auch mehrere Streifenwagen rund um das Gelände platziert. An der Einfahrt zum Hof entdeckte Kluftinger schließlich den mit dem Werbeaufdruck einer Münchener Schreinerei getarnten mobilen Einsatzwagen, ihren Kommandostand für den heutigen Tag.
»Also, Markus, bis später! Die Mutter und die Yumiko müssten ja auch bald da sein – ich geh mal was schaffen!«
»Schon recht, Vatter, ich schau mal, vielleicht krieg ich am Pilsstand schon ein Spezi! Bis nachher!«
Auf dem Weg zum Kombi wich Kluftinger geschickt dem sichtlich angespannten Bürgermeister aus, der, wie immer bei festlichen Anlässen, in leinene Landhausmode gewandet war. Dafür lief er allerdings dem Posaunisten der Kapelle in die Arme, der nur auf eine Gelegenheit gewartet zu haben schien, um einen Kommentar zu seinem neuen Auto abzugeben: »Du, Klufti, sag mal, hast du es jetzt mit den Beinen, weil du jetzt im Rollstuhl umeinanderfährst? Und dass du ausgerechnet das Damenmodell genommen hast, ist schon ein bissle gewagt, oder?«
»Paul, hast du jetzt deinen Führerschein schon wieder, oder liegt der immer noch bei den Kollegen von der Verkehrspolizei?«, konterte Kluftinger und ließ seinen Bekannten mit bedröppelter Miene stehen.
Dann klopfte er an die Schiebetür des Lieferwagens. Strobl öffnete ihm. Kluftinger staunte, dass all seine Kollegen, einschließlich Lodenbacher und dem Einsatzleiter des Sondereinsatzkommandos, sich bereits in dem Auto drängten. Der Kommissar nickte ihnen zu und sah auf die Monitore, auf denen die Bilder der Überwachungskameras nicht nur aus dem Museum, sondern auch vom Vorplatz, der Rückseite und vom Parkplatz zu sehen waren.
»So, der Lokalmatador trifft ein!«, tönte Lodenbacher. »Guatn Morgen, Kluftinga!«
»Morgen, Herr Lodenbacher! Morgen, Männer!«
Maier eilte geschäftig zu ihm. »Morgen. Ich hab schon die Funkempfänger verteilt, hier ist deiner. Und dazu das Ansteckmikro.« Als Maier versuchte, sein Ohr zu verkabeln, rutschte der fleischfarbene Metallbügel immer wieder heraus.
»Nix gegen deine Ohren, aber so wird das nix«, stöhnte Maier nach einer Weile. »Am besten nimmst du meinen In-Ear-Empfänger.« Er zog sich den Stöpsel aus seinem Ohr und steckte ihn, bevor Kluftinger reagieren konnte, in dessen Gehörgang.
Der Kommissar verzog angewidert das Gesicht, als er spürte, dass das kleine Gerät noch ganz warm war. Er versuchte nicht daran zu denken, wo das Ding eben noch gesteckt hatte.
»Also, Einteilung, meine Herrn! Kluftinga, wer steht wo?« Lodenbacher klatschte eifrig in die Hände.
Kluftinger runzelte kurz die Stirn, dann ging er das Gelände in Gedanken noch einmal durch. »Ihr kriegt jetzt dann die Phantombilder, und sobald einer von denen auftaucht oder sonst was Verdächtiges passiert, wird Alarm gegeben. Und lieber zu vorsichtig sein! Also, ich würd sagen, einer überwacht den Parkplatz. Roland?«
Hefele nickte.
»Gut. Der Richie bleibt ja hier an den Monitoren zur Überwachung und koordiniert alles. Eugen, du kommst mit mir erst auf das Gelände vor dem Museum, und bei der Einweihung gehen wir dann rein, gut?«
Auch Strobl stimmte zu.
Lodenbacher räusperte sich, und Kluftinger wandte sich seinem Vorgesetzten zu. Es sah fast so aus, als wolle er auch eine Aufgabe übernehmen. Allerdings wusste der Kommissar, dass dessen praktischer Nutzen gegen Null tendieren würde, schließlich hatte er mit wirklicher Polizeiarbeit schon jahrelang nichts mehr am Hut. Wenn er das überhaupt je gehabt hatte, dachte er.
»Wissen Sie wos, Kluftinga«, nahm ihm der Polizeipräsident schließlich die Entscheidung ab, »ich werd mich ein bisserl bei den Honoratioren aufhalten und unauffällig mit ihnen Gespräche führen, um sie gegebenenfalls bei einer Geiselnahme schützen zu können, ned?«
Dieser Vorschlag fand allgemeine Zustimmung und löste bei Kluftinger und seinen Kollegen ein kaum merkliches Schmunzeln aus.
Zehn Minuten später stand Kluftinger abseits des Treibens auf dem Vorplatz der Burgruine und stützte sich auf das Holzgeländer am Steilufer des Illerdurchbruchs. Der Nebel, der vom Fluss heraufzog, war hier noch zäh und dicht und gab nur vereinzelt den Blick auf die ruhig dahinfließende Iller frei.
Der Kommissar hatte das Bedürfnis verspürt, der Hektik noch einmal für einen Augenblick zu entfliehen, um sich ein wenig zu sammeln und den Kopf frei zu bekommen. Wenn ein Fall ihn derart in Beschlag nahm, hatte er oft das Gefühl, fernbestimmt zu sein. Nur wenn er mit sich allein war, konnte er dann ein wenig abschalten. Und einsame Momente waren in den letzten Tagen mehr als rar gewesen.
Tief sog er die klare Morgenluft ein und ließ seinen Blick schweifen: Mit der vom Nebel umwaberten Ruine, dem mächtigen Steilufer im Rücken und den knorrigen Bäumen, die sich in dem lauen Lüftchen wiegten, kam er sich vor wie ins Mittelalter versetzt. Er versuchte sich gerade vorzustellen, wie die Zinnen des Turms vor ihm von Rittern in eisernen Rüstungen besetzt waren, da holte ihn das Brummen des Polizeihubschraubers ins Hier und Jetzt zurück. Vor dreißig Jahren war es gewesen, als an einem ähnlichen Frühherbsttag die ersten Teile des Schatzes gefunden worden waren. Und er selbst war einer der Ersten gewesen, der die Schmuckstücke, um die jetzt so viel Wind gemacht wurde, nach den Jahrhunderten, in denen sie von aller Welt vergessen unter der Erde gelegen hatten, in Augenschein hatte nehmen dürfen. Wie hätte er damals ahnen können, dass ihn der Fund, den er aufgenommen hatte, noch einmal auf diese Art und Weise einholen würde?
Kluftinger malte sich aus, wie es vor sich gegangen sein musste, als dieser Kohler, damals noch ein junger Mann, auf einmal eingebrochen war – und samt Goldschatz vom Bellen seines Hundes gerettet wurde. Nur einen Bruchteil des gesamten Schatzes hatte Kohler damals eingepackt und auf dem Tresen der Polizeistation ausgebreitet. Einmal war Kluftinger sogar nach dem Dienst hier herausgefahren, um zuzusehen, wie die Archäologen nach dem Rest gruben – mit seinem nagelneuen, glänzenden Wagen und einer strahlenden Erika auf dem Beifahrersitz.
Ein Bellen riss ihn aus seinen Gedanken. Er wandte sich um und sah, dass ein kleiner Hund kläffend aus dem Wald auf ihn zuraste. Einige Meter dahinter lief ein Mann mit einer Leine in der Hand. Kluftinger drückte den Rücken gegen das Geländer und hob schützend die Hände in Brusthöhe. Er war kein Hundefreund – und die Größe der Tiere spielte dabei keine Rolle. Sicherlich würde das Herrchen gleich etwas wie Der tut nichts! oder Der will nur spielen! rufen.
»Thor, Fuß!«, hörte Kluftinger aus der Ferne den Mann, und tatsächlich machte der Rauhaardackel kehrt. Erst als der Mann aus dem Dunst des Waldrands getreten und näher herangekommen war, erkannte ihn der Kommissar: Es war Andreas Kohler. Auch er schien vor dem Trubel der Eröffnung noch einmal die Ruhe zu suchen. Immerhin war ihm heute eine besondere Rolle zugedacht: Er würde die Monstranz in einem feierlichen Akt enthüllen.
»Ja, der Herr Kommissar! Halten Sie auch noch ein bissle Einkehr vor dem großen Festakt?«
Kluftinger nickte. Thor hatte sich neben seinem Herrchen auf den Boden gesetzt.
»Aber jetzt sagen Sie: Ich hab Sie heute Morgen mit einem anderen Auto kommen sehen, haben Sie den Passat jetzt doch nicht mehr?«
Kluftinger lächelte gequält. »Nein. Irgendwann muss man sich wohl auch von den treuesten Gefährten trennen. Aber wem sag ich das, Sie haben ja auch nicht mehr denselben Hund wie damals!«
Eine Weile standen die beiden Männer nebeneinander und schwiegen. Als sie plötzlich hörten, dass die Kapelle zu spielen begann, wurde ihnen klar, dass sie die Zeit vergessen hatten.
»Kommen Sie, Herr Kohler, wir müssen!«, sagte Kluftinger, und die beiden Männer machten sich auf den Rückweg.
Ein ohrenbetäubendes Knacken in seinem Minilautsprecher ließ den Kommissar zusammenzucken. Unwillkürlich legte er eine Hand schützend auf sein Ohr. Dann ertönte Maiers Stimme: »Hallo, wo bist du?«
»Herrgott, willst du, dass ich taub werde?«, polterte der Kommissar.
»Entschuldige mal, ich hab dich nicht mehr gehört. Ist dein Gerät kaputt?«
»Glaub ich nicht. Vielleicht war ich nur zu weit weg.«
»Weg?« Maiers Stimme klang schrill. »Du kannst doch jetzt nicht weggehen.«
»Immer mit der Ruhe, ich bin ja wieder da.« Er konnte die Schnappatmung seines Kollegen hören.
»Wenn hier jeder macht, was er will, dann können wir auch gleich wieder heimfahren.«
Kluftinger ignorierte Maiers Lamento.
»Hallo?«
»Ja?«
»Ich hab was gesagt.«
»Ich hab’s gehört«.
»Und?«
»Wir fahren nicht heim.«
»Ich würd jetzt gern regelmäßig von allen einen Zwischenlagebericht haben. Das wird dann immer so ablaufen: Überwachungswagen an Parkplatz, wie ist die Lage?«
»Alles ruhig.«
»Wer war das?«
»Ich.«
»Wer?«
»Hefele.«
»Nein, du bist Parkplatz.«
»Also, Parkplatz ruhig.«
Maier stieß pfeifend die Luft aus. »Besten Dank. Überwachungswagen an Innenraum eins, wie ist die Lage?«
»Alles ruhig, ich bin aber noch draußen.«
»Wer war das?«
»Kluftinger.«
»Aber du bist doch Innenraum zwei. Innenraum eins ist der Eugen.«
»Aber ich hab gedacht, ich bin Innenraum eins. Ich bin doch im Saal.«
»Eben, der Eugen ist an der Tür.«
»Aber der Saal ist doch wichtiger als die Tür.«
»Ja, aber die Tür kommt vorher, oder? Bitte, Kollegen, jetzt haltet euch einfach an das, was ich euch gesagt hab. Der Lodenbacher fand das auch gut so.«
»Das ist ja schlimmer als die telefonische Morgenlage!«
Nun meldete sich Strobls Stimme. »Und wenn du uns einfach bei unseren Namen nennst? Ist vielleicht weniger verwirrend.«
»Danke, Eugen.« Kluftinger hatte den Vorplatz erreicht, auf dem sich einige Hundert Neugierige drängten. Die Musikkapelle spielte gerade einen Choral, und aus der Mitte der Menschenansammlung sah Kluftinger dünnen Rauch aufsteigen. Weihrauch, wie er ein paar Sekunden später roch. Somit begann nun der offizielle Teil, und das hieß in Altusried in der Regel: Gottesdienst. Als die Musik endete, hörte er die Stimme des Pfarrers, die in ihrem sakralen Singsang den Psalm Dank des Königs für Rettung und Sieg zitierte. In der Hand hielt er den angeblich wundertätigen Magnusstab, der extra aus Füssen hierhergebracht worden war.
Kluftinger hielt etwas Distanz zu der Menge, um einen besseren Überblick zu haben, außerdem, um nicht in den Dunstkreis des Pfarrers zu geraten. Dennoch konnte er sich der feierlichen Atmosphäre dieses Moments nicht entziehen, und ein Lächeln grub sich in seine Mundwinkel. Wenn er ehrlich war, genoss er es, heute in dieser herausgehobenen Stellung hier zu sein.
Die Musikkapelle begann wieder zu spielen, und die Menge stimmte das Magnuslied an, dessen erste Strophe gestern der Pfarrer und der Bürgermeister zitiert hatten. Zu der getragenen Melodie ließ er seinen Blick über das Gelände gleiten. Da sah er im Hintergrund plötzlich Rösler, der sich, auf einen Stock gestützt, zu der Menschenansammlung vorarbeitete. Kluftinger fand es beinahe rührend, dass der Alte es sich trotz seines gestrigen Schwächeanfalls nicht nehmen ließ, bei der Einweihung dabei zu sein.
»Christi großer, heil’ger Priester, Kämpfer gegen Welt und Sünd …«
Sein Ohrhörer knackte wieder, und Maier meldete sich. »Überwachungswagen an Innenraum zwei.«
War er das? Die vorherige Diskussion hatte ihn so verwirrt, dass er nicht mehr ganz sicher war.
»Höre auf die frommen Kinder, die dir treu ergeben sind.«
»Ich glaub, das bin ich, oder?«, meldete er sich.
»Wer?«
»Kluftinger.«
»Genau. Hör mal zu, ich hab da eine verdächtige Person auf dem Schirm. Elf Uhr.«
Kluftinger blickte auf seine Armbanduhr. »Ich hab’s erst zehne.«
»Wie?«
»Nach meiner Uhr ist es erst zehn.«
»Ach so, ja, nein, ich meine die Richtung. Elf Uhr. Südost, wenn dir das besser gefällt.«
Kluftinger seufzte. »Probier’s mal mit rechts oder links.«
Der Kommissar hörte die anderen beiden Kollegen lachen, dann sagte Maier: »Links von dir, aber fast geradeaus. Der mit den Lederhosen, der hat irgendwas in der Hand, das sieht aus wie … wie …«, plötzlich schrie er so laut, dass es in Kluftingers Kopfhörer pfiff, »… ein Gewehr.«
Mit schmerzverzerrtem Gesicht sagte der Kommissar: »Ja, das ist ja auch einer von den Trachtlern, die nachher die Böllerschüsse abgeben. Das kann er wohl kaum mit einem Luftballon machen.«
»Ach so«, tönte es kleinlaut aus dem Lautsprecher. »Na ja, Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. Over and out.«
Kluftinger schüttelte den Kopf. »Du mich auch«, zischte er leise hinterher.
Rösler hatte inzwischen zu der Menge aufgeschlossen und winkte Kluftinger zu. Der nickte freundlich zurück. Als der Chor der Festgäste gerade die Zeile »Künder ew’ger, froher Wahrheit, unsres Lands Apostel, du« anstimmte, beobachtete Kluftinger, wie eine ganze Horde Fotografen und Kameraleute vom Altusrieder Verkehrsamtsleiter in Richtung Museumseingang geführt wurden, wo er ihnen ihre Plätze zuwies. Er sah, dass auch der Bürgermeister das wohlwollend registrierte.
»Bringe uns ersehnte Klarheit und im Sturm der Zeiten Ruh.«
So viel Presse hatte es selten in die Marktgemeinde verschlagen. Kein Wunder, dass dem Rathauschef das gefiel.
»Überwachungswagen an Innenraum zwei«, tönte es wieder aus seinem Lautsprecher. Kluftinger grinste, denn Maiers Wortmeldungen klangen ein bisschen wie die kryptischen Durchsagen, die in Kaufhäusern immer wieder zu hören waren: Siebzehn bitte Zweiunddreißig rufen. Siebzehn bitte Zweiunddreißig.
»Hörst du mich?«
»Laut und deutlich«, erwiderte Kluftinger genervt.
»Ich habe da wieder ein Subjekt …«
»Ein was?«
»Ein Subjekt, diesmal auf ein Uhr. Der Mann mit der dunklen Trachtenjacke und dem …«
»Meinst du den Bürgermeister? Der mit dem Hut in der Hand?«
»Ich … äh … over and out.«
Der Gottesdienst war zu Ende, und die Masse geriet ein wenig in Bewegung, als vor dem Museum drei Alphornbläser Aufstellung nahmen. Es ertönten gerade die ersten sonoren Klänge aus ihren riesigen Instrumenten, da meldete sich Hefele: »Hört mal, ich hab da vielleicht was.«
»Wer spricht da?«, schaltete sich Maier sofort ein.
»Herrgott, Richie, ich bin’s, der Roland. Jetzt halt mal die Klappe, das ist vielleicht ernst. Gerade ist einer an mir vorbeigelaufen, Mitte dreißig, eins achtzig, dunkles Haar, grüner, dicker Parka. Wirkt ein bisschen nervös und schaut sich dauernd um. Der passt zwar zu keinem der Phantombilder, aber ich weiß nicht … schaut ihn euch einfach selber mal an.«
»Hier Überwachungswagen, ich hab ihn schon auf dem Schirm. Er läuft direkt Richtung Eingang. Innenraum eins, dich müsste er als Nächsten passieren.«
»Ich hab ihn. Achtung, ich bleib an ihm dran. Klufti, übernimmst du meine Position?«
»Nein, ich bleib hier, hier hab ich den besten Überblick. Seh ihn auch.« Der Mann lief quer über den Hof, aber im Gegensatz zu den anderen orientierte er sich nicht an der Masse und lief auch nicht direkt zum Eingang, sondern schlug einen Haken und blieb etwa zwanzig Meter hinter dem Pulk zurück. Der Kommissar sah, dass Strobl an ihm dran war, was ihn etwas beruhigte. Dennoch machte sich ein beklemmendes Gefühl in ihm breit. Er hatte nach der Festnahme von Strehl in Wien immer wieder daran gezweifelt, dass die Schutzpatronbande tatsächlich zuschlagen würde. Diese Leute mussten zumindest einkalkulieren, dass der Goldschmied der Polizei Informationen gegeben hatte. Nun war er, wenn alles gut ging, kurz davor, den Mörder der alten Frau Zahn zu fassen. Aber auch eine fingierte Geiselnahme konnte schlimm enden.
Er hob den Kopf. Über ihnen hörte er das Brummen des Polizeihubschraubers, der das Gelände immer wieder überflog. Keine Frage, sie waren gut vorbereitet, versuchte er sich zu beruhigen. Trotzdem fuhr er zusammen, als plötzlich die Böllerschüsse über das Gelände donnerten. Rauch stieg auf, und Applaus ertönte, dann sah er, dass alle nun in das Gebäude drängten. Er lief zum Hauptportal, vor dem sich der Zustrom der Feiergäste staute. Es würde ein ziemliches Gedränge im Inneren geben, was ihnen die Arbeit nicht gerade erleichterte.
»Dienst geht vor«, hörte er auf einmal neben sich die Stimme des Doktors, der ihm mit einer einladenden Handbewegung bedeutete, doch vor ihm nach drinnen zu gehen.
Mit einem dankbaren Nicken nahm der Kommissar das Angebot an und zwängte sich in das Museum, wo er sofort nach Strobl suchte. Er fand ihn in der großen Halle, vor dem Durchgang zum nächsten Raum. Kluftinger hob fragend die Augenbrauen, worauf Strobl seinen Kopf neigte. Er folgte seinem Blick – und da stand der Mann.
Er wirkte blass und hatte beide Hände in den Taschen seiner für diese Temperaturen viel zu dicken Jacke vergraben. Kluftinger begann zu schwitzen. Er senkte seinen Kopf und flüsterte in das kleine Mikro: »Ich bin dafür, dass wir ihn uns greifen. Aber unauffällig. Falls es nix ist, wollen wir die echten Verbrecher nicht unnötig auf uns aufmerksam machen, klar?«
»Soll ich zu euch kommen?«, fragte Hefeles Stimme.
»Nein, bleib du, wo du bist. Wir haben hier drin genügend Kollegen, falls es brenzlig werden sollte.« Mit diesen Worten setzte sich der Kommissar in Bewegung und näherte sich langsam dem Verdächtigen, wobei er sich immer wieder im Raum umblickte, als sei er das erste Mal hier. Jetzt sah er auch, dass der Mann ebenfalls ein Headset im Ohr hatte. »Eugen, guck mal, der hat auch ’nen Knopf im Ohr«, gab er per Funk durch.
»Ja, Bluetooth, wenn ich das richtig sehe.«
»Ach so …« Kluftinger wusste nicht, was das bedeutete, aber es spielte auch keine große Rolle.
Als der Bürgermeister mit seiner Festansprache begann, änderte der Mann mit dem Parka seine Position, offenbar um bessere Sicht zu haben, blieb aber nach wie vor deutlich abseits der Menge. Der Kommissar versuchte, seinen Blicken zu folgen, um mögliche Komplizen auszumachen, doch er konnte nichts Verdächtiges erkennen. Der Funk im Ohr des Mannes verkomplizierte die Sache ein bisschen, denn wenn mehrere Helfer im Raum waren, würden die durch ihr Eingreifen vermutlich gewarnt werden.
»Wir müssen ihm das Ding abnehmen und ihn dann ganz unauffällig greifen, hört ihr? So, dass keiner was merkt«, sagte Kluftinger.
Hösch lobte gerade immer wieder die Gemeinschaftsleistung der Gemeinde, die zu diesem »historischen Tag« geführt habe. In dem Moment, in dem der Bürgermeister von den unüberwindbaren Sicherheitsvorkehrungen sprach, löste sich Rösler mit seinem Rollator aus der Menge und lehnte sich unweit des Verdächtigen an die Wand. Sollte der Alte am Ende doch mit den Gaunern im Bunde stehen? War er das Ziel der vorgetäuschten Geiselnahme? Kein schlechter Plan, denn man würde Rösler sicher nicht fragen, ob er sich nicht habe wehren können.
Der Bürgermeister hatte seine Rede unter tosendem Applaus mit den Worten »Jetzt öffnet den Tresor und lasst unser Prunkstück an seiner neuen alten Heimstatt erstrahlen!« beendet, und die Bläser der Musikkapelle stimmten noch einmal das Magnuslied an, worauf die Menge wieder zu singen begann: »Zum erlauchten Wundertäter warst du einst von Gott erwählt …«
Der Kommissar wollte den Geräuschpegel des Liedes nutzen, um den Mann unbemerkt nach draußen zu bringen. Doch als er sich in Bewegung setzte, begann der in seiner Tasche zu kramen, als wolle er irgendetwas herausholen.
»Dank sei ihm mit unsern Vätern, da er dich für uns bestellt.«
Blitzartig blickte Kluftinger zu Strobl, der es auch gesehen hatte und nun ebenfalls loslief. Doch zwischen ihm und dem Mann stand eine ganze Menge Besucher, die nun die Hälse reckten, um zu beobachten, wie die Bodenplatten auffuhren und der Tresor geöffnet wurde.
»Heil’ger Magnus, stärke uns!«
Maier meldete sich aufgeregt: »Der Mann zieht was aus der Tasche, Innenraum … ich mein, Eugen, Chef, schnell, der Mann hat irgendwas.«
»Heil’ger Magnus, segne uns!«
Kluftinger wurde es heiß und kalt zugleich. Jetzt war ihm alles egal. Er rannte los und stieß die Menschen, die ihm im Weg standen, einfach beiseite.
»Heil’ger Magnus, führe uns!«
Es waren nur noch ein paar Schritte. Jetzt hatte der Mann den Gegenstand aus seiner Tasche befreit. Kluftinger sah kaltes Metall aufblitzen, dann hechtete er los.
»Heil’ger Magnus, bitt für …«
Während er auf den Mann zustürzte, hörte die Musik schlagartig auf, und er erkannte den Gegenstand, den der Verdächtige in der Hand hielt: Es war eine kleine Digitalkamera. Doch Kluftinger konnte den Zusammenprall nicht mehr verhindern und riss den Mann mit einem Krachen zu Boden, was dieser mit einem erstickten Laut quittierte, bevor er mit dem Kopf auf den dunklen Steinfliesen aufschlug. In diesem Moment ertönte ein schriller Aufschrei aus den Kehlen der Anwesenden. Kluftinger führte das auf seine Aktion zurück, doch als er aufblickte, erkannte er, dass niemand auf sie achtete. Alle schauten mit entsetzten Gesichtern in die Mitte des Saals, manchen war der Kiefer heruntergeklappt, andere hatten erschrocken eine Hand auf den Mund gelegt.
Kluftinger folgte ihrem Blick – und es durchfuhr ihn ebenfalls. Die Glasvitrine, die dort von der Decke hing und in der gestern noch die Monstranz gestanden hatte, war leer. Das heißt, nicht ganz: Es stand eine grellbunte Heiligenfigur aus Plastik darin, in der rechten Hand ein Zettel mit einer Zahl darauf: »4,35 Millionen«.