Zur selben Zeit

»Übermorgen also wird es so weit sein, meine Schäfchen: Wir gehen auseinander, und für ein halbes Jahr wird es keinen Kontakt geben. Und wenn ich sage ›keinen Kontakt‹, dann meine ich das auch so.« Er verlieh seinen Worten Nachdruck, indem er ihnen eindringlich in die Augen blickte. Er wusste, dass sein Plan damit stand und fiel. Sicher: Auf ihrem Gebiet waren sie Profis. Aber die Disziplin, sich den plötzlichen Reichtum nicht anmerken zu lassen, hatten die wenigsten. Schon viele seiner Kollegen waren daran gescheitert. Deswegen hatte er auch vor, das Land so schnell wie möglich zu verlassen, was er ihnen jedoch verschweigen wollte.

Sie warfen Magnus misstrauische Blicke zu. Sie schienen beunruhigt, seit er allein aus Wien zurückgekehrt war. Er hatte ihnen gesagt, dass mit Agatha alles zum Besten stehe und dass er sich bald wieder zu ihnen gesellen werde, aber so richtig hatten sie ihm nicht geglaubt. Und er hatte nicht vor, ihnen alle Einzelheiten seines Plans auseinanderzusetzen. Dazu bestand weder Anlass noch hatten sie die nötige Zeit dazu.

»Es ist wichtig, dass ihr jetzt und auch in der Zeit der Trennung nicht vom Glauben abkommt«, fuhr er blumig fort. Er fand immer mehr Gefallen an dieser altmodischen Ausdrucksweise, auch weil er wusste, dass die anderen sie hassten. »Der Tag wird kommen, an dem ihr den Lohn für eure entbehrungsreiche Arbeit in Händen halten werdet. Auch Agatha. Verlasst euch auf mich, auch wenn euch Zweifel plagen. Alles geht seinen Gang. Bis dahin aber muss sich jeder still verhalten, kapiert? Ihr geht wieder euren mehr oder weniger normalen Tätigkeiten nach, und vor allem: Versucht nicht, mich zu erreichen. Es wird euch sowieso nicht gelingen, und wenn ihr es doch versucht, dann werdet ihr es bereuen! Wir werden ein Datum festsetzen, an dem wir uns hier in der Einsiedelei wieder treffen, vorher gibt es keine Kommunikation. Wenn das Geld schneller eintreffen sollte und alle anderen Dinge geregelt sind, werde ich mich gegebenenfalls vorab mit euch in Verbindung setzen.«

Der Anführer sah in den Gesichtern seiner Mitstreiter, dass seine Worte noch wenig überzeugend gewirkt hatten. »Meine Schäfchen, ich bitte euch um eins …«, setzte er erneut an, als sich die alte Tür der Holzhütte auf einmal bewegte. Ein Ruck ging durch die Männer, Lucia löschte geistesgegenwärtig die Gaslampe. Magnus griff in seine Jacke und ließ die Hand auf dem schweren Revolver ruhen. Das Blut pulsierte in seinen Schläfen. Sollten sie nun, zwei Tage vor dem Ziel, doch noch einmal Schwierigkeiten bekommen?

Jetzt wurde am Riegel gedreht, und die Tür ging knarrend einen Spaltbreit weit auf. Auf ein Zeichen von Magnus postierten sich Nikolaus und Georg links und rechts des Eingangs, um den ungebetenen Gast überwältigen zu können, die Übrigen starrten mit aufgerissenen Augen gebannt auf den Eingang, bereit, im nächsten Moment aufzuspringen und den Eindringling unschädlich zu machen. Eine Sekunde später hatte sich die Tür ganz geöffnet, und die beiden Männer warfen sich auf die kleine, dürre Gestalt, die gerade eingetreten war. Eine brennende Zigarette fiel zu Boden, dann der Pulk der drei Männer. Nikolaus drehte ihm den Arm auf den Rücken und presste sein Gesicht zu Boden.

»Was willst du?«, herrschte er ihn an.

»Ich bin’s doch, Christophorus!«, kam es gedämpft von der auf dem Boden liegenden Gestalt.

»Scheiße, das ist ja der Krischpl!«, entfuhr es Nikolaus erleichtert.

Magnus ließ die Hand wieder aus seiner Tasche gleiten. Er ging einige Schritte auf Christophorus zu, der immer noch von Nikolaus zu Boden gedrückt wurde. Mit einem Kopfnicken gab er ihm zu verstehen, dass er ihn nun loslassen könne. Doch als der schmächtige junge Mann gerade wieder aufstehen wollte, wurde er von Magnus daran gehindert, indem er ihm den Fuß auf den Rücken stellte. »Hör mal gut zu! Du weißt, wie sehr mir an Präzision und Pünktlichkeit gelegen ist. Wir haben keine Lust auf irgendwelche Nachlässigkeiten, so kurz vor dem Ziel, hast du verstanden? Wer jetzt noch meint, er kann sich Schlampereien erlauben, den lass ich über die Klinge springen, ist das klar?«

Christophorus presste einen gequälten Laut hervor und versuchte zu nicken.

»Steh auf!«, herrschte ihn der Schutzpatron an.

Als sich der Fahrer wieder aufgerappelt hatte, schob er nach: »Warum kommst du so spät, du Idiot?«

»Ich … es … tut mir leid, Ma…Magnus, echt!«, stammelte er. Seine Koteletten waren vom Dreck grau gefärbt. »Ich hab noch getankt, am Berliner Platz oben, in Kempten, und die beschissene Kreditkarte war nicht lesbar und …«

»Sind sie misstrauisch geworden?«, fragte Lucia besorgt.

»Nein, das lag an dem Dreckslesegerät. Aber es hat halt gedauert!«

Magnus entspannte sich ein wenig und nickte, ein Zeichen für Christophorus, dass er das Schlimmste überstanden hatte. Also fügte der hinzu: »Leute, als ich dann hier rausgefahren bin, ratet mal, was ich da überholt hab?«

Die Angesprochenen zuckten mit den Schultern. »Einen Traktor?«, fragte Nikolaus, der mittlerweile wieder Platz genommen hatte.

»Nein. Das heißt, doch, das auch, aber das mein ich gar nicht! Nein, wie ich bei den Bullen vorbeifahr, da ist grad ein Werttransporter bei denen auf den Hof gefahren. Transart oder so ist draufgestanden. Ich fress einen Besen, wenn da nicht die Ausstellung drin war!«

Die Augen der Anwesenden weiteten sich und begannen zu blitzen.

»Ich mein, die hätten sie uns auch gleich geben können. Übermorgen gehört uns das Zeug sowieso.«

»Halleluja!«, versetzte Magnus mit einem Grinsen.