Dienstag, 7. September

»Himmelarsch!«

Missmutig knallte Kluftinger die Fahrertür seines alten Passats zu. Dabei war er vor zwanzig Minuten noch leidlich gut gelaunt zu Hause aufgebrochen. Und die kurze Fahrt von seinem Wohnort Altusried bis zu seinem Büro in der Kemptener Innenstadt hatte ihn sogar noch fröhlicher gestimmt. Kluftinger liebte es, wenn sich der Sommer allmählich seinem Ende entgegenneigte. Endlich durfte man sich wieder guten Gewissens drinnen aufhalten, und seine Frau würde ihn nicht mehr mit absurden Vorschlägen wie »Wollen wir nicht zum Baden gehen?« traktieren. Über der Iller standen wieder erste Nebelschwaden, die ungemütliche Hitze des kurzen Sommers war einer herrlichen Frische gewichen, und die Septembersonne tauchte die Landschaft in mildes Licht.

Doch wieder einmal hatte Kluftingers Freude über diesen wunderschönen Tag keinen Bestand angesichts eines beinahe allmorgendlichen Ärgernisses: Seit die Kemptener Kriminalpolizei vor einigen Monaten in ein neues Gebäude umgezogen war, gab es keine reservierten Parkplätze für die Mitarbeiter mehr. Noch nicht einmal für ihn als leitenden Kriminalhauptkommissar. Nur Dienstautos durften im Hof abgestellt werden. Aber er fuhr halt lieber mit seinem eigenen Wagen und rechnete die gefahrenen Kilometer ab. Er hatte einmal mittels eines komplizierten Rechenvorgangs, den er selbst nicht mehr nachvollziehen konnte, herausgefunden, dass ihm dies finanzielle Vorteile brachte. Nun wurde er das Gefühl nicht los, dass es sich bei der neuen Parkplatzregelung um eine Art Erziehungsmethode für renitente Selbstfahrer handelte. Aber er dachte nicht daran, mit dieser Gewohnheit zu brechen. Jetzt erst recht nicht!

Dennoch verfluchte er sich regelmäßig dafür, denn hier in der Innenstadt waren die kostenfreien Parkplätze mehr als rar. Zwar gab es in hundert Meter Entfernung ein Parkhaus, in dem mittlerweile die meisten seiner Kollegen Plätze zu einem reduzierten Preis gemietet hatten, doch für Kluftinger kam das nie und nimmer infrage. Allein der Gedanke, dafür zu zahlen, dass er während der Arbeit sein Auto abstellen durfte, trieb ihm Schweißperlen auf die Stirn.

Heute war es jedoch besonders schlimm. Kein einziger der ihm bekannten Gratisparkplätze war mehr frei gewesen. Und jetzt war er auch noch zu spät dran. Wenigstens bekam das sein oberster Vorgesetzter, Polizeipräsident Lodenbacher, nun nicht mehr mit. Denn der residierte weiterhin im Polizeikomplex am Stadtrand. Für Kluftinger eigentlich die beste Neuerung, die der Umzug mit sich gebracht hatte.

Nach langer Suche überquerte der Kommissar nun mit hastigen Schritten die Straße. Er nickte dem Bordellbesitzer von nebenan freundlich zu, der wie fast jeden Morgen seinen ziemlich ungemütlich aussehenden Hund ausführte, von dem aber sowohl das Herrchen als auch die für ihn arbeitenden Frauen behaupteten, dass er ein »ganz ein Lieber« sei. Der Kommissar schmunzelte. Niemals hätte er gedacht, dass sich ein so gutes nachbarschaftliches Verhältnis zwischen den beiden doch so gegensätzlichen Etablissements entwickeln würde.

Gedankenversunken stieg er die Treppe zu »seinem Stockwerk« hoch; sein Büro lag in der zweiten Etage.

»So, so! Wenn die Katz ausm Haus is, tanzn die Mäus aufm Tisch, oda, Kluftinga? I glaub, i muass wieder a bisserl mehr kontrollieren, in Ihrem Saustall da heroben!«

Kluftinger hielt kaum merklich einen kurzen Moment inne und schloss die Augen. Priml. Lodenbacher! Die niederbayerische Heimsuchung! Noch bevor er den Treppenabsatz erreicht hatte, presste er hervor: »Ah, Herr Lodenbacher, was verschafft uns denn heut schon so früh die … Ehre?«

Mit zusammengezogenen Brauen musterte der Polizeipräsident den Kommissar, auf dessen Stirn sich winzige Schweißtröpfchen bildeten – sei es wegen seines Zuspätkommens oder wegen des hastigen Tempos, mit dem er die Treppen genommen hatte. Schließlich fasste Lodenbacher den Kommissar am Arm und zog ihn in Richtung der Büros.

»Auf geht’s, mit dera Sach, die wo heut ansteht! I hob net vui Zeit, i bin nachher beim Golf mit dem Landrat. Kemman S’! Alle warten schon im großen Besprechungsraum auf Sie, ned wahr? Gehen S’ weiter und walten S’ Ihres Amtes!«

Kluftinger sah ihn ratlos an. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was heute Besonderes auf dem Programm stand. Außer einer Serie von Autodiebstählen ging es bei der Kemptener Kripo gerade ziemlich ruhig zu.

»I hob Eahna doch a Memo gschickt!«, beantwortete der Polizeipräsident Kluftingers fragenden Blick.

Au weh, dachte der Kommissar. Seine E-Mails kontrollierte er eher unregelmäßig. Aber er hatte doch die Abteilungssekretärin Sandy Henske gebeten, ihm wirklich Wichtiges auszudrucken! Und am Vortag hatte sie ihm nichts gegeben. Kluftinger wischte sich mit der flachen Hand den Schweiß von der Stirn.

Von Lodenbacher wurde er nun vehement in Richtung des großen Besprechungsraumes geschoben.

»Ich schau nur noch schnell in meinem Büro vorbei«, versuchte Kluftinger wenigstens einen kleinen Aufschub zu bekommen, vielleicht konnte er ja sogar Sandy oder einen seiner Mitarbeiter fragen, worum es heute gehen sollte. Richard Maier, der Streber, wusste doch immer, was gerade los war. Doch sein Chef dachte gar nicht daran, ihn noch einmal entkommen zu lassen, und stieß die Tür des Besprechungsraums auf. Kluftinger hörte das eintönige Gemurmel einer lockeren Unterhaltung, dann verstummten nach und nach die Gespräche. Er sah sich im Raum um und blickte in die erwartungsvollen Gesichter seiner »Kernmannschaft«, wie er sie gerne nannte: die Kommissare Richard Maier, Eugen Strobl und Roland Hefele. Sie hatten sich alle drei vor einer Platte mit kalten Häppchen postiert, und dem Zustand dieser Platte nach zu urteilen, standen sie schon eine Weile dort. Doch es waren noch weitere Personen im Raum, was Kluftinger zu dem Schluss kommen ließ, dass es sich wohl um eine Angelegenheit von einiger Wichtigkeit handelte, wegen der sie heute hier zusammengerufen worden waren: Willi Renn, Chef des Erkennungsdienstes, stand am Fenster, wippte ungeduldig von einem Bein auf das andere und warf dem Kommissar einen vorwurfsvollen Blick zu, der wohl seiner Verspätung geschuldet war. Willi hasste Unpünktlichkeit noch mehr als verwischte Spuren am Tatort. Es hatten sich außerdem noch ein paar Mitarbeiter der Verwaltung eingefunden sowie einige Sekretärinnen aus anderen Abteilungen.

Kluftinger war völlig ratlos, was das Ganze zu bedeuten hatte. Die einzige Gemeinsamkeit, die ihm zu den hier anwesenden Personen einfiel, war die Tatsache, dass sie bei der Polizei arbeiteten.

Er wurde jäh aus seinen Gedanken gerissen, als Lodenbacher mit einem deutlich vernehmbaren Knall die Tür hinter sich zuzog und sich ein Geschenk samt Schleife und Karte griff, das auf einem Sideboard bereitlag. Daneben stand, in einem Bierglas als provisorischer Vase, ein üppiger Blumenstrauß.

Kluftinger zuckte schließlich mit den Schultern und wollte sich zu seinen Kollegen gesellen. Er würde ja bestimmt gleich erfahren, worum es sich handelte, und nahm sich vor, bei Lodenbachers Rede, die ihnen sicherlich drohte, hin und wieder wissend zu nicken. Als er an seinem Chef vorbeiging, nahm der ihn noch einmal beiseite.

»Jetzt fangen S’ amol an mit Ihrer Rede, ich schließ mich dann an.«

»Meiner …«

»Jetzt gengan S’ zua. I hob aa ned ewig Zeit.« Lodenbacher machte eine Handbewegung, als verscheuche er ein lästiges Insekt.

Rede?

Das Wort dröhnte in seinem Kopf wie der grollende Donner eines nahenden Gewitters. Wie sollte er eine Rede halten, wenn er nicht einmal wusste, weswegen? Kluftinger sah auf und blickte in die erwartungsvollen Augen der versammelten Kollegen, alle Gespräche waren verstummt.

Herrgott, denk nach!, befahl er sich. Wieder begann er zu schwitzen. Er versuchte es mit seiner kriminalistischen Kombinationsgabe: ein Jubiläum vielleicht. Zumindest kein einfacher Geburtstag, zu dem wären schließlich der Präsident und die Kollegen aus den anderen Abteilungen nicht extra gekommen. Kluftinger blickte in die Runde, ein Gesicht nach dem anderen nahm er sich vor. Hefele. Ein runder Geburtstag? Nein, Hefele war in etwa sein Jahrgang. Außerdem stand sein untersetzter Kollege dermaßen unbeteiligt herum, dass es um jemand anders gehen musste. Maier. Ein Dienstjubiläum? Zwanzig Jahre? Er hätte nicht sagen können, wie lange es her war, dass Richie von der baden-württembergischen zur bayerischen Polizei gewechselt war. Allerdings: Wenn es um ihn gegangen wäre, würde er sich sicher nicht so vornehm zurückhalten. Also Strobl. Vielleicht ja doch eine Beförderung? Eigentlich unmöglich, dann würde Eugen mit ihm gleichziehen. Schließlich war Kluftinger selbst seit … Kluftinger stutzte – vor wie vielen Jahren war er damals in den Polizeidienst eingetreten? Polizeischule mit neunzehn. Er versuchte zu überschlagen. Mit Mitte zwanzig dann der Eintritt in die Kriminalpolizei. Mitte zwanzig? Sollte heute sein dreißigjähriges Dienstjubiläum bei der Kripo Kempten sein? Das könnte ziemlich genau hinkommen. Noch einmal sah er in die Gesichter der anderen. Alle lächelten ihn an. Sie warteten auf eine Rede. Natürlich, ein paar launige Worte zu seinem Jubiläum. Die Anspannung wich von ihm. Er zupfte seinen Janker zurecht und legte los.

»Meine lieben … Kollegen, liebe … andere Anwesende. Schön, dass ihr hier zusammengekommen seid, es freut und ehrt mich gehörig. Wie ich hier seinerzeit als junger Beamter angefangen habe, da war ich noch … jung … also relativ halt. Dreißig Jahre ist das jetzt her …«

»Herr Kluftinger, jetzt warten S’ halt!«, unterbrach ihn sein Vorgesetzter. Der Kommissar stutzte über den wenig feierlichen Ton, den Lodenbacher anschlug. An seinem großen Tag könnte der ja schon ein wenig netter sein.

»Wir wollen schließlich ned ohne die Hauptperson beginnen. Es geht ja ned bloß allweil um Sie!«

Kluftinger schluckte. Also doch nicht sein Jubiläum. Lodenbacher legte ihm eine Hand auf die Schulter und nahm ihn beiseite.

»Wissen Sie, Herr Kluftinger«, begann er leise, »amol unter uns, was Eahna, ich mein Ihnen, auch nicht schaden daad … dät … äh … würde, wär ein Rhetorikkurs mit Sprecherziehung. Sind ja auch ein Vorgesetzter … irgendwie!«

Der Kommissar runzelte die Stirn.

»Ja, Sie stöpseln halt schon allweil recht rum. Und die erziehen Ihnen auch Ihren graißlichen Dialekt ein bisserl ab, ned? Mir hat dös wahnsinnig gutgetan. Ich hab gleich nach meiner Beförderung einen Wochenendkurs bei dem Münchener Promitrainer gebucht. Bei dem sind auch die ganzen Schauspieler, wissen S’? Und Moderatoren und so weiter. Konn ich Eahna … Ihnen … nur empfehlen. Ned ganz billig, aber guat!«

Ein zaghaftes »Mhm« war alles, was Kluftinger herausbrachte. Tatsächlich war ihm schon aufgefallen, dass bei Lodenbacher weniger niederbayerische Färbung zu hören war als noch vor ein paar Monaten. Allerdings hatte er im Moment andere Sorgen, schließlich musste er seine ungehaltene Rede geistig gerade noch einmal umschreiben. Zunächst galt es aber herauszufinden, welcher Hauptperson diese gelten sollte. Noch einmal blickte er in die Runde. Lediglich Sandy Henske fehlte. Wäre sie doch bloß hier! Sie hätte ihm bestimmt helfen können.

In diesem Moment ging die Tür auf, und seine Sekretärin betrat den Raum: Sie trug ein hautenges, mattschwarzes Minikleid und derart hochhackige Schuhe, dass dem Kommissar schon beim Anblick schwindlig wurde. Ihre zurzeit wasserstoffblonden Haare hatte sie hochgesteckt, nur eine Strähne fiel ihr ins Gesicht. Perlenohrringe und ein knallrotes seidenes Halstuch komplettierten das Bild. Auf einmal begriff Kluftinger, um wen es heute ging. Auch die anderen ließ der Auftritt der Sächsin nicht unbeeindruckt: Während Strobl leise pfiff, entfuhr Hefele ein etwas zu lautes »Brutal!«.

Alle Köpfe ruckten herum und sahen ihn an. Sein Gesicht nahm schlagartig eine ungesunde dunkelrote Färbung an. Mit einem beschämten Räuspern wandte er sich ab und stopfte sich noch ein paar Häppchen in den Mund.

»Alle Achtung, Frau Henske!«, sagte Lodenbacher und deutete einen Applaus an.

Sandy lächelte.

Maier, der sich unbemerkt hinter Kluftinger gestellt hatte, flüsterte ihm ins Ohr: »Jetzt aber wirklich! Das ist keine angemessene Kleidung für eine Polizeidienststelle! Ich komm schließlich auch nicht in meiner Badehose!«

»Gott sei Dank, Richie«, raunte Kluftinger flüsternd zurück. »Und jetzt sag mir lieber mal, worum es da überhaupt geht!«

Doch Maier kam nicht zu einer Antwort, denn sein Chef wurde von Lodenbacher nun unsanft in die Mitte des Raumes geschoben, und erneut sahen ihn alle erwartungsvoll an. Sandy strahlte mit ihren makellos weißen Zähnen übers ganze Gesicht. Maier tippte auf seinem Handy herum, hielt es wie eine Videokamera vor sich und filmte in Kluftingers Richtung.

Die Gedanken rasten durch Kluftingers Kopf. Dienstjubiläum? Geburtstag? Die wenigsten Fehltage? Mitarbeiterin des Jahres? Kurzerhand entschied er sich für eine der vielen Möglichkeiten. Es gab Situationen im Leben, da musste man einfach alles auf eine Karte setzen. »Liebes Fräulein Henske, liebe Sandy!«, hob er an und bemühte sich, dabei weniger dialektal zu klingen als sonst, »wenn man sich andere Vierzigjährige so anschaut …«

Sandy riss entsetzt die Augen auf. Priml, dachte Kluftinger. Daneben. Er wandte seinen Blick zum Boden: Dort kauerte Maier mit seinem Telefon, offenbar um ihn aus der Froschperspektive zu filmen. Das erleichterte ihm die Konzentration auf die schwierige Rede nicht gerade. Fahrig fuhr er fort: »… sind diese anderen Vierzigjährigen doch deutlich weniger kindisch als du, Richie! Jetzt reiß dich halt mal zusammen und steh auf, Herrgott!«

Maier erhob sich langsam, wobei er keinen Moment das Smartphone senkte. Stattdessen kommentierte er murmelnd: »Hier sehen Sie den leitenden Hauptkommissar Kluftinger, der nun endlich eine kleine Laudatio auf unsere Sandy Henske halten wird.«

»Was machst denn du da überhaupt?«, zischte Kluftinger.

»Vorsicht, wird alles aufgezeichnet!«

»Jetzt mach’s mal aus, Kruzifix!«

»Wieso? Es soll doch eine schöne Erinnerung werden, ein Andenken für Sandy!«

Hoffnung keimte in Kluftinger auf: »Ein Andenken … woran?« Er versuchte, dabei so gleichmütig wie möglich zu klingen, musste sich aber eingestehen, dass es eher einem Flehen gleichkam.

»Ja, an das heutige Ereignis halt!«

Lodenbacher räusperte sich lautstark.

So kam er nicht weiter, das war Kluftinger klar. Kein Geburtstag, also Dienstjubiläum.

»Liebes Fräulein Henske, oder, wie wir Sie in all den Jahren genannt haben, liebe Sandy«, hob der Kommissar wieder in feierlicherem Ton an, »ach, all diese Jahre – sind sie nicht viel zu schnell vergangen? Diese wunderbaren … sagen Sie, wie lange sind Sie jetzt hier bei uns bei der bayerischen Polizei?«

»Dreizehn Jahre sind es jetzt schon, Chef!«

Kruzifix!

»Aber in Bayern bin ich ja schon ein bisschen länger, nicht wahr. Gut zwanzig Jahre, kaum zu glauben!«

Na also, seufzte Kluftinger innerlich. War ja auch Zeit geworden! »Ja, wenn ich mir vorstelle, was für eine harte Zeit das für Sie gewesen sein muss, diese Flucht!«

Sandys Stirn bewölkte sich.

Au weh, dachte sich der Kommissar, jetzt kommen bei ihr die Erinnerungen hoch.

»Wir alle haben noch die Bilder im Kopf von den überfüllten Botschaften in den Ostblockländern. Schwierige Verhältnisse müssen das gewesen sein.«

Kluftinger hielt für einen Moment inne. Alle starrten ihn an, auch Lodenbacher schien er in den Bann gezogen zu haben. Von wegen Rhetorikkurs! Sandy hatte feuchte Augen bekommen.

»Gut zwanzig Jahre, ja. Die grüne Grenze, Sie müssen furchtbare Angst gehabt haben. Es gab ja kein Zurück! Hatten Sie denn überhaupt ein Auto zur Verfügung? Sind Sie denn über Ungarn rübergekommen? Durch ein Loch im Eisernen Vorhang in die große Freiheit? Was haben Sie denn damals mit Ihrem Begrüßungsgeld gemacht?«

Sandy schluchzte nun laut auf. Kluftinger blickte die anderen nach Bestätigung suchend an. Ja, wenn es emotional wurde, dann wusste er, welche Worte man wählen musste. Seine jahrzehntelange Laienspielerfahrung tat dabei natürlich das Ihrige. Gut, dass Richard Maier diesen Moment für immer festgehalten hatte.

Lodenbacher drehte sich irritiert zu Maier, der gerade über seine Schulter filmte, und fragte konsterniert: »Was hot denn des oiß mit dem Anlass zum tun?«

»Fräulein Henske, schämen Sie sich Ihrer Tränen nicht!« Kluftinger hatte sich geradezu in einen Rausch geredet. »Gerade heute, an Ihrem großen Tag!« Er ließ seine Worte ein wenig verklingen. Diese Sprache! Unglaublich, wozu er unter Stress fähig war! Er zwinkerte in Maiers Handykamera.

»Ach ja?«, brach es nun aus der Sekretärin heraus. »Worum geht’s denn heute? Sie haben … es … ver…« Der Rest des Satzes ging in einem heiseren Schluchzen unter.

Hefele stellte sich eilig neben sie, hielt ihr ein Papiertaschentuch hin und legte ihr zaghaft eine Hand auf die Schulter. Dann warf er Kluftinger einen tadelnden Blick zu.

Maier fuchtelte mit dem Handy dicht vor Sandys Gesicht herum. »Könntest du noch einmal schnäuzen und danach so nett aufschluchzen? Das hab ich nicht in der Nahaufnahme draufbekommen!«

Da streckte Hefele seine Hand aus und bedeckte damit das Objektiv. »Herrgottzack, Richie, jetzt hör mal mit dem Schwachsinn auf! Siehst du nicht, wie’s der Sandy geht? Jetzt verschwind und lass sie in Ruh, sonst hau ich dir das Ding um die Ohren!«

Wortlos machte Maier einige Schritte zur Seite. Dann streckte er seinen Arm aus, richtete das Objektiv auf sein Gesicht aus und sagte: »Dienstag, siebter September, soeben wurde ein heftiger, jähzorniger Wutausbruch des Kollegen Hefele dokumentiert. Hat sich in Stresssituationen immer weniger unter Kontrolle, gerade wenn er emotional stark involviert ist. Eventuell Kontaktaufnahme mit dem psychologischen Dienst vonnöten!«

»Dich sollten sie einweisen, du G’schaftlhuber!«

»Erneute Unbeherrschtheit …«, brachte Maier noch heraus, dann riss ihm Hefele das Telefon aus der Hand.

Kluftinger und Strobl sahen sich bedröppelt an. Vielleicht ist sie schwanger, schoss es Kluftinger durch den Kopf. Auch Erika hatte in diesem Zustand bei jeder Gelegenheit Tränen vergossen. Er würde Sandy in den nächsten Tagen im Auge behalten, um das herauszufinden.

Maier hatte inzwischen seinen ersten Schreck überwunden und wollte sich sein Telefon zurückholen, das Hefele jedoch in gebückter Haltung mit seinem Körper schützte.

Plötzlich übertönte ein Schreien den Tumult: »Schluss jetzt! Mir san doch da nicht bei den Hottentotten! Ned? Was soll denn des?« Lodenbachers Kopf war knallrot angelaufen. »Reißen S’ Eahna zamm, mir sind da ja nicht auf dem Pausenhof! Und wos hat dieses ganze Geschwafel von Eahna mit der Lebenszeitverbeamtung von Frau Henske zum tun, Kluftinga?«

Lebenszeitverbeamtung! Kluftinger schlug sich gegen die Stirn. Aber da konnte man doch beim besten Willen nicht draufkommen. »Ja, ich wollt ja grad drauf zu sprechen kommen. Also, so eine Verbeamtung, liebe Frau Henske, die ist ja heutzutage gerade im Verwaltungsdienst gar nicht mehr so häufig, gell? Die meisten bleiben im Angestelltenverhältnis und verdienen dadurch weniger. Umso mehr freut …«, begann er erneut, doch Sandy fuhr mit starrem Blick herum.

Dann rief sie unter Tränen: »Geben Sie sich keine Mühe, Chef! Übrigens: Ich bin mit einem VW Golf aus Dresden gekommen. Über die Autobahn. 1991 gab’s die nämlich schon!« Dann stürmte sie aus dem Raum und knallte die Tür hinter sich zu.

Keine zwei Sekunden später öffnete die sich wieder, und Gerichtsmediziner Georg Böhm trat ein. Als er in die erhitzten Gesichter der Anwesenden blickte, schnalzte er mit der Zunge und sagte: »Mist, da hab ich wohl wieder was verpasst!«

»Ich muss schon sagen: An dir ist ein Komiker verloren gegangen. Schad, dass ich nur so wenig mitbekommen hab.« Böhm zog seine hellblaue Baseballkappe vom Kopf und rubbelte sich die kurz geschorenen Haare. »Also wirklich, Klufti, bei dir ist einfach immer was geboten!«

Kluftinger warf seinem schelmisch grinsenden Gegenüber einen zerknirschten Blick zu. »Jaja, Hauptsach, du hast deinen Spaß«, sagte er, nachdem er seine Bürotür hinter sich zugezogen hatte. »Ich mein, ich muss das mit der Sandy ja jetzt wieder ausbaden. Himmelherrgott, bloß, weil ich eine einzige Mail ausnahmsweise mal nicht gelesen hab. Früher hat man sich die wichtigen Sachen doch auch einfach so gesagt, oder? Heut muss man immer erst ein Memo schreiben oder einen Termin im … Mail anmelden.«

Böhm pfiff durch die Zähne. »Respekt. Der leitende Herr Hauptkommissar steht jetzt auf Du und Du mit der modernen Kommunikationstechnik, scheint’s!«

Kluftingers Augen verengten sich. Prüfend sah er den Pathologen an. Es gab nicht viele, die so mit ihm reden durften. Böhms Respektlosigkeiten waren jedoch regelmäßig der Auftakt zu ausgefeilten Wortgefechten. Manchmal war sich der Kommissar allerdings nicht sicher, ob der junge Mann tatsächlich nur einen Spaß machte.

»Du hast leicht reden«, gab er murrend zurück. »Die Menschen, mit denen du dich bei deiner Arbeit so umgibst, die beschweren sich nicht, wenn du ihnen eine Rede hältst, die sie für nicht angemessen halten, oder wenn du mal ihren Geburtstag oder ihre Beförderung vergisst.«

»Treffer. Hast schon recht, die sind unkomplizierter. Meistens. Mir persönlich aber ein bisschen zu zurückhaltend, wenn ich mich mit ihnen unterhalten will.«

Wieder musterte ihn der Kommissar. Er kannte ein paar Pathologen, und nicht wenige von ihnen hatten einen leichten Hau, wie er es zu sagen pflegte. Kluftinger konnte das nur zu gut verstehen. Allein beim Gedanken, tagtäglich von Leichen umgeben zu sein, wurde ihm ganz anders. Und ihm war klar, dass es ihn buchstäblich um den Verstand bringen würde, wenn er an ihnen auch noch rumschnippeln müsste. Aber er wusste auch, dass Böhm das wusste und sich in der Vergangenheit immer wieder einen Spaß daraus gemacht hatte, Kluftingers Grenzen der Leichenunverträglichkeit auszutesten.

»Ganz ehrlich, Schorschi«, erwiderte Kluftinger, weil er wusste, dass zu den wenigen Dingen, die Böhm aus der Fassung bringen konnten, die Verballhornung seines Namens gehörte. »Ich glaub, du solltest öfter mal unter Menschen. Also: atmende, mit einer Körpertemperatur oberhalb des Gefrierpunkts und einer Gesichtsfarbe, die …«

In diesem Moment flog die Tür auf, und ein sichtlich erregter Lodenbacher stürmte herein. »Naa, naa, Kluftinga, no amoi, des is … i moan, des ko ned sei. Ned amoi a läppische Urkundenverleihung kenna Sie anständig über die Bühne bringen. Seit i so weit weg bin, is des oiß nix mehr.«

Der Kommissar hob die Augenbrauen: Tatsächlich hatte er genau das gegenteilige Gefühl.

»Jetzt schaung S’ aber, dass Sie de hoaklige Soch do wieder hibiagn«, schimpfte der Polizeipräsident und schien in der Erregung seine mühsam und teuer erworbenen Rhetorikkenntnisse komplett zu vergessen. Er habe sich persönlich beim Ministerium dafür eingesetzt, dass Fräulein Henske nach ihren dreizehn Dienstjahren noch verbeamtet werde. Im Übrigen bedeute ihre Ernennung, dass sie nun neben den klassischen Aufgaben als Sekretärin auch mit anderen Verwaltungsaufgaben der Kripo betraut werde und nun wohl öfters Wichtigeres zu tun habe, als Kluftinger und seinen Männern Kaffee zu kochen.

Dann knallte er die Ernennungsurkunde auf Kluftingers Schreibtisch. »I hob koa Zeit für an so an Schmarrn, i muaß zum Golfen mit dem Herrn Landrat.« Er hob mahnend den Zeigefinger: »Aber i überleg mir was, wie i wieder mehr zu meine Leut komm.« Mit diesen Worten lief er ebenso ungestüm aus dem Büro, wie er es kurz zuvor betreten hatte.

Zwei ratlose Gesichter blickten sich an.

»Klingt wie eine Drohung«, bemerkte Böhm.

»Immer, wenn es um seine Führungsqualitäten geht, sind wir seine Leut«, maulte der Kommissar.

»Ist doch nett. Sag ich zu meinen Leichen auch immer.«

Angewidert verzog Kluftinger das Gesicht.

»Was war denn eigentlich genau los?«

Kluftinger winkte ab. »Weiber!« Dann rückte er etwas auf seinem Stuhl nach vorn und fügte verschwörerisch hinzu: »Wahrscheinlich schwanger.«

Wieder pfiff der Pathologe. »Wirklich? Nicht schlecht, Herr Specht. Die Sandy hat doch früher nix anbrennen lassen. Wird sie jetzt häuslich oder was? Und wer ist denn der Glückliche?«

»Was weiß denn ich? Meinst du, die erzählt mir so was? Da verliert man eh den Überblick. Und überhaupt tät es mich auch gar nicht interessieren.«

»Verstehe. Mich allerdings schon. Na ja, muss ich halt bessere Quellen anzapfen. Jetzt aber zu was anderem: Du solltest mal mitkommen, ich hätt da nämlich was für dich.«

»Mitkommen? Mit dir?« Kluftinger zog besorgt die Augenbrauen zusammen.

»Ja. Ich fahr dich auch und bring dich wieder her, versprochen.«

»Wohin?«

»Na, nach Memmingen halt, in mein Büro.«

Der Kommissar seufzte. Er wusste, dass das Böhms Bezeichnung für seine Leichenkammer war. »Wart mal, ich schau mal in meinem Kalender, ob ich heut noch irgendwelche Termine hab.« Er tippte auf seinem Rechner herum, wobei sich plötzlich die E-Mail von Lodenbacher öffnete, in der er die Urkundenverleihung von heute ankündigte. Der letzte Satz der Nachricht lautete: »… und geben Sie sich bitte besonders Mühe, Sie wissen, wie sensibel Frau Henske ist.«

Mit einem Seufzen löschte Kluftinger die Nachricht.

Böhm stand auf. »Jetzt komm schon mit. Oder hast du in deinem Mailprogramm irgendwas Wichtiges gefunden, was dagegen spricht?«

»Ja, Kruzifix, ich komm ja«, grummelte Kluftinger zurück.

Als sie am Schreibtisch von Sandra Henske vorbeikamen, sagte Kluftinger: »Bitte, Fräulein Henske, verschieben Sie doch bitte … alle wichtigen Termine heute. Der Böhm will mir was …«, er schluckte, »zeigen.«

Die Sekretärin quittierte das mit einem gleichgültigen Achselzucken.

»Ja, aber vorher noch herzlichen Glückwunsch, Sandy«, sagte Georg Böhm eifrig und streckte ihr die Hand entgegen. »Find ich echt toll.«

»Danke, Georg. Endlich gratuliert mir hier mal jemand anständig«, erwiderte sie mit einem Seitenblick auf Kluftinger.

»Wann ist es denn so weit?«

Irritiert blickte Sandy den Pathologen an. »Wie jetzt? Heut. Heut ist es doch so weit.«

Der Pathologe legte die Stirn in Falten, machte dann aber eine wegwerfende Handbewegung und sagte: »Jetzt beginnt eine sehr schwere, aber auch sehr schöne Zeit. Ab jetzt ist schonen angesagt, gell? Das sag ich dir als Arzt!«

Sandy grinste. »Ja, genau wie bei uns in den Behörden in der DDR, nich wahr?«

Kluftinger fröstelte beim Anblick der mit grünem Tuch abgedeckten Körper, die auf den Edelstahltischen lagen. Nur gut, dass ich heut noch nichts gegessen hab, dachte er, als die Übelkeit ihm unaufhaltsam den Magen umdrehte. Sein letzter Besuch hier im Keller des Memminger Klinikums war schon eine ganze Weile her. Damals hatte er sich nicht nur die Leiche eines Mannes, sondern auch die einer Krähe ansehen müssen, und das Ganze hatte für ihn auf der Toilette geendet. Er versuchte krampfhaft an das Lied zu denken, das er in solchen Fällen immer innerlich anstimmte. Wie ging das noch?

Ein weißes Boot im Sonnenglanz … »Was willst du mir denn eigentlich zeigen?«

Böhm begab sich zu einem der Tische … und du schenkst mir den Blütenkranz …

Kluftinger versuchte sich auf alles vorzubereiten, was da kommen könnte. Verstümmelungen? Verätzungen? Ich folgte dir ins Paradies …

»Weißt du eigentlich, wie viele Morde jährlich unentdeckt bleiben?« Mit diesen Worten schlug der Pathologe das Tuch zurück.

… ein Märchenland, das Barbados hieß. Kluftinger stutzte. Unter dem grünen Tuch kam der Kopf einer sehr korpulenten alten Frau zum Vorschein. Auf ihrem Gesicht lag ein friedlicher Ausdruck, der ihn an seine Großmutter erinnerte, die mit einem Lächeln um die Lippen entschlafen war.

Als er, verwirrt von dem Anblick, der viel weniger grausam war, als er erwartet hatte – jedenfalls über die Tatsache hinaus, dass er auf eine Leiche blickte –, wieder in Böhms Gesicht schaute, merkte er, dass der auf eine Antwort wartete. »Hm?«

»Morde? Unentdeckt?«

»Ja, unentdeckte Morde. Schlimm.« Wartete unter dem Tuch noch eine weitere Überraschung? Die Frau ohne Unterleib oder etwas in der Richtung?

»Herrgott, jetzt konzentrier dich halt, ich versuch dir hier was zu sagen. Aber ich seh schon, mit Pädagogik kommen wir hier nicht weiter. Also gut, dann eben Frontalunterricht: nach neuesten Schätzungen etwa tausendzweihundert.«

Kluftinger starrte ihn fragend an.

»Morde. Die nicht entdeckt werden.«

Der Kommissar kniff die Augen zusammen: »Willst du jetzt unsere Arbeit kritisieren, oder was? Du weißt doch, dass wir tun, was wir …«

»Nein, jetzt hör halt zu. Ich spreche nicht von denen, die nicht aufgeklärt werden. Nein, tausendzweihundert Morde, die gar nicht erst entdeckt werden, die gar nicht in die Statistik eingehen. Schau, zum Beispiel diese Frau hier: Maria Zahn aus Kempten. Tot aufgefunden in der ehemaligen Autowerkstatt ihres Mannes: Die hat der Hausarzt bei der Leichenschau … na ja … untersucht, aber eine falsche Todesursache festgestellt.«

Kluftinger fiel es schwer, hier einen klaren Gedanken zu fassen, aber er versuchte krampfhaft, Böhms Ausführungen zu folgen. »Ach so, du meinst, der Hausarzt hat sie …«

»Nein, Schmarrn, das mein ich nicht, ich meine, dass die Hausärzte gar nicht dafür ausgebildet sind, dass sie gewaltsame Tode feststellen. Liegt wie immer am Geld. Weißt du, was die für eine Leichenschau kriegen? Lausige fuffzig Euro zum Beispiel in Berlin, bei uns so um die hundert, aber mit allem Drum und Dran, der ganze Verwaltungskram und so. Ich mein, da würd ich mir auch kein Bein ausreißen. Viele ziehen die Toten nicht mal aus, was eigentlich Pflicht wäre.«

»Kann ich verstehen«, murmelte Kluftinger.

»Hm?«

»Du meinst, wir hätten tausendzweihundert Morde mehr zu bearbeiten, wenn die das gründlicher machen würden?«

»Genau, jetzt hast du’s. Die Zahl gilt allerdings für ganz Deutschland, keine Ahnung, wie viele davon für uns abfallen würden. Ich mein, man muss nur mal bedenken, dass bei uns nur zwei Prozent der Leichen obduziert werden, in Österreich macht man das zum Beispiel schon mal bei zwanzig Prozent. Immerhin soll es besser werden, es gibt da jetzt einen neuen Beschluss, nach dem wir die Hausärzte für so was schulen sollen. In anderen Ländern ist das eh schon längst so. In unserem Fall jedenfalls hatten wir Glück, weil die Frau verbrannt werden sollte. Und da wird standardmäßig obduziert, was die meisten nicht wissen. Sonst hätte niemand entdeckt, dass die Frau keineswegs an Herzversagen als Folge einer Vorerkrankung und ihres Übergewichts gestorben ist, wie das der Arzt vermutet hat, sondern daran.« Böhm zog das Leintuch noch ein bisschen mehr zurück, zeigte auf ihren Hals und winkte Kluftinger näher zu sich.

»Herrgott, Georg, wenn’s der Arzt nicht gesehen hat, werd ich’s auch nicht feststellen. Sag halt einfach, was los ist.«

»Ja, ja, schon gut. Hier sind ganz klar Würgemale zu erkennen. Jedenfalls, wenn man danach sucht.«

Der Kommissar stieß einen leisen Pfiff durch die Zähne aus. »Wie alt ist die Frau noch mal?«

»Zweiundachtzig laut Totenschein. Ich geh mal davon aus, dass das stimmt.«

»Sie ist mit zweiundachtzig noch erwürgt worden?«

»Ja, und?«

»Rentiert sich doch gar nimmer.«

Sie sahen sich an.

»Und jetzt?«, fragte der Kommissar.

»Jetzt bist du dran.«

»Aha. Klingt wie eine Drohung.«