Die Nacht zuvor
Es war eine jener nebligen Herbstnächte, wie es sie oft gab, hier im Allgäu, vor allem am Flusslauf der Iller. Magnus sog die kühle, feuchte Luft in seine Lungen und freute sich darüber. Die Bedingungen hätten besser nicht sein können. Manchmal spielte eben auch die Natur, eine der großen Unbekannten in all ihren Gleichungen, wie ein Verbündeter mit.
Christophorus lenkte ruhig und besonnen. Er, der sonst so nervös wirkte, war hinter dem Steuer in seinem Element. Die anderen saßen schweigend und konzentriert auf ihren Plätzen. Magnus blickte auf den Fluss, der sie umgab. Es war das erste Mal, dass er mit einem Boot zu einem seiner Projekte, wie er es nannte, fuhr. Das verlieh dem Ganzen einen besonderen Charme, und es passte irgendwie zu der Kulisse, die sie erwartete. Der Grund für ihre außergewöhnliche Anreise war freilich ein anderer: Falls da oben doch irgendwelche Streifen patrouillieren sollten, so verschafften sie sich auf jeden Fall unentdeckt Zugang.
Er erinnerte sich an die Worte seines Lehrmeisters: Das Problem ist nicht der Bruch, sondern das Wegkommen danach!, hatte er ihm eingetrichtert.
Jetzt spürte er, wie Christophorus den schallisolierten Außenbordmotor drosselte. Fast lautlos glitten sie über die Wasseroberfläche. Das Boot stellte sich in der leichten Strömung quer. Sie waren fast da. Lucia packte die Tasche mit ihren Utensilien fester, Georg begann vorsichtig mit ein paar Dehnübungen, Servatius, Wunibald und Nikolaus starrten in die Nacht. Magnus legte einen Finger auf seinen Mund, auch wenn keiner ein Wort sprach. Das sollte bedeuten: Ab sofort bis zu ihrer Abfahrt würde kein Laut mehr über ihre Lippen kommen.
Das Knirschen der Sandbank unter dem Kiel verriet ihnen, dass sie ihr erstes Ziel erreicht hatten. Sie schwangen sich aus dem Boot; nur Christophorus blieb zurück. Er reckte zum Abschied aufmunternd den Daumen.
Magnus streckte seine Uhr nach vorn, und sie synchronisierten erneut die Zeit. Es kam auf jede Sekunde an. Noch einmal trafen sich ihre Blicke, dann bahnten sie sich ihren Weg zum Waldrand. Auch wenn der fast volle Mond hell schien, war hier in den Bäumen und zwischen all den Nebelschwaden kaum etwas zu erkennen, sie mussten langsam gehen. Am Fuß des Weges, der nach oben auf die Lichtung mit der Ruine führte, trennten sich schließlich ihre Wege.
Magnus klopfte Georg ein letztes Mal auf die Schulter und nickte ihm zu, dann machte sich der kleine, drahtige Mann allein auf den Weg. Er pirschte noch ein Stück weiter am Ufer entlang in Richtung des Steilhangs und blickte hinauf: Sicher, es würde nicht einfach werden, aber das hier war ganz nach seinem Geschmack. Ohne zu zögern, kletterte er in die Wand.
Er war selbst erstaunt, wie wenig Geröll er auf seinem Weg nach oben löste.
Er hing jetzt etwa auf halber Höhe zwischen Ufer und Lichtung, und aus der Ferne musste er aussehen wie ein nachtaktives Insekt an einer Hauswand. Er kniff die Augen zusammen und blickte hinauf: Der Eingang des Schachtes konnte nur noch ein paar Meter entfernt sein. Und tatsächlich, schon zwei Armlängen weiter oben entdeckte er ihn: Es war mehr eine vage gähnende Schwärze, aber es gab keinen Zweifel. Er zog sein GPS-Ortungsgerät aus dem Rucksack. Ihm war schleierhaft, wie seine »Kollegen« früher diese Dinge bewältigt hatten, aber er dachte nicht wirklich darüber nach. Es gab diese Hilfsmittel, und damit war es ein Leichtes, etwa den Verlauf eines unterirdischen Ganges auszukundschaften – dank Kreiselkompass sogar ohne Satellitenverbindung.
Magnus hatte die Idee mit dem Gang gehabt und damit voll ins Schwarze getroffen. »Burgen hatten immer das Problem der Wasserversorgung«, hatte er gesagt und daraus geschlossen: »Bestimmt gab es da mal einen Brunnen und einen entsprechenden Schacht.« Sie hatten ein bisschen nachgeforscht und waren schnell auf historische Berichte gestoßen, die genau das belegten. Einer davon, der von vier mutigen Burschen erzählte, die in der Steilwand diesen Schacht entdeckt hatten, war besonders hilfreich gewesen. Vor wenigen Wochen hatten auch sie den Schacht entdeckt, den genauen Verlauf ausgelotet und dabei festgestellt, dass er bis ganz in die Nähe des Museums führte. Sie hatten das vermutet, besser gesagt: gehofft, aber dass er fast bis zum Haus ging, hatten sie dann doch kaum glauben können. Es war nur noch eine unbedeutende Grabung zu erledigen gewesen.
Er biss die Zähne zusammen. Dieser Job war nur etwas für Leute mit Nerven aus Stahl, dachte er, während er durch die quälende Enge kroch. Er hatte seine Stirnlampe eingeschaltet, auch wenn er eigentlich kein Licht gebraucht hätte. Doch dieser schwache Schein, dieses bisschen Helligkeit beruhigte ihn.
Ein Geräusch ließ ihn innehalten. Es klang wie ein Plätschern. Oder vielleicht … Seine Augen weiteten sich. Er sah, wie Staub von der Decke des Ganges in den Strahl der Lampe rieselte. Die Körner, die sich von der Decke lösten, wurden immer größer. Georg zog den Kopf ein und schlug seine Arme darüber, auch wenn ihm das nur wenig nutzen würde: Wenn der Gang jetzt einstürzte, wäre das nicht nur das Aus für ihr gemeinsames Vorhaben – sondern auch sein Ende. Panik flackerte in ihm auf. So wollte er nicht abtreten. Gehetzt sah er sich um – nein, der Ausgang war zu weit entfernt, und er hätte rückwärts kriechen müssen. Er blickte wieder nach vorn. Wenn er schnell war, dann … Er hielt inne. Erst jetzt merkte er, dass es längst aufgehört hatte zu bröckeln. Die Angst hatte ihm kurzzeitig die Sinne vernebelt. Er atmete auf und kroch weiter. Vorsichtiger und langsamer als zuvor.
Zur gleichen Zeit bahnte sich Magnus mit seiner Truppe den Weg durch den Wald. Zarter besaiteten Menschen wäre es wohl eiskalt den Rücken hinuntergelaufen angesichts der Nebelschwaden, in denen sich ab und zu das kalte Mondlicht fing, und bei den undefinierbaren Geräusche, die zu dieser späten Stunde dunkle Ängste heraufbeschworen. Doch sie hatten wirklich andere Sorgen als die Bedrohlichkeit eines nächtlichen Waldes. Sie hatten nun die Stufen erklommen, die auf die Lichtung führten. Zügig überquerten sie die Wiese, liefen vorbei an dem verfallenen Turm, der bleich wie ein riesiger Totenschädel emporragte. Jetzt waren es nur noch wenige Meter bis zum Museumsareal. Magnus drehte sich um und nickte den anderen zu. Sie kannten die toten Winkel der Überwachungskameras, doch für die Wärme- und Bewegungssensoren hatten sie sich etwas Besonderes einfallen lassen müssen: Jeder hielt einen fast körperhohen, selbst gebauten Polyesterschild in der Hand, mit dem sie ihre Körper vor den Sensoren abschirmten. Damit pirschten sie sich in gebückter Haltung an das Museumsgebäude heran. Im Mondschein mussten sie dabei aussehen wie Ritter auf einem nächtlichen Kreuzzug.
Georg hatte es inzwischen geschafft: Vor ihm tauchte im Schein seiner Stirnlampe eine frisch verputzte Wand auf. Er atmete einen Moment durch. Erst jetzt merkte er, dass er schweißgebadet war. Er öffnete den Reißverschluss des völlig verdreckten Rucksacks, den er die ganze Strecke vor sich hergeschoben hatte, und entnahm ihm einen Hammer. Damit begann er zunächst ganz leicht, dann etwas fester gegen die Wand vor ihm zu klopfen. Am Anfang hielt er noch nach jedem Schlag inne, ob sich irgendetwas tun würde, doch seine Schläge verhallten ungehört. Also hämmerte er weiter, bis sich ein kleines Löchlein auftat. Er vergrößerte es schnell, legte den Hammer weg und machte mit den Händen weiter. Die Fliesen ließen sich leicht entfernen. Wunibald hatte gute Arbeit geleistet. Schließlich war das Loch groß genug, er zog sich mit beiden Händen heraus und schwang sich akrobatisch hindurch, landete auf einer Kloschüssel und hielt wieder für einen Moment den Atem an. Doch es war nichts zu hören. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er sogar zwei Minuten schneller gewesen war als geplant. Nicht schlecht, dachte er, so hätte er noch Zeit, einem menschlichen Bedürfnis nachzugeben. Er schlich sich aus der Kabine, wobei ihm die Stirnlampe den Weg wies. Hier drin gab es weder Kameras noch Sensoren, weswegen er sie noch benutzen konnte. An einem der an der Wand angebrachten Urinale ließ er der Natur seufzend ihren Lauf. Als er weitergehen wollte, begann es auf einmal heftig zu zischen, und er zuckte derart zusammen, dass sein Herz einen Schlag auszusetzen schien: die automatische Spülung. Allmählich beruhigte er sich wieder, aber er hätte sich ohrfeigen können. Es war leichtsinnig gewesen, was er da gerade getan hatte. Er hoffte nur, dass Magnus nichts davon mitbekommen hatte.
Was war das?, durchfuhr es Magnus. Er stoppte und hielt die Hand hoch, worauf auch alle anderen sich nicht mehr bewegten. Sie hatten nichts bemerkt, aber Magnus verfügte über ein exzellentes Gehör, es war verblüffend, was er alles wahrnehmen konnte. Einmal hatte er das Auto eines Pizzaboten bereits eine halbe Minute vor dessen Eintreffen gehört.
Nachdem er etwa eine Minute regungslos dagestanden hatte, gab er den anderen ein Zeichen, weiterzugehen. Allerdings bewegte er sich nun wesentlich langsamer. Er schien besorgt zu sein. Und genau das machte die anderen nervös.
Georg holte tief Luft und konzentrierte sich wieder auf seine Aufgabe. Jetzt galt es, das Programm wie geplant abzuspulen, kühl, mechanisch, ohne nachzudenken. Er knipste seine Lampe aus und öffnete die Tür zum Treppenhaus, wo ihn absolute Schwärze umfing. Doch das war kein Problem: Er sah sich vor seinem inneren Auge durch die Grundrisspläne laufen, die er längst auswendig kannte. Er ging acht Schritte nach rechts bis zur Treppe, stieg die dreizehn Stufen hinauf, verharrte am Treppenabsatz, wandte sich nach rechts und wusste, dass er nun in der großen Ausstellungshalle stand. Wenn ihr Kontaktmann alles richtig gemacht hatte, dann müssten die Bewegungs- und Hitzesensoren dort lahmgelegt sein. Er lächelte, wenn er daran dachte, wie einfach diese hoch komplizierten Geräte außer Gefecht zu setzen waren: Ein bisschen Haarspray genügte, und die Hitzesensorik war blockiert. Das hielt zwar nicht lange vor, aber lange genug für sie. Und da die Dinger nur bei einer Kombination aus Wärme und Bewegung anschlugen, sollte er unbehelligt weiterkommen. Dennoch war ihm ein wenig mulmig zumute, denn er musste sich ganz auf die Arbeit eines anderen verlassen, noch dazu eines Laien. Schließlich marschierte er los, etwas zaghaft zunächst, obwohl es keine Rolle gespielt hätte, wenn die Sensoren scharf gewesen wären. Dann hätte die kleinste Regung genügt, um auszulösen. Doch nichts geschah. So schien es jedenfalls, denn ganz sicher konnten sie nicht sein, schließlich gab es auch stillen Alarm. Aber offenbar ging alles glatt.
Ein wenig erleichtert beschleunigte er seinen Schritt, dabei immer darauf bedacht, möglichst weit von den Vitrinen und den Laserlichtvorhängen, die sie sicherten, entfernt zu bleiben. Schließlich hatte er die Eingangstür erreicht, und hier fiel endlich auch wieder etwas Mondlicht durch ein Fenster in den Raum. Er blickte hinaus: Die anderen waren jetzt am äußeren Rand des toten Winkels angekommen, nun mussten sie kurzzeitig in das Sichtfeld der Kamera treten. Dies war der heikelste Teil ihres Unterfangens. Er sah, wie Magnus das Zeichen gab und sich alle schwarze Masken über die Köpfe zogen. Auch Georg stülpte sich eine über. Er blickte auf die Uhr. Die Überwachungskameras sendeten ihre Bilder direkt zur Zentrale der Sicherheitsfirma, wo sie alle dreißig Minuten routinemäßig gecheckt wurden. Sollte keiner der Sensoren anschlagen, würde es bei diesem Rhythmus bleiben. Dreißig Minuten, die ihnen reichen mussten, um ihre Aufgabe zu erledigen.
Magnus starrte gebannt auf den Sekundenzeiger seiner Uhr. Noch fünf, vier, drei, zwei … Es war so weit. Servatius trat als Erster in den Sichtbereich der Kamera, denn nun galt es, die Tür von zwei Seiten zu bearbeiten. Georg fixierte von innen die beiden Magnetplatten mit Klebeband und Plastikstäbchen und löste dann vorsichtig die jeweils vier Schrauben, mit denen sie an Tür und Türrahmen angebracht waren, damit das magnetische Feld intakt blieb. Wegen seiner geringen Körpergröße musste er dabei die ganze Zeit auf Zehenspitzen stehen. Währenddessen las Servatius aus dem Tastenfeld an der Tür die Kombination aus. Er hatte dazu ein kleines Programm geschrieben und brauchte nun nur noch sein Netbook mit den Kabeln des Tastenfelds zu verbinden. Der Südländer grinste. Keine zwei Minuten später war das Museum geöffnet – allerdings nur für ein paar ungebetene Gäste.
Servatius drehte sich um und nickte Magnus zu, der wiederum Lucia einen Klaps auf die Schulter gab. Wieder löste sich eine schwarze Gestalt geschmeidig aus dem Dunkel. Lucia ging lautlos an den beiden Männern vorbei und bewegte sich in Richtung der großen Halle. An deren Eingang blieb sie stehen. Sie brauchte die Augen nicht zu schließen, um sich zu konzentrieren, denn es war stockfinster. Nun würde sich zeigen, ob das Training ausreichend gewesen war. Wenn alles glattlief, würde sie sich in dem dunklen Raum zurechtfinden wie eine Blinde in ihrer Wohnung. Sie kannte jeden Winkel, jeden Sensor, jede Vitrine, hatte alles genau vor Augen – theoretisch jedenfalls. Vierzehn Schritte nach rechts, drei nach links, unter einer Lichtschranke durchtauchen, dann weitere fünfzehn Schritte bis zur Wand. Sie streckte die Hand aus – tatsächlich. Dort war das kleine Türchen, das ihr Zugang zur Stromversorgung des Gebäudeinnenraums gewähren würde. Nun begann der schwierigste Teil ihres Unterfangens: Sie musste blind einen Bypass legen, um so die restlichen Sensoren und die Laserlichtvorhänge zu deaktivieren, die die Vitrinen schützten. Sie öffnete die Klappe und begann damit, die Kabel zu ertasten. Alles war so, wie sie es aus ihren Übungsrunden kannte. Sie zog das mitgebrachte Kabel aus der Hosentasche und klemmte es sich zwischen die Zähne. Ihre Finger zitterten ein wenig, und sie hielt inne und rief sich noch einmal das Schaltbild der Drähte und Platinen ins Gedächtnis. Sie wusste, wie heikel diese Aufgabe war – der kleinste Fehler konnte alles verderben, denn hier ging es um sensible Elektronik: Von der Sicherungszentrale aus wurden Stromimpulse an den Schaltkasten gesendet, die wieder zurückgeschickt, also »beantwortet« wurden, wenn alles ruhig blieb. Das Auslösen eines Sensors hätte durch den Stromfluss dieses »Antworten« unterbrochen und sofort Alarm ausgelöst.
Sie schluckte, dann handelte sie so schnell und gewandt wie ein Pianist, der mit geschlossenen Augen eine komplizierte Komposition spielt, und entfernte anhand einer kleinen Klinge vorsichtig die Kunststoffummantelung zweier Kabel. Dies war besonders diffizil, denn ein Durchtrennen der nur millimeterdicken Kupferdrähte hätte das Ende ihres Unterfangens bedeutet. Sie zog den Draht aus dem Mund und klebte ihn mit Isolierband an die beiden freigelegten Kabel. Schließlich lächelte sie, steckte Klebeband und Klinge weg und nickte zufrieden: Der Bypass war gelegt. Nun wurden die Impulse beantwortet, ohne überhaupt bis zu den Sensoren zu gelangen. Es konnte losgehen.
Sie ging zurück und gab den anderen ein Zeichen, dass sie nun mit der eigentlichen Arbeit beginnen konnten. Georg und Nikolaus postierten sich draußen an zwei etwa zwanzig Meter voneinander entfernten toten Winkeln und warteten. Lucia ging mit Magnus in den Raum mit den Ringen und Edelsteinen. Servatius blieb im Hauptraum, um zu tun, was er als die eigentliche Krönung ihres Hierseins erachtete: Er sollte den Tresor knacken, in dessen Inneren die Monstranz lagerte. Doch zunächst nahm er den Feuerlöscher von der Wand, der direkt neben der Eingangstüre hing. Er drehte ihn, klopfte darauf und grinste, als es plötzlich hohl klang.
Mit seinen Fingernägeln zog er eine kleine Klappe auf und entnahm der Flasche ein Kästchen, dann hängte er den Löscher zurück. In einer Ecke kauerte er sich mit dem Gesicht zur Wand zusammen, führte das Kästchen ganz nah an seine Augen heran und legte einen kleinen Schalter um. Darauf sprang ein kleiner Bildschirm an und zeigte die offene Bodenplatte und den Tresor. Servatius war erleichtert. Auch wenn er nicht wirklich daran gezweifelt hatte, stand und fiel mit dieser Aufnahme doch ihr Plan. Und er hatte nicht so recht einschätzen können, inwieweit er Wunibalds Fähigkeiten als Handwerker hatte vertrauen können. Doch offensichtlich hatte der Dicke die kleine Kamera genau so angebracht, wie er es ihm eingetrichtert hatte, denn das Bild war glasklar und zeigte exakt den Ausschnitt, der für ihn so wichtig war: das Tastenfeld der Tresortür. Es dauerte auch nur ein paar Sekunden, dann schob sich eine Hand ins Blickfeld und tippte die Kombination ein. Das war fast zu einfach gewesen, dachte Servatius, als er den Bildschirm ausschaltete und das Kästchen in seiner Tasche verstaute. Dann ging auch er mit traumwandlerischer Sicherheit zum zentralen Verteilerkasten und ließ die Bodenplatte auffahren, was erstaunlich geräuschlos vonstattenging. Mit gierigem Blick sah er auf das schwach grünlich schimmernde Anzeigefeld, das dadurch freigelegt worden war.
Magnus und Lucia hatten sich vor die Vitrine gestellt. In diesem Nebenraum gab es ein Fenster, und das bisschen Mondlicht, das dadurch hereinfiel, ließ die Ringe silbern glitzern. Dies war der einzige Schaukasten, den sie plündern konnten, ohne dass es bemerkt würde. Jedenfalls bis die Monstranz enthüllt wurde. Und das war Magnus wichtig, denn es würde ihnen ein komfortables Zeitfenster für die Flucht verschaffen.
Ausgestellt waren hier die zahlreichen Ringe, die man im Laufe der Grabungen gefunden hatte. Viele glichen einander, waren Teil der Aussteuer irgendwelcher adliger Frauen gewesen. Nichts von unschätzbarem Wert, aber ein nettes Zubrot im fünfstelligen Bereich – und wo sie schon mal hier waren … Magnus’ Plan war, genau so viele Ringe an sich zu nehmen, wie möglich war, ohne dass es auffiel. Dazu galt es, die verbleibenden Preziosen wieder symmetrisch und unauffällig anzuordnen. Während Lucia an der Oberseite der Glasscheibe einen Vakuumheber anbrachte, der ein bisschen wie ein großer, alter Telefonhörer aussah, dachte Magnus daran, warum er diesen Job keinem der anderen hatte anvertrauen können: Die Durchführung erforderte ein Höchstmaß an Disziplin. Disziplin, die er nur sich selbst zutraute. War die Vitrine erst einmal offen – was gleich der Fall sein würde, denn Lucia hatte nun die kleinen Hebel umgelegt, sodass sich die Haltevorrichtung an der Scheibe festsog –, hieß es kühlen Kopf bewahren. Nur jeden dritten oder vierten Ring zu nehmen, die übrigen jedoch so zu verschieben, dass nicht der Eindruck entstand, als würde etwas fehlen – das war nichts für gierige Menschen, und dafür hielt er so ziemlich jeden in dem Team, das er zusammengestellt hatte. Lucia hatte inzwischen die Scheibe heruntergewuchtet. Er hatte ihr nicht geholfen, denn er wusste, dass sie für eine Frau unerhört viel Kraft hatte. Nun begann er mit seinem Teil der Arbeit, der aus seiner Sicht aber noch wesentlich kraftaufwendiger war.
Erstaunlich leise war auch die Tresortür aufgeglitten, und Servatius musste schlucken, als er die Monstranz im Inneren der Glasvitrine erspürte. Vorsichtig zog er sie heraus und stellte sie neben sich. Anschließend nahm er die kleine Plastikfigur aus seinem Rucksack und stellte sie hinein. Er wusste nicht, was das sollte, hielt nichts von solchen Spielereien und schob es Magnus’ Eitelkeit zu. Aber er hatte auch nicht gewagt zu widersprechen. Er wollte keine unnötige Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Als er die Figur platziert hatte, stand er auf. Schnellen Schrittes lief er in Richtung Garderobe. Die nun folgenden Handgriffe hatte er nicht üben können, sie waren Teil einer kleinen, speziellen Planänderung. Sie mussten einfach funktionieren. Lautlos und schnell.
Magnus nickte Lucia zu. Es reichte. Doch Lucia deutete auf die Ringe in der Vitrine. Wir können noch mehr nehmen, sollte das wohl heißen. Magnus hatte richtig gelegen mit seiner Vermutung. Er machte eine Geste, die keinen Zweifel daran ließ, dass ihre Arbeit beendet war: Er führte seine Hand zum Hals und zog sie flach daran vorbei, als würde er sich die Kehle durchschneiden. Lucia senkte schuldbewusst den Kopf, griff sich den Vakuumheber, wuchtete das Glas hoch, doch als sie es fast auf Brusthöhe hatte, löste es sich mit einem satten Schmatzen von einem der Saugnäpfe. Lucia erstarrte, aber Magnus war gerade noch rechtzeitig bei ihr, um die Scheibe aufzufangen. Sie verfluchte sich innerlich: Sie hatte nur Augen für die kostbaren Ringe gehabt, nicht daran gedacht, dass sie das Vakuum noch einmal hätte kontrollieren müssen. Diesmal setzten sie die Scheibe gemeinsam an ihren Platz. Schweigend. Es gab weder die Möglichkeit für Magnus, Lucia wegen ihrer Nachlässigkeit anzuschreien, noch einen Weg für sie, sich zu entschuldigen. Doch schließlich legte Magnus ihr eine Hand auf die Schulter, was sie erleichtert als Geste des Verzeihens wertete.
Just in dem Moment, in dem er seinen Rucksack schloss, hörte Servatius, wie Lucia und Magnus aus dem Nebenraum kamen. Geschafft. Gerade noch rechtzeitig. Servatius wischte sich den Schweiß von der Stirn. Seine kleine Extratour war reibungslos abgelaufen. So schnell und problemlos, wie er es selbst nicht für möglich gehalten hatte. Erst jetzt, da alles geklappt hatte, konnte er die Makellosigkeit und Raffinesse dieses Plans entsprechend würdigen. Er war genial, auch wenn ihm klar war, dass er selbst niemals zu einer solchen Genialität fähig gewesen wäre. Dennoch, man hatte ihn für die Umsetzung gebraucht, sagte er sich zufrieden. Und niemand würde etwas merken … zunächst.
Georg schloss die Tür, nachdem Lucia den Bypass der Stromversorgung wieder entfernt hatte. Es war ein seltsames Gefühl, nach getaner Arbeit allein zurückzubleiben, doch es gehörte zu diesem ausgeklügelten Plan. Die anderen verschluckte draußen das Dunkel des Waldes, während er die Magnetkontakte wieder an die Tür schraubte, seinen Weg im Dunkeln zurück suchte und in die Toilette ging. Dort konnte er endlich seine Lampe wieder einschalten, und er atmete auf, denn die lange Dunkelheit hatte etwas Zermürbendes an sich. Er ging in die Kabine, schloss sie von innen ab, schaufelte mit den Händen den gröbsten Dreck zusammen und warf ihn in den Mauerdurchbruch. Bevor er sich wieder in das Loch hineinzog, blickte er auf die Uhr: achtundzwanzig Minuten. Länger hatten sie nicht gebraucht, um ein echtes Meisterstück zu vollbringen.