»Ich habe das Gebilde auch Herrn Zahn gezeigt, dem Vermieter der Werkstatt, also dem Ehemann des Mordopfers, er kann damit nichts anfangen«, erklärte Maier umständlich. Er saß mit den Kollegen seiner Abteilung im Besprechungsraum der Kriminalpolizei Kempten. Alle sahen sie auf ein Foto der seltsamen Skulptur, das von einem winzigen Beamer auf die Leinwand geworfen wurde. An dem Gerät, das gerade einmal so groß war wie eine Fernbedienung, hing Maiers Handy.

»Leider hatte ich nicht genügend Zeit, Detailfotos zu machen«, klagte der und warf seinem Chef einen vorwurfsvollen Blick zu, was diesen jedoch wenig beeindruckte. Nach einer ausgedehnten rhetorischen Pause fuhr Maier fort: »Dank meines privat erworbenen Handybeamers habt ihr aber noch einmal Gelegenheit, die Installation während unseres Brainstormings vor euch zu sehen.«

»Also, Männer«, schaltete sich Kluftinger ein, »jetzt lasst mal eure grauen Zellen arbeiten! Was fällt euch zu dem Ding ein? Das mit der Kunst war eher ein Witz von mir, wir müssen schon ernsthaft überlegen.«

»Also entschuldigt, aber ich finde es nicht so abwegig, wenn wir die Kunsttheorie im Hinterkopf behalten. Wenn es sich wirklich um einen bislang unbekannten, möglicherweise gestohlenen Duchamp handelt, hätten wir ein sehr gutes Mordmotiv!«

»Ach so, ja, stimmt. Wir sollten überall nachschauen, wo Kloschüsseln an der Wand hängen«, seufzte Strobl. Beleidigt schob Maier die Unterlippe vor.

»Ich hab schon an einen Webstuhl oder so was gedacht. Wegen der Wolle«, gab Hefele zu bedenken, was Maier mit einem »Wahrscheinlich eine Riesen-Strickliesel« kommentierte.

»Wartet mal«, meldete sich Strobl zu Wort, »ich hab schon auch in die Richtung gedacht. Vielleicht ist es irgendeine Vorrichtung, die man zur Herstellung von irgendetwas braucht!«

»Wahnsinnig konkret, Eugen!«, blaffte Maier.

Kluftinger richtete sich auf und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Herrgott, jetzt hört’s halt endlich auf mit euren Kindereien. Könnt ihr mal wieder professionell arbeiten? Wir sind doch hier nicht im Sandkasten, wo man sich gegenseitig die Schaufel auf den Grind haut!«

»Ja, ja, mir kann man die Schaufel schon immer drüberziehen, aber wehren darf ich mich nie! Ich bin doch nicht euer Depp!«

»Richie, das sagt ja keiner«, beschwichtigte Kluftinger. »Die Sache mit der Herstellung von irgendwas glaub ich auch nicht, Eugen. Was willst du mit dem Klump schon bauen? Das fällt doch gleich wieder auseinander!«

»Schon«, stimmte Strobl zu, »aber vielleicht ein Modell von einer Maschine oder einem Werkzeug?«

Kluftinger zuckte ratlos mit den Schultern.

Nach einer Weile fragte Maier leise: »Darf ich was sagen?«

»Richie, du weißt doch, dass du immer alles sagen darfst, was du auf dem Herzen hast«, gab Kluftinger zurück und warf Strobl und Hefele vielsagende Blicke zu.

»Also gut«, fasste sich Maier ein Herz und verkündete seine nächste Theorie: »Okkultismus.«

»Hm?« Der Kommissar verstand nicht, worauf sein Kollege hinauswollte.

»Okkultismus. Vielleicht ist das Ganze Teil eines okkultistischen Rituals. Eine Art Kultplatz vielleicht …«

»Genau. Vielleicht rufen sie die heilige Barbie an, die Schutzpatronin der Plastikpuppen?«, entfuhr es Strobl, was ihm allerdings einen tadelnden Blick seines Chefs einbrachte.

»Geht’s schon wieder los! Mir reicht’s jetzt, echt!«, sagte Maier, und Kluftinger entging nicht, dass seine Stimme brüchig klang. Er musste durchgreifen, denn einen weinenden Kollegen hätte er nicht verkraftet.

»Schluss jetzt, Zefix«, rief er also erneut zur Ordnung. »Kann doch sein, was der Richard sagt! Weiß Gott, auf was für Ideen die Leute kommen. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Unser Herrgott hat ja einen großen Tiergarten! Hast du irgendwas Bestimmtes im Auge, Richard?«

»Nein«, gab der dankbar zurück, »ich hab nur gedacht, weil die ganze Szenerie ja auch so düster ist, da würd Okkultismus ganz gut passen.«

»Mhm«, bestätigte Kluftinger. »Warum nicht, gell? Sonst jemand was?«

»Meint ihr«, setzte Hefele zögernd an, »es kann auch was … Sexuelles sein? Irgendwas recht Versautes vielleicht … ich mein, auch da gibt es ja die abartigsten Neigungen.«

Die anderen sahen sich an. Nach Maiers Beinahe-Heulen traute sich keiner mehr, etwas einfach abzutun.

»Aber was soll jetzt an einer Plastikpuppe und einer Käseglocke irgendwie … geil sein?«, ruderte Hefele von sich aus wieder zurück.

Nach einigen nachdenklichen »Hmms« sahen sich die Beamten schweigend an. Kluftinger war der Erste, der wieder zu reden begann.

»Also, wir können Folgendes festhalten: Wir wissen nicht, was dieses Gebilde sein soll. Aber offenbar haben die Mieter der Werkstatt, die, wie Richard ja gerade vor einer halben Stunde erfahren hat, im Mietvertrag weder einen richtigen Namen noch eine existierende Adresse angegeben haben, das Zeug in der Kammer installiert. Wenn wir die Mieter ermitteln könnten, wären wir einen großen Schritt weiter. Ich gehe fest davon aus, dass diese Leute mit dem Mord an der alten Frau zu tun haben. Und wenn sie keinen Dreck am Stecken hätten, hätten sie ihre Identität nicht verschleiern müssen. Und ich bin sicher, dass dieses komische Zeug da«, er zeigte mit der rechten Hand in Richtung der Leinwand, »für irgendwas benutzt wurde, was nicht koscher ist. Ihr?«

Alle nickten wortlos und mit gesenktem Blick.

Kluftinger schürzte die Lippen. »Gut. Wie gehen wir also weiter vor? Ich würd sagen … Eugen und Roland, ihr nehmt euch mal die Nachbarn von den Zahns vor. Vielleicht hat von denen jemand beobachtet, wer da in der Werkstatt ein und aus gegangen ist. Und fragt ruhig auch, was sie von Zahn halten und wie seine Frau so war. Der Alte ist mir nicht so hundertprozentig geheuer. Bitte gleich morgen in der Früh damit anfangen. Und Richie, du gehst bitte zu den Kollegen vom Diebstahl. Kann ja gut sein, dass die vielen geklauten Autos, die wir gerade haben, mit unserer Sache hier zusammenhängen. Vielleicht kannst du da ja heut noch was in Erfahrung bringen, ob die schon einen Verdacht haben oder zumindest mit unserer Geschichte was anfangen können.«

Um Maier, der noch immer ein wenig bedröppelt dreinblickte, ein bisschen aufzuheitern, fügte er noch an: »Und vielleicht kannst du noch mal im Internet recherchieren wegen diesem Glump in der Kammer. Eventuell kommst du da irgendwie weiter.«

Maier nickte, und der Anflug eines Lächelns huschte über sein Gesicht.

»Ach«, fügte Kluftinger noch an, »hat denn der Willi schon einen Bericht fertig?«

Die Kollegen zuckten mit den Schultern.

»Frag doch mal die Sandy, vielleicht hat die schon was!«, riet Hefele.

»Du, Roland, ich glaub, die ist immer noch ziemlich grantig auf mich wegen der Geschichte mit der Urkunde. Frag doch du sie lieber, ich geh jetzt heim.«

»Ich hab eigentlich auch keine Zeit mehr«, protestierte Hefele wenig überzeugend, schob aber sofort nach: »Aber okay, wenn’s dir hilft, mach ich’s halt.«

Kluftinger ging in Gedanken bereits seinen Feierabend durch, als er sein Büro verließ und sich auf den Weg zu seinem Wagen machte. Er sah sich schon mit geöffnetem Fenster nach Hause fahren, sah, wie er das Auto vor der Garage parkte, ausstieg und … das Auto! Mitten in der Bewegung erstarrte der Kommissar, unfähig, auch nur einen Finger zu rühren. Ihm wurde heiß und kalt zugleich. Ein paar Sekunden lang stand er einfach nur da, dann zwang er sich zu einer unbeholfenen Bewegung, rieb sich die Augen, doch das, was er sah, änderte sich nicht. Vielmehr das, was er nicht sah: Dort, wo er heute Morgen sein Auto abgestellt hatte, stand … nichts. Der Parkplatz war leer. Kein Wagen, weder seiner noch ein anderer. Nur eine leere Parklücke, die sein ungläubiges Staunen geradezu höhnisch zu erwidern schien.

Er zog die Brauen zusammen. Hatte Erika das Auto geholt? Nein, das konnte nicht sein, sie wollte heute einen Hausputz machen, Kuchen backen und erst gegen Abend einkaufen, weil ihr Sohn Markus sich mit seiner Freundin Yumiko angekündigt hatte. Markus … konnte es sein, dass er schon da war und vielleicht das Auto mit dem Zweitschlüssel geholt … um seine Yumiko irgendwohin … Schmarrn, dann hätte er sich auf jeden Fall gemeldet.

Hatte man ihn abgeschleppt? Nein, auch das konnte nicht sein, er hatte ja schließlich auf einem ordnungsgemäßen Parkplatz gestanden.

Wie in Trance spielte Kluftinger mit dem Schlüsselbund in seiner Hand, blickte sich erst ratlos um, dann wieder auf die Parklücke … Die Erkenntnis durchfuhr ihn so plötzlich, dass ihm übel wurde. Er wankte leicht und stützte sich an der Straßenlaterne ab, neben der er stand. Eigentlich war es undenkbar, aber dennoch die einzig plausible Erklärung: Geklaut! Gestohlen! Weg!

Mit zitternden Händen fummelte er sein Telefon aus der Hosentasche. Er musste die Polizei rufen, sofort. Vielleicht war es noch nicht zu spät, vielleicht waren die Diebe noch nicht weit gekommen. Er ließ seinen Finger unschlüssig über dem Tastenfeld kreisen.

»Zefix!«

Er konnte die Polizei nicht rufen.

Er war die Polizei.

Kluftinger schluckte. Wenn das die Kollegen erfuhren, wäre er auf Jahre hinaus das Gespött sämtlicher Abteilungen von hier bis Ulm und im angrenzenden Österreich. Er verfluchte sich in diesem Moment dafür, dass er den Wagen nie abschloss. »Irgendwann klauen sie ihn dir noch mal«, sagten seine Kollegen immer, worauf er jedes Mal entgegnete: »Mir klaut keiner was. Und wir sind ja nicht in Polen«, was einen aus dem Nachbarland stammenden jungen Kollegen regelmäßig auf die Palme brachte.

»Jessesmariaundjosef«, keuchte er. Was jetzt? Anonym Anzeige erstatten? Quatsch, wie sollte das denn gehen – bei einem Autodiebstahl!

Denk nach! Überleg!, rief er sich innerlich zu. Vielleicht könnte er einfach wieder ins Büro gehen und warten bis … bis … was?

»Die haben es doch nicht mehr ganz recht! Wer klaut denn so einen alten Karren?«, stieß er plötzlich laut hervor, sodass ein Pärchen, das ihn gerade passierte, erschrocken herumfuhr und seinen Schritt beschleunigte. Kluftingers Verzweiflung schlug nun in Zorn um, den er vor allem gegen sich selbst richtete. »Warum? Warum hab ich Depp denn nie abgesperrt?«, haderte er mit sich, auch wenn diese Praxis mittlerweile rund dreißig Jahre gut gegangen war.

Er ballte die Fäuste. Nein, er würde seinen geliebten Wagen, in dem er so viel Lebenszeit verbracht hatte, nicht einfach kampflos aufgeben. Wofür war er schließlich Polizist? Er würde die Diebe aufspüren und sie dingfest machen.

Sein Kampfgeist wurde jedoch von einer im Moment viel drängenderen Frage im Keim erstickt: Wie komm ich jetzt heim?

Er sah auf die Uhr. Mit dem Bus? Nein, soviel er wusste, fuhr so spät keiner mehr. Ob er einen seiner Musikkollegen anrufen sollte? Unmöglich, die Geschichte würde spätestens bei der nächsten Probe die Runde machen. Mit dem Taxi? Bei dem Gedanken an die Kosten wurde sein Mund trocken. Andererseits: Es war ja eine Notlage, und überhaupt: Er arbeitete hart genug, da durfte er sich ja wohl auch mal was gönnen, und obendrein: Was konnte denn das schon kosten …

Noch während er all dies dachte, hatte er sich bereits auf den Weg zum nächsten Taxistand gemacht, der gleich um die Ecke bei dem großen Einkaufszentrum lag, in das er mittags oft ging, um sich einen Imbiss zu holen. Er wollte gerade in das erste Taxi einsteigen, da wurde er vom Fahrer schroff darauf hingewiesen, dass er gefälligst den Wagen am Kopfende der Schlange zu nehmen habe.

»Ja, gut, schönen Dank auch«, maulte Kluftinger, »da ist dir jetzt aber eine saubere Fuhre durch die Lappen gegangen.« Schimpfend ging er zum ersten Taxi, einem ziemlich heruntergekommenen Mercedes, dessen Fahrer die Fenster heruntergelassen hatte und den Bürgersteig mit fremdländischer Musik beschallte.

»Sind Sie frei?«, fragte Kluftinger, indem er sich durch das Beifahrerfenster ins Wageninnere lehnte.

»Steigsch du ein«, befahl ihm der Fahrer und warf seine Zigarette aus dem Wagen.

»Nein, ich würd erst noch gern wissen, was es kostet.«

»Wissmer erscht, wemma da sin«, grinste ihn der Südländer an.

»Schon klar, ich mein, so ungefähr halt. Ich will nach Altusried.«

»Fummunzwansischfuffzisch«, kam es wie aus der Pistole geschossen.

»Was?« Kluftinger war entsetzt.

»Fummun…«

»Ja, ich hab’s schon verstanden. Aber woher wollen Sie jetzt das auf einmal so schnell wissen? Ich mein, das ist doch nicht Ihr Ernst, oder? Da müssen wir schon noch … an der … Preisschraube drehen.« Kluftinger war ein erbärmlicher Verhandler, weswegen er normalerweise immer bezahlte, was man von ihm verlangte, aber in diesem Fall war das undenkbar.

Fragend blickte ihn der Mann aus dunklen Augen an.

»Ich mein: billiger. Das Fahren billiger machen. Ist ja schließlich eine Langstreckenfahrt. Über Land!«

Kurz blitzte in den Augen des anderen die Kampfeslust auf, dann sagte er gelassen: »Gud. Machma Fummunzwansisch.«

Kluftinger spannte die Kiefermuskeln an: »Dafür kann ich mir ja ein Fahrrad kaufen und …«

In diesem Moment quäkte das Funkgerät des Mannes. Der ließ den Motor an, beugte sich zu Kluftinger und grinste ihn an: »Rufsch mi halt an, dann fahr i di zum Radgeschäft.« Dann brauste er mit quietschenden Reifen los.

Ungläubig starrte der Kommissar ihm nach. Unter diesen Umständen sparte er es sich, mit den anderen Taxifahrern in weitere Preisverhandlungen zu treten, und setzte sich ziellos in Bewegung.

Sein Problem war noch immer nicht gelöst. Wen sollte er jetzt anrufen? Seine Eltern? Nein, diesen Triumph gönnte er seinem Vater nicht, der ihn immer noch behandelte, als sei er ein unmündiger Teenager. Langhammer? Indiskutabel. Erika? Natürlich, Erika könnte ihn doch abholen, schließlich … Er schlug sich mit der flachen Hand so heftig gegen die Stirn, dass es klatschte. Mit welchem Auto hätte sie ihn denn holen sollen?

»Dann lauf ich halt heim!«, rief er sich schließlich selbst zu und beschleunigte wie zur Bestätigung sein Tempo. Was war schon dabei, schließlich war das Wetter wunderbar, die Temperatur genau richtig für eine Wanderung, die frische herbstliche Luft gesund … und er war gut zu Fuß!

Zwanzig Minuten später hätte er zumindest die letzte Aussage nicht mehr so ohne Weiteres unterschrieben. Er schwitzte stark, und seine Füße schmerzten, was er auf die neuen Haferlschuhe schob, die für längere Strecken ganz offensichtlich nicht gemacht waren. Was ihn aber noch mehr an seinem Vorhaben zweifeln ließ, war die Tatsache, dass er nach diesem ordentlichen Fußmarsch noch nicht einmal aus der Stadt heraus war – und noch gut zehn Kilometer vor sich hatte.

Er passierte gerade seine alte Dienststelle, aus der die Kripo ausgegliedert worden war, und verwünschte erneut den Umzug, der ihm all die Parkplatzprobleme beschert hatte, die nun im Diebstahl seines Autos gipfelten. Aber all das Lamentieren würde ihn auch nicht schneller nach Hause bringen. Er sah nur noch eine Möglichkeit: Er musste per Anhalter fahren. Stoppen, wie Markus das nannte. Denn sein Sohn hatte das in Ermangelung eines eigenen Autos jahrelang praktiziert, um dem nicht gerade abwechslungsreichen Nachtleben in Altusried zu entkommen. Seine Mutter war zwar jedes Mal vor Angst fast gestorben und hatte damit auch Kluftinger schlaflose Nächte beschert, aber Markus hatte sich davon nicht beeindrucken lassen. »Dann gibst du mir halt deinen Karren«, war seine Standardantwort gewesen, worauf Kluftinger immer geantwortet hatte: »Pass aber auf, bei wem du einsteigst.«

Nachdem die Polizeidirektion außer Sichtweite war, streckte Kluftinger die Hand aus, reckte den Daumen nach oben und starrte erwartungsvoll auf die Straße.

Nachdem dreiundzwanzig Autos – er hatte mitgezählt – einfach vorbeigefahren waren, ohne anzuhalten, wobei einige ihn frech angegrinst und andere den Daumen ebenfalls nach oben gestreckt hatten, wurde er etwas ungehalten. Sicher, er nahm auch nie Anhalter mit, aber das war etwas anderes. Denn bei den richtigen, gewohnheitsmäßigen Anhaltern, und dazu zählte er nun ja beileibe nicht, handelte es sich um, nun ja, manchmal eher am Rand der Gesellschaft stehende … Subjekte. Und aus zahlreichen Ermittlungsakten wusste er, wie eine solche Fuhre enden konnte. Er dagegen strahlte nun wirklich Solidität und Zuverlässigkeit … Im Augenwinkel nahm er aufscheinende Bremsleuchten wahr. Na also. Er blickte auf und sah, wie ein großer silbergrauer Wagen, ein Mercedes, den Rückwärtsgang einlegte und schließlich neben ihm zum Stehen kam. Das Fenster fuhr herunter. Kluftinger sah eine riesige Sonnenbrille und …

»Na, Schätzchen, wie viel?«

Der Kommissar schnappte nach Luft. Nach einigen Sekunden – zu vielen, als dass seine Antwort noch als schlagfertig durchgegangen wäre – erwiderte er: »Das können Sie sich nicht leisten.« Doktor Martin Langhammer schaffte es doch immer wieder, ihn aus der Fassung zu bringen – in den Augen des Kommissars das einzige Talent des Altusrieder Landarztes.

Der Doktor grinste und schob mit dem Zeigefinger die Brille etwas nach unten, um sein Gegenüber über die Gläser hinweg zu mustern, was er bestimmt für eine unwahrscheinlich coole Geste hielt, Kluftinger dagegen für unwahrscheinlich dämlich.

»Na, mein Lieber, dann hüpfen Sie mal rein«, sagte Langhammer schließlich und stieß die Beifahrertür auf, wobei er Kluftingers Knie traf, der sich einen Schmerzensschrei jedoch verkniff.

»Hm?«

»Kommen Sie schon, ich nehm Sie mit.« Mit großer Geste deutete Langhammer auf den Beifahrersitz. »Hat Ihre Kiste schlappgemacht?«

»Wieso?«

»Na, weil Sie doch Autostopp machen.«

»Tue ich nicht.«

Verwirrt nahm Langhammer die Brille ab. »Tun Sie doch.«

»Nein.«

»Natürlich.«

»Nein, Herrgottzack.«

»Aber Sie… Jetzt hören Sie doch mit diesem Kinderkram auf.«

Kluftinger dachte kurz nach. Dann hellte sich seine Miene auf: »Nix Kinderkram. Erwachsenenkram.« Er lehnte sich etwas in den Wagen hinein und flüsterte: »Polizeikram.«

Der Doktor bekam große Augen, und Kluftinger hatte Mühe, ein Grinsen zu unterdrücken. Langhammer war einfach zu leicht berechenbar. Im Herzen bin ich einer von Ihnen, hatte er vor nicht allzu langer Zeit bei einer Ermittlung zu Kluftinger gesagt, die sie aufgrund widriger Umstände hatten zusammen durchführen müssen. Der Arzt hatte dabei großes Interesse an der Kriminalistik offenbart. Der Kommissar erinnerte sich nur ungern daran, gedachte nun aber, sein so beschwerlich erworbenes Wissen gegen ihn zu verwenden. »Ja, eine geheime Aktion. Bitte fahren Sie weiter, sonst bringen Sie alles in Gefahr.«

Langhammer sah sich nach allen Seiten um, konnte jedoch nichts entdecken, was Kluftingers Geheimniskrämerei rechtfertigen hätte können. »Kann ich Ihnen vielleicht irgendwie helfen?« Auch er hatte die Stimme nun gesenkt.

»Gott bewahre … ich mein: Das wär viel zu gefährlich. Was meinen Sie, was da passieren kann!«

Langhammer ließ nicht locker. »Sie wissen ja, ich habe einige Einblicke in das Gebiet der Kriminalistik gewonnen, davon haben nicht zuletzt Sie profitiert, als wir gemeinsam …«

»Ich weiß, ich weiß.« Kluftinger reagierte auf Worte wie »gemeinsam« und »wir« in Zusammenhang mit Langhammer besonders allergisch. »Aber das hier ist anders. Gefährlich … und eben streng geheim. Das heißt …«

Langhammer schöpfte wieder Hoffnung. »Ja?«, fragte er eifrig.

»Na ja …«, setzte der Kommissar verschwörerisch an, »Sie könnten vielleicht auf dem Heimweg schauen.«

»Schauen? Wonach denn?«

»Wonach? Ja … Dings halt, das … ist schwer zu erklären. Nach Verdächtigem halt … schauen. Wenn Sie’s sehen, werden Sie es wissen. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, ohne die Sache zu gefährden.«

Jetzt grinste Langhammer ihn an. »Verstehe. Ich bin Ihr Mann. Und wenn ich was sehe, melde ich mich unverzüglich.«

»Unverzüglich, ja, ja.«

»Also, ich nehme Witterung auf.« Mit diesen Worten zog Langhammer die Tür zu und brauste davon.

Kluftinger strich sich über sein schmerzendes Knie und sah dem Wagen halb erleichtert, halb wehmütig nach. Eigentlich wäre er doch gerne mitgefahren.

»Also dann, mach es mal gut«, riefen ihm die beiden Männer noch nach, als er fast eine Stunde später am Altusrieder Marktplatz aus dem Auto stieg.

»Ja, Sie auch. Und alles Gute!« Er verzog die Lippen zu einem erleichterten Lächeln. Er hatte sicherheitshalber nicht nachgefragt, warum die Männer gemeinsam hier Urlaub machten, warum ihr Parfüm so aufdringlich roch, warum sie gegenseitig als »mein Mann« voneinander sprachen und warum im Autoradio bei so jungen Männern Musik von Marianne Rosenberg lief. Er war zwar froh, dass die beiden ihn mitgenommen hatten, aber noch glücklicher, dass er wieder hatte aussteigen können und jetzt endlich fast zu Hause war.

Die kurze Strecke von der Hauptstraße bis zu seinem Haus genoss er in vollen Zügen – jedenfalls bis ihm der erneute Gedanke an sein gestohlenes Auto den schönen Spätsommerabend vergällte. Zu allem Überfluss rief dann auch noch Langhammer auf dem Handy an und berichtete ihm von mehreren Entdeckungen, die er während der Fahrt nach Altusried gemacht habe. Kluftinger verstand zunächst nicht, als ihm der Doktor dann aber seine »verdächtigen Beobachtungen« mitteilte – eine Milchkanne, die ungewöhnlich nahe am Straßenrand stand, eine dicke Frau auf einem nagelneuen Mountainbike und ein Bauer, der mit einem Heuwagen ohne Nummernschild auf der Hauptstraße fuhr –, war ihm klar, dass er Kluftingers »Ermittlungsauftrag« todernst genommen hatte. Ihm war schleierhaft, wie dieser Mann ein Studium erfolgreich hatte abschließen können.

Als Kluftinger schließlich zu Hause ankam, überlegte er sich bereits, als er die Tür aufschloss, eine passende Ausrede für seine Frau und bemerkte gar nicht, dass die schon im Hausgang auf ihn wartete.

»Wo warst du denn so lange?«, fragte Erika mit in die Hüften gestemmten Händen, was nicht zu ihrer besorgten Miene passen wollte.

»Warum?« Kluftinger stellte sich erst einmal dumm, um Zeit zu gewinnen. Sein Hirn hingegen arbeitete auf Hochtouren.

»Na, schau mal, wie spät es ist.«

Kluftinger blickte auf seine Armbanduhr und erschrak selbst ein bisschen. Es war bereits nach sieben, tatsächlich viel später, als er gedacht hatte. »Mir ham eine Leichensach reingekriegt«, sagte er entschuldigend und senkte den Kopf.

»Ach, und da haben sie euch auch gleich die Handys abgenommen?« Nachdem Erika überzeugt war, dass nichts passiert war, wie sie stets befürchtete, wenn etwas vom normalen Tagesablauf abwich, überwog nun ihre Verstimmtheit. »Und wie riechst du überhaupt?« Sie hob den Kopf und schnupperte demonstrativ in die Luft.

»Ich, wieso?« Er hob den Arm und roch unter seiner Achsel.

»Doch nicht da. Ich mein … mehr …« Sie kam näher und sog die Luft ein, während sie um ihn herumging. »Mehr so überall. Dein Rasierwasser ist das jedenfalls nicht.«

»Herrschaft, Erika, was soll jetzt das schon sein, ehrlich, dafür hab ich jetzt keinen Nerv.«

»Pass bloß auf, Butzele«, sagte sie leise und hob drohend den Zeigefinger. »Ich hab ein Auge auf dich!«

Er blickte sie mit ausdruckslosem Gesicht an.

»Jedenfalls muss ich jetzt noch schnell zum Einkaufen fahren«, sagte sie dann.

Kluftingers Kopf ruckte herum. »Wie? Einkaufen? Ach was, wir ham doch alles da.«

»Woher willst du denn das wissen? Also, irgendwie bist du heut komisch.« Wieder trat ein misstrauischer Ausdruck in ihr Gesicht.

»Ich mein: Was braucht man denn schon an einem so … herrlichen Abend?« Er fand selbst, dass er eine Spur zu überschwänglich klang.

Misstrauisch musterte sie ihn. »Wir brauchen Lebensmittel, sonst motzt der Herr wieder, dass es nix Gescheites zu essen gibt.«

Er wog flugs einen leeren Kühlschrank gegen die Folgen ab, die die Wahrheit haben würde. »Aber bei dem Wetter läuft man doch am liebsten. Ein kleiner Abendspaziergang, bevor der Herbst über uns hereinbricht.« Über uns hereinbricht – als Verbrecher wäre er eine absolute Niete, fand der Kommissar.

»Wir brauchen aber noch Getränke.«

»Mhm.«

»Soll ich die bis hierher tragen?«

»Ich … nein, natürlich nicht. Gar nicht sollst du die tragen. Das mach natürlich ich. Die sind doch viel zu schwer für dich, ich nehm den Leiterwagen und hol die Sachen. Und du kannst dich schön in den Garten setzen und die gute Luft genießen.« Die Luft genießen – er war geliefert, das war klar.

Sie trat einen Schritt näher. Wieder blähten sich ihre Nasenflügel, und sie schnupperte an ihm.

Er war verärgert, aber auch ein bisschen geschmeichelt, dass sie nach all den Jahren offenbar immer noch eifersüchtig werden konnte.

»Dein freundliches Angebot mit den Getränken, das Parfüm – hast du vielleicht ein schlechtes Gewissen?«

»Ein schlechtes … ich glaub, bei dir hackt’s. Also, ich geh jetzt einkaufen.« Mit diesen Worten stürmte er nach draußen in die Garage, wobei er die Tür ein wenig heftiger hinter sich zufallen ließ, als er eigentlich gewollt hatte. Wenn er wirklich etwas zu verbergen gehabt hätte – also etwas weniger Harmloses als sein gestohlenes Auto –, dann hätte er mit diesem Abgang seiner erbärmlichen Vorstellung einen traurigen Höhepunkt beschert.

Die Sonne ging bereits unter, als er vom Einkaufen nach Hause kam. Das Rad des Leiterwagens war seit Langem kaputt und hatte ihm beim Flaschentransport ein Schneckentempo aufgezwungen. Eigentlich hatte er es schon lange reparieren wollen, aber wann brauchte man schon den Leiterwagen? Um Sachen zu transportieren, hatte man ja schließlich ein Auto …