Freitag, 24. September

Kluftinger hatte sich schon beim Frühstück vorgenommen, alle dummen Sprüche, die die Kollegen heute wegen seines Autos machen würden, ganz einfach von sich abprallen zu lassen. Doch er hatte die Reaktion, die der Wagen auslöste, unterschätzt. Offenbar konnte sich kaum jemand mit Kommentaren zurückhalten. Die Fahrt durch Absperrungen und Polizeiwagen vorbei bis zum neuen Museum wurde zum regelrechten Spießrutenlauf.

Das Museum war vollkommen abgeriegelt worden, damit die Ausstellungsstücke ohne Zwischenfälle in ihre neue Heimat einziehen konnten. Vor dem Gebäude sah er den Transporter stehen, den sie gestern ins Allgäu eskortiert hatten. Außerdem Maier, Hefele und Strobl, daneben, auf ein Gehwägelchen gestützt, Heinz Rösler. Als auch sie Kluftinger erblickten und Strobl gerade Luft holte, um etwas zu sagen, hob der Kommissar die Hand: »Spar’s dir, Eugen. Ich glaub, ich hab inzwischen alle Wörter gehört, die sich auf Waffel reimen, und auch sämtliche Bedeutungen der Farbe Rosa kennengelernt. Lass gut sein.«

Strobl schloss seinen Mund wieder; es erschien ihm momentan wenig ratsam, seinen Vorgesetzten unnötig zu reizen.

Der nickte dem alten Mann zu und sagte: »Heu, schlecht zu Fuß heut?«

»Ja, mal geht’s besser, mal schlechter«, erklärte Rösler. Den fragenden Blick auf seine Gehhilfe, an der statt eines Korbes ein hölzerner Kasten befestigt war, versehen mit Fahrradreflektoren und einer Hupe, beantwortete er mit den Worten: »Ich bastel immer noch gern, und mit einem aufgemotzten Rollator kann man bei den Damen im Altersheim schon punkten!«

»Der Richie hat erzählt, dass du deinen ersten Flug ja recht genossen hast«, unterbrach Hefele ihr Gespräch, und Kluftinger war sich nicht sicher, ob er das ironisch meinte.

»Mhm«, murmelte er deshalb vage und wechselte sofort das Thema: »Wir haben heute viel vor, Männer. Ich lass mir jetzt noch mal die Sicherheitsvorkehrungen erklären, ihr begleitet das Einräumen, und irgendjemand muss auch hier noch mit dem Herrn Rösler …«, er nickte dem Alten zu, der abwesend in die Ferne sah, »… durchgehen. Ihr braucht euch ja nicht mit Einzelheiten aufzuhalten. Vielleicht machst du das am besten, Richie. Dann kannst du ihm auch gleich von Wien erzählen. Vielleicht bringt ihn das, was der Strehl gesagt hat, auf irgendwelche Ideen. Noch Fragen, Kollegen?«

Die Beamten, vom Tatendrang des Kommissars regelrecht überfahren, schüttelten nur die Köpfe. »Gut, also dann: an die Arbeit!«

Kluftinger betrat als Erster das Museum und war überrascht, wie viel sich hier seit seinem letzten Besuch vor wenigen Tagen noch getan hatte: Von den Bauarbeiten war kaum mehr etwas zu merken, jetzt beherrschte das Verpackungsmaterial, das er auch in Wien schon gesehen hatte, das Bild.

»Ah, Herr Kluftinger!« Ein Mann in Jeans und dunklem Sakko lief auf ihn zu. Erst als er vor ihm stand, erkannte ihn Kluftinger wieder: Es war der Typ von der Versicherung, der vorgestern noch bei ihnen im Büro gesessen hatte. Ihm folgte zu Kluftingers Leidwesen Bürgermeister Dieter Hösch, dem die Selbstzufriedenheit über das Großprojekt aus jeder Pore drang.

»Na, da haben wir doch eine tolle Gemeinschaftsleistung vollbracht!«, sagte Hösch generös und zwirbelte seinen schwarzen Schnauzer. »Wer hätte das noch vor ein paar Jahren gedacht!«

Kluftinger fand es bemerkenswert, dass Hösch hier von einer Gemeinschaftsleistung sprach, hatte er doch sonst in kleiner Runde bei keiner Gelegenheit verpasst, darauf hinzuweisen, mit welch unermüdlicher Kraft er das Projekt vorangetrieben hatte.

»Toll, ja.« Kluftinger schüttelte beiden die Hand. »Ich hätt gern noch mal eine kleine Führung, wenn’s geht … die Sicherheitsvorkehrungen und so«, wandte er sich an Kuffler.

»Klar, das lässt sich machen«, erwiderte der wenig begeistert.

»Ich begleite euch«, sagte Hösch freudig.

»Priml«, brummte Kluftinger leise.

»Wo sollen wir denn anfangen?«, wollte Kuffler wissen.

»Wenn ich mich da einmischen darf«, meldete sich Hösch zu Wort, »dann würde ich vorschlagen, dass wir dem Herrn Kommissar die Umsetzung des Sicherheitskonzepts sozusagen von außen nach innen vorstellen. Bitte.« Er deutete auf den Ausgang. Schleppend setzte Kluftinger sich in Bewegung. Sein anfänglicher Elan war bereits wieder verflogen.

»So, hier draußen haben wir erst mal den Zaun, der das Gelände umschließt und der nachts natürlich abgeschlossen wird«, fuhr Hösch fort, bevor Kuffler noch etwas sagen konnte. »Außerdem Kameras …«, er deutete mit dem Finger auf die Geräte, »… und gekoppelte Hitzebewegungsmelder. Die Bilder der Kameras sind per Datenleitung mit der Zentrale der Sicherheitsfirma verbunden, wo sie alle dreißig Minuten standardmäßig kontrolliert werden. Natürlich schalten sie sich auch ein, wenn ein Sensor anschlägt oder sonst was Unvorhergesehenes passiert, etwa, wenn nachts das Licht angeht oder so.«

»Taugen die was?«, erkundigte sich Kluftinger.

»Wie meinst du das?«

»Na, machen die auch vernünftige Bilder, diese Kameras?«

Mit dieser Frage hatte er Hösch ein wenig den Wind aus den Segeln genommen, und Kuffler übernahm: »Eine berechtigte Frage. Also, Sie kriegen da keinen HD-Film geliefert, das ist schon klar. Aber ich denke, die Technik ist ausreichend. Auch nachts ist alles zu erkennen und bei Tageslicht sogar in Farbe. Dann haben wir natürlich noch Sicherheitsfenster und ansonsten das Übliche.«

»Das Übliche ist genau das, was mich interessiert«, seufzte Kluftinger, der es bedauerte, von einem gelangweilten Versicherungsmenschen und einem übereifrigen Bürgermeister geführt zu werden. Eine Mischung aus beiden wäre ideal gewesen. »Wer wird denn im Fall des Falles wie alarmiert?«

»Es ist ein stiller Alarm«, erklärte Kuffler. »Was anderes würde hier in der Einöde keinen Sinn machen. Hier können wir uns große Sirenen und Lichtorgeln getrost sparen. Der Alarm geht direkt zur Sicherheitsfirma nach Memmingen. Egal, an welchem Melder er ausgelöst wird. – So, weiter geht es dann hier an der Tür. Die ist innen mit Magnetschaltern gesichert. Ein Kontakt ist an der Tür festgeschraubt, der andere im Türrahmen. Ist die Anlage scharf, geht sie los, wenn die Tür geöffnet wird, weil dann das magnetische Feld zerstört wird. Zum Entschärfen muss man draußen in das Tastenfeld eine Nummer eingeben. Und die Fenster sind natürlich aus Sicherheitsglas und außerdem mit Bruchsensoren ausgestattet. Ich darf mal vorausgehen?«

Er wartete nicht ab, ob Kluftinger noch eine Frage hatte, betrat das Museum wieder und ging am Kassen- und Garderobenbereich vorbei in die Ausstellungshalle. »Im Inneren haben wir mehrere Sicherheitssysteme, die parallel funktionieren: zum einen, wie bei solchen Einrichtungen üblich, seismische Sensoren, die an Hitzesensoren gekoppelt sind. Wir haben ja auch über ein Co2-Messgerät gesprochen, darauf hat der Herr Bürgermeister aus Kostengründen verzichtet.«

Hösch fühlte sich genötigt, etwas dazu zu sagen: »Ich meine, wir haben hier ja wirklich gleich mehrere unüberwindbare Hürden eingebaut, deswegen brauchen wir das gar nicht mehr. Die Versicherung ist so schon absolut zufrieden, und wir müssen ja nicht sicherer sein als Fort Knox, nicht wahr? Ich meine, schau mal!« Er zog Kluftinger am Ärmel hinter sich her zu den Vitrinen: »Alles mehrfach gesichert: Einzelalarm durch Kontakte am Boden und an den Ausstellungsstücken, außerdem ein Laserlichtvorhang. Und mechanische Sicherungen gibt es obendrein: Den Tresor für die Monstranz, der in den Boden eingelassen ist, kriegt eh keiner auf.«

»Ja, ja, ist ja schon gut«, sagte Kluftinger und entwand seinen Ärmel Höschs Griff. »Sonst noch was?«

Hösch ließ die Schultern sinken, er hatte offenbar mit mehr Begeisterung beim Kommissar gerechnet. »Wie ›sonst noch was‹?«

»Wir haben ja mal über diese RFID-Chips gesprochen …«, hakte Kuffler ein.

»Was für Dinger?«

»Radio-Frequenz-Identifikations-Chips. Wir können damit Gegenstände genau orten. Und die Dinger sind so klein und flexibel, dass man sie überall unauffällig anbringen kann. Wie auch immer, aus Kostengründen haben wir nur bei der Monstranz einen im Einsatz.«

»Braucht das nicht irgendeine Art von Strom?«

»Ja, klar. Eine winzige Batterie ist mit dabei. Hält fünf Jahre.«

Jetzt war Kluftinger tatsächlich beeindruckt. Das alles war nicht sein Metier, und er staunte, was es auf diesem Gebiet an Sicherheitseinrichtungen gab. »Wie sieht es eigentlich im Untergeschoss aus?«, erkundigte er sich.

»Da unten gibt es eigentlich nichts wirklich Wertvolles«, mischte sich Hösch wieder ein. »Da wird nur die Historie erklärt, ein paar alte Mauerreste sind ausgestellt und so. Da braucht es keine besondere Sicherung.«

»Gut, ich schau’s mir trotzdem mal an, wenn’s recht ist. Ihr braucht mich aber nicht zu begleiten. Dankschön erst mal.« Kluftinger hob die Hand und ging schnell in Richtung Treppe, weil er hoffte, dass vor allem Hösch ihm nicht folgen würde.

Er stieg die Stufen hinunter, die mit denselben Steinplatten gefliest waren wie der restliche Fußboden, und gelangte in einen etwas kleineren, dunklen Raum, der direkt gegenüber dem Aufzug lag. Die Wände bestanden zum Teil aus hinter Glas befindlichem, altem Mauerwerk, das bei den Grabungen freigelegt worden war. Es wirkte ein bisschen unheimlich, wie eine Gruft, war lediglich punktuell erleuchtet. Der Lärm aus der oberen Etage drang nur gedämpft herunter. Auch die Exponate, die zum Teil noch am Boden standen, verbreiteten eine ganz andere Stimmung als die opulente Schatzkammer oben: Die mittelalterlichen Kupferstiche zeigten wüste Gestalten aus dem Gruselkabinett der Kirche und des Aberglaubens, teuflische Fratzen, die mit weit aufgerissenen Mäulern sündige Menschen verschlangen, alles verzehrende Feuer, in denen verdammte Seelen für immer brannten. Ein schriller Schrei ließ den Kommissar zusammenzucken. Er blickte sich ruckartig um, und es dauerte ein paar Sekunden, bis ihm klar wurde, dass das Geräusch aus einem der Lautsprecher an der Decke gekommen war. Offenbar sollte das dabei helfen, die Besucher atmosphärisch zurück ins Mittelalter zu versetzen. In Kluftingers Fall gelang das auch, denn immer schrecklichere Bilder wurden vor seinem inneren Auge heraufbeschworen: mordende Raubritter, gemarterte Gefangene, aufs Rad geflochten oder mit glühenden Eisen traktiert, vermischten sich in seiner Phantasie mit den Aufschriften der Texttafeln, die von der Geschichte der Ruine erzählten. Davon, dass sich genau hier, wo er jetzt stand, einst die sagenhafte Burg Kalden erhob, ein gewaltiges Bauwerk mit fast dreihundert Metern Länge, ringsherum durch steil abfallende Tobel gesichert. Davon, welch düstere Gesellen hier ihr Unwesen getrieben hatten. Aber auch davon, dass das Areal bis zum Schatzfund 1980 archäologisch nicht erforscht worden war und auch jetzt eine genauere Untersuchung noch ausstand.

Immerhin hatten vier wagemutige Altusrieder am Anfang des vergangenen Jahrhunderts genau das zu ändern versucht, wie ein Originalartikel aus dem Bekanntmachungsblatt vom 12. August 1950 belegte: »Um die Zeit von 1910 haben die Herren Joseph Rudolf, Josef Natterer, Georg Fähnle und Hans Kreuzer ca. 100 m nördlich des Waldbeginns an einem Steilufer, etwa 20 m in der Tiefe gegen die Iller, mittels Steigeisen und angeseilt, in gefahrvoller und mühsamer Arbeit in einem Brunnenschacht geforscht und gegraben. Nach deren Angaben hat derselbe etwa einen Durchmesser von 1 m und besteht aus runden Steinen. Vielleicht wird der dazugehörende Brunnen im Laufe der Zeit wiedergefunden.«

Gleich daneben prangte das Zitat eines der Wagemutigen, Josef Natterer, aus einer Zulassungsarbeit von einem gewissen Willi Müller aus dem Jahr 1969: »Wir konnten damals nur angeseilt zu dieser Stelle kommen, weil wir sonst in die Iller abgerutscht wären, denn die Wand ist hier sehr steil. An fraglicher Stelle bestand noch 1914 ein gemauerter Schacht, ähnlich einem Brunnen. Dieser Schacht ist bis heute zum größten Teil mit Sand gefüllt. Dieses Mauerwerk befindet sich auf halber Höhe der Illerwand. All dies konnte noch nicht festgestellt werden, da bis zum heutigen Tage keine Anzeichen gefunden wurden, die auf einen Brunnen hinweisen.«

Der Kommissar stellte sich die vier Burschen in der Wand hängend vor, als er plötzlich einen kalten Hauch spürte und eine blasse, knochige Hand sich auf seine Schulter legte. Er wirbelte herum – und blickte in die Augen der rothaarigen Historikerin, die er bei der ersten Sitzung der Arbeitsgruppe kennengelernt hatte.

»Hab ich Sie erschreckt?«, fragte sie, nahm die Hand von seiner Schulter und streckte sie ihm hin. »Doktor Margit Wallmann, ich glaube, wir sind uns das letzte Mal nicht vorgestellt worden, und nach Ihrem überstürzten Aufbruch …«

»Ich … nein, Sie haben mich nicht … ach so, Kluftinger.«

»Sehr beeindruckend, was?«, sagte sie und zeigte unbestimmt in den Raum. »So sieht es aus, wenn Geschichte lebendig wird.«

»Ja, schon, irgendwie.«

»Das Ganze wurde unter neuesten museumspädagogischen Gesichtspunkten gestaltet. Visuelle Eindrücke werden durch akustische unterstützt. Weiter hinten haben wir sogar eine kleine Windmaschine. Synästhesie quasi.«

Derart akademisch betrachtet verlor das Ganze für Kluftinger deutlich an Faszination.

»Sind Sie von hier?«, erkundigte sich die Frau.

»Aus Altusried, ja.«

»Dann kennen Sie die Geschichte ja bestimmt.«

»Also, um ehrlich zu sein …« Kluftinger kratzte sich verlegen am Kopf.

»Nicht? Na ja, nicht so schlimm. Bisher wurde ja von offizieller Seite auch wenig zur Verbreitung des eigenen historischen Erbes getan, wenn ich das richtig sehe. Das ändert sich jetzt aber gewaltig.« Sie ging zu einem Modell, vor dem eine Tafel mit der Aufschrift »Um 1300« stand. Ein Spot ging an, als sie davortrat. »Sehen Sie, so könnte die Burg einmal ausgesehen haben. Es gibt keine historischen Belege dafür, irgendwelche Stiche oder so. Aber wenn man die Umgebung und die anderen verfügbaren Informationen mit einbezieht, dann dürfte das in etwa hinkommen.«

Kluftinger blickte auf das Modell. Es zeigte eine klassische Ritterburg, ähnlich der, die er einst als Kind als Modell gehabt hatte. Kaum vorstellbar, dass dies einmal alles hier gestanden hatte.

»Hier ist der Turm, dessen Reste noch heute zu sehen sind. Dürfte Anfang des zwölften Jahrhunderts entstanden sein. Mit einem kleinen Ort drum herum, der 1353 durch die Pest aber ziemlich dezimiert wurde. 1515 haben die Pappenheimer – also, die hießen wirklich so – dann ein Schloss anstelle der alten Burg gebaut. Weil die alte irgendwann, tja …« Sie machte mit der flachen Hand eine Abwärtsbewegung. Immerhin das wusste Kluftinger zu deuten: Das ganze Bauwerk war bis auf wenige Reste in die Iller gerutscht und hatte ein gewaltiges, Respekt einflößendes Steilufer zurückgelassen.

»Wer hat denn hier eigentlich so gehaust?«, fragte Kluftinger, der sich zum ersten Mal wirklich dafür interessierte.

»Erbarmungslose Ritter wie Heinrich der Rächer und der brandschatzende Hans von Kalden«, sagte eine brüchige Stimme hinter ihnen. Sie drehten sich um: Rösler war unbemerkt die Treppe heruntergestiegen und stand nun, an die Wand gestützt, hinter ihnen. »Heinrich von Kalden war noch ein angesehener Ritter, der im zwölften Jahrhundert den Mörder von König Philipp erbarmungslos verfolgt und schließlich mit eigenen Händen geköpft hat.«

Rösler ging langsam an ihnen vorbei und zeigte auf eine Tafel mit der Aufschrift »Hans von Kalden, um 1550«. »Von diesem Gesellen gibt es dann schlimmere Berichte. Wahrscheinlich ein Nachfahre von Heinrich. Der hat sich, als seine Ritterdienste nicht mehr benötigt wurden, sozusagen selbstständig gemacht und sein Geld mit Straßenraub und Wilderei verdient. Als er deswegen mit dem Abt in Konflikt kam, hat er ihn mit den Worten ›Schlagt um!‹ überfallen. Sein Ende war dementsprechend: Ein Knecht des Abts hat ihm mit der Armbrust den Kiefer durchschossen. Und das ›Schlagt um!‹ wurde in Altusried zum geflügelten Wort. Immer, wenn sie wütend waren, haben sie geschimpft: Schlagt um, hat der Hans von Kalden gesagt!«

Kluftinger schauderte.

»Und Sie sind … wer?«, fragte die Historikerin an den Alten gewandt.

»Oh, Tschuldigung«, sagte Kluftinger. »Herr Rösler, Frau Wallmann. Herr Rösler hilft uns hier bei der Arbeit ein bisschen.«

»Ach, sind Sie auch Historiker?«

»Nein, er ist mehr …«, der Kommissar dachte kurz nach, »… eine andere Art von Experte.«

»Aber Sie wissen sehr viel über die Geschichte«, sagte Margit Wallmann anerkennend nickend.

»Ja, ist eigentlich wahr«, stimmte Kluftinger ihr zu. »Woher kennen Sie sich denn so gut damit aus?«

»Wenn ich an etwas arbeite, Herr Kluftinger, dann informiere ich mich immer sehr genau darüber«, erwiderte Rösler mit einem gezwungenen Lächeln. Er wirkte auf einmal blass, und der Kommissar sah, dass sich auf der Stirn des Mannes kleine Schweißtröpfchen gesammelt hatten.

»Geht’s Ihnen nicht gut?«, fragte Kluftinger besorgt. Vielleicht hatte er ihm doch zu viel zugemutet.

»Danke, mir … ich …« Er streckte Hilfe suchend die Hand aus.

Die beiden anderen stützten ihn von beiden Seiten. »Wo ist denn Ihr Rollator?«, fragte Kluftinger.

»Ich dachte, es wird schon wieder besser, aber …« Die Knie knickten ihm ein, und seine Augen verdrehten sich.

»Richie? Eugen? Roland? Ruft’s mal schnell einen Krankenwagen!«, schrie der Kommissar in Richtung Treppe.

»Du, Chef, es gibt Neuigkeiten!«

Kluftinger fuhr zusammen. Er hätte nicht sagen können, wie lange er schon hier gestanden hatte, an den kleinen rosafarbenen Mietwagen gelehnt, den Blick versonnen auf die Allgäuer Bergkette gerichtet, ohne über irgendetwas Spezielles nachzudenken. Er hatte noch auf den Krankenwagen und den Notarzt gewartet, der Rösler mit der Diagnose »Kreislaufkollaps« abtransportiert hatte. Der Kommissar machte sich Vorwürfe, den Alten noch einmal hierhergebracht zu haben. Eigentlich brauchten sie ihn jetzt ja gar nicht mehr. Aber er hatte das Gefühl gehabt, dass der Mann bei der Beschäftigung mit seinem Leib- und Magenthema regelrecht aufblühte. »Was ist los, Richie?«, fragte er, ohne Maier anzusehen.

»Na, du wolltest doch die ganze Zeit wissen, ob es schon neue Erkenntnisse zu den Autodiebstählen gibt. Jetzt hat mich der Max angerufen, der mit der Sache befasst ist: Stell dir vor, die haben in Immenstadt eine ganze Lagerhalle voll mit gestohlenen Wagen ausgehoben! Da sind die meisten wiederaufgetaucht, die in den letzten Wochen geklaut worden sind – und einige dazu, die noch nicht einmal als gestohlen gemeldet waren!«

Mit einem Ruck fuhr Kluftinger herum. »Wiederaufgetaucht, sagst du? Wo soll das genau sein?«

»Keine Ahnung. In Immenstadt, irgendwo in einem Industriegebiet, hat der Max bloß gemeint. Sie haben allerdings nur zwei Typen dingfest machen können, die gerade die Autos aufmöbeln und für den Weiterverkauf präparieren wollten. Von den Hintermännern fehlt bisher jede Spur, sagt er.«

»Sind die noch dort?«

»Die Hintermänner?«

»Die Autos und die Kollegen, Herrgottzack, Richie!«

»Schon, er wollte ja wissen, ob du vorbeikommen und dir alles ansehen willst. Ich hab ihm aber gleich abgesagt, schließlich können wir doch mittlerweile sicher ausschließen, dass ein Zusammenhang zwischen unserem Mordfall und der Autosache besteht, oder?«

Kluftinger schüttelte den Kopf. »Ausschließen, Richie, können wir gar nix! Ich fahr da zur Sicherheit auf jeden Fall hin. Bring die Adresse in Erfahrung. Ich mach mich gleich auf den Weg, ruf mich an, wenn du weißt, wo ich hinmuss!«

Mit diesen Worten stieg Kluftinger in das kleine Auto und schlug die Tür zu. Maiers Angebot, er könne doch mitkommen, überhörte er geflissentlich.

»Maxl, servus!«, begrüßte Kluftinger eine gute halbe Stunde später Max Greiter, seinen Kollegen vom Diebstahl und Raub, also dem Kommissariat für Eigentumskriminalität, wie es offiziell hieß. Greiter war ein sportlich wirkender Mittvierziger, der durch die Funktionskleidung, die er tagaus, tagein trug, und durch das gebräunte Gesicht immer aussah, als käme er gerade von einer Klettertour. Kluftinger hatte das Gefühl, als wolle er dadurch auch zeigen, dass er, der gebürtige Oberstdorfer, der jeden Tag nach Kempten pendelte, aus anderem Holz geschnitzt war als die »Flachlandtiroler« aus dem nördlichen Allgäu. Auch durch einen besonders kehligen Dialekt hob er sich von den Kollegen ab. Der Kommissar konnte ihn dennoch recht gut leiden – vor allem als Erzähler derber Witze bei Weihnachtsfeiern wurde Greiter im Kollegenkreis geschätzt.

»Servus, Kluftinger! Was verschlägt dich hierher ins obere Oberallgäu?«

»Da fühlt ihr euch recht geehrt, wenn ein Kemptener zu euch raufkommt, gell?«, gab der Kommissar zurück.

»Wir sind vor Ehrfurcht jedes Mal geradezu erstarrt! Aber wir haben uns schon vorbereitet, der Maier hat den hohen Besuch ja angekündigt. Schau dich ruhig um hier, aber ich sag dir gleich: Wir haben nur zwei kleine Lichter gefasst, die gerade ein paar Autos fertig gemacht haben für die Überführung. Vermutlich nach Russland. Wer dahintersteckt – und das werden wahrscheinlich die sein, für die du dich am meisten interessierst –, können wir immer noch nicht sagen. Die kleinen Vögelein, die bei uns im Käfig sitzen, haben noch nicht angefangen zu singen.«

Kluftinger nickte. Wer dahintersteckte, war ihm recht egal – darum sollten sich mal die Kollegen kümmern. Dass kein Zusammenhang zwischen seinem aktuellen Fall und dieser Autoschieberei bestand, wusste er längst. Ihm ging es einzig und allein um seinen Passat. Er sah sich in der Halle um. Es waren an die zwanzig Wagen, die hier dicht an dicht geparkt waren, teilweise mit Nummernschildern, teilweise ohne. Doch statt des von ihm erhofften grauen Kombis erblickte er vorwiegend große, schwere Geländewagen, Limousinen, einige VW-Busse und ein paar Sportwagen. Nicht ein einziger Passat war zu entdecken. Er durchschritt die Reihen der geparkten Autos – nichts, was auch nur annähernd an sein geliebtes Gefährt erinnerte. Am Ende der Halle angekommen, seufzte er resigniert und ließ die Schultern hängen.

»Ganz schöne Auswahl, gell?«

Kluftinger fuhr zusammen – er hatte gar nicht bemerkt, dass Greiter hinter ihm hergegangen war. »Mhm. Schlimm. Sind das denn alle, oder gibt es noch mehr?«

»Na ja, das sind so ziemlich alle, die in den letzten vierzehn Tagen weggekommen sind. Die haben hier einfach noch auf ihre Auslieferung gewartet, wenn du so willst. Was vorher gestohlen worden ist, ist entweder zerlegt oder mit neuer Identität über alle Berge.«

»Hm, und geklaut wurden also fast nur solche neuen, edlen Autos wie die hier?«

»In unserem speziellen Fall schon.«

Kluftinger seufzte. »Aber warum? Ich meine, die sind doch viel schwerer zu knacken! Und fallen mehr auf!«

»Das mit dem Knacken stimmt so nicht ganz. Die Wegfahrsperren sind schnell ausgeschaltet – einen Laptop und ein bisschen Software gepaart mit Erfahrung, da geht das ganz schnell. Wir haben es da mit Experten zu tun, das kann nicht jeder Junkie, das ist schon klar.«

»Und so ganz normale, ältere Autos, die werden nur ganz selten gestohlen?«

»Nein. In der Masse sind das sogar mehr. Nur sind das zwei Paar Stiefel. Häufige Mittelklassemodelle werden zerlegt und dann als Teile in ganz Europa vertickt, vor allem nach Osten. In genau solchen Hallen wie hier. Es gibt einen großen Markt für Ersatzteile von Typen wie Passat, Octavia, Golf, Vectra, Mondeo und so weiter. Die sogenannten Volumenmodelle. Da wird ziemlich wahllos geklaut, und du siehst die Dinger nie mehr wieder.«

Bei dem Wort »Passat« bekam Kluftinger weiche Knie. Wenn er daran dachte, dass jemand sein geliebtes Auto rücksichtslos ausgenommen haben könnte …

»Die sind dann auch so sechs Jahre oder älter, da ist die Sicherheitstechnik noch leichter zu knacken«, fuhr Greiter ungerührt fort. »Was du hier siehst, ist praktisch die Premiumabteilung: Da wird ganz gezielt nach Modell, Farbe und Ausstattung bestellt und auf Auftrag gestohlen. Dann wird aufwendig die Fahrzeugidentität gefälscht – Fahrgestellnummern und die elektronische Fahrzeuggeschichte. Da brauchst du viel Zeit, Geld, Technik und eine gute Organisation. Dazu ein paar schöne, gut gefälschte Papiere, und ein paar Wochen später fährt ein X5 oder ein Q7 völlig unbehelligt über ein paar Grenzen und wird weit weg von hier verkauft.«

»Aber seit wann ist das denn hier im Allgäu so schlimm?«

»Gute Frage. Eben noch gar nicht so lang. Wir sind ja auch ziemlich weit von den einschlägigen Grenzen entfernt. Aber es muss eine Art Mafia geben, der das im Endeffekt egal ist. Berlin ist im Allgemeinen die Hochburg für geklaute Wagen, gerade für die hochwertigen Autos. Von da aus bist du halt schnell über der Grenze, die ja keine mehr ist. In Bayern ist das Diebstahlrisiko viel geringer – umso spektakulärer ist für unser Gebiet, was du hier siehst. Aber statistisch gilt noch immer: Wenn du in Bayern einen Smart fährst, brauchst du dir am wenigsten Gedanken um einen Autoklau zu machen! Vor allem, wenn er rosa ist.« Greiter grinste breit und zeigte seine Zähne, die in seinem gebräunten Gesicht geradezu unnatürlich weiß strahlten.

»Aber was richtig Altes war jetzt nicht dabei, oder?«, hakte Kluftinger noch einmal nach.

»Ein 67er Jaguar steht da drüben und da vorne die alte S-Klasse. Und als Fahrzeug haben sie irgendeinen alten Kombi benutzt.«

Kluftinger horchte auf. Sein Puls beschleunigte sich, und sein Atem ging schneller. »Was denn für einen? Kann ich den mal sehen? Wär möglicherweise wichtig für … meinen aktuellen Fall!«

»Logisch, der steht hinten im Hof, so ein grauer.«

Grau? Hoffnung keimte im Kommissar auf. Er bedankte sich und machte sich in freudiger Erwartung auf den Weg nach draußen.

Eine Stunde später bog er auf den gekiesten Hof einer Autovermietung in Kempten ein, um den Smart abzugeben. Er war wütend und enttäuscht, denn der besagte Kombi hatte sich doch nicht als sein Passat, sondern als ein höchstens halb so alter Mercedes herausgestellt. Resigniert schlug der Kommissar die rosafarbene Autotür zu. Er musste sich wohl damit abfinden: Sein treuer Begleiter war unwiederbringlich verloren. Was für ein Gestörter sich auch immer sein altes Gefährt geschnappt hatte, was auch immer er damit gemacht hatte – er würde es nicht wiedersehen. Den Gedanken, den Diebstahl doch noch zu melden, hatte er verworfen: Der Materialschaden war im Vergleich zum Imageschaden, den er erleiden würde, gering. Er hatte keine Lust, in Zukunft bei jedem Autodiebstahl von den Kollegen ein hämisches »Vielleicht haben die ja auch deine Karre!« zu hören.

Ein neues Auto musste also her, und zwar bald, denn auch der Gedanke, in fünf Minuten wieder ohne fahrbaren Untersatz dazustehen, war wenig verlockend. Noch dazu lag ihm seine Familie ständig damit in den Ohren.

Aber wie sollte er das anstellen? Welches Fahrzeug wäre das richtige? Er hatte sich ja noch gar nicht damit beschäftigt. Und eine Kluftinger-Familienkutsche musste einigen Anforderungen genügen: Sie musste billig, praktisch, sparsam und widerstandsfähig sein – und am besten genauso zuverlässig wie der gute, alte Passat. Wie sollte er nun aus dem Überangebot von Gebrauchtwagen den einen richtigen finden – noch dazu, wo er nicht gerade Übung hatte, was den Autokauf anging? Da lauerten doch überall Lügner und Betrüger! Und ein Neuwagen kam schon gar nicht infrage. Ob er Maier um Hilfe bitten sollte? Schließlich war der doch immer auf dem neuesten Stand der Technik.

Mit hängendem Mundwinkel und gesenktem Kopf betrat er die Bürobaracke der Mietwagenfirma, aus der ihm eine Duftmischung aus Kaffeesatz, kaltem Rauch und Raumspray entgegenschlug. Hinter einem Tresen saß ein junger Mann in grünem Poloshirt, der eine extravagante Brille mit dickem rotem Rand trug. Kluftinger grüßte murmelnd.

»Ah, der Smart aus Wien, richtig? Guten Tag. Sie Armer – hatten die Kollegen in Österreich denn kein vernünftiges Fahrzeug mehr? Mit diesem Einkaufswagen mehrere Hundert Kilometer runterzureißen ist ja wirklich die Höchststrafe! Noch dazu so eine rollende Litfaßsäule. Das tut mir aufrichtig leid, wir werden uns wirklich bemühen, dass so etwas nicht mehr vorkommt«, erklärte der Mitarbeiter der Vermietfirma mit professioneller Höflichkeit.

Priml. Nicht einmal die standen zu den Autos, die sie da vermieteten. Wie so oft in den letzten Stunden fühlte sich Kluftinger genötigt, das kleine rosafarbene Gefährt zu verteidigen. »Für den Smart brauchen Sie sich nicht zu entschuldigen. Das ist ein astreiner Wagen – und ökologisch obendrein. Ich tät den sofort nehmen!«

»Ach ja? Wenn Sie wollen, können Sie ihn kaufen!«

Kluftinger runzelte die Stirn.

»Nein, ehrlich. Der Vertrag mit Manner läuft aus, und wir müssten ihn sowieso umspritzen lassen, deshalb stoßen die Wiener Kollegen gerade alle Smarts ab, da kam erst gestern eine Mail rein. Die sind im Moment richtig günstig zu kriegen!«

Der Kommissar horchte auf. »Ach so? Was kostet denn dann so was … also … tät so was kosten?«

»Ich seh gern mal nach – lassen Sie mal die Nummer sehen … Moment …« Er tippte etwas in die Tastatur seines Computers. »Ah ja, der Wagen wäre, so wie er draußen steht, für fünfeinhalb zu haben, hat noch keine dreißigtausend drauf und wird demnächst zwei. Und als Zuckerl gibt es noch gebrauchte Winterreifen inklusive Felgen dazu.«

»Fünfeinhalbtausend?« Das war deutlich weniger, als Kluftinger geschätzt hatte, weshalb er den Betrag noch einmal ungläubig laut wiederholte – eine Äußerung, für die er sich sofort verfluchte, vielleicht lag ja ein Irrtum vor, auf den er jetzt erst hingewiesen hatte.

»Ja, das stimmt schon – mir scheint auch, da könnte man preislich noch etwas machen. Noch dazu bei dem Lack. Hätten Sie denn wirklich Interesse? Dann würde ich mal bei der Zentrale in Österreich nachfragen, ob da noch was geht.«

»Hm … na ja, ich mein … fragen kostet ja nix, oder?«

»Kein Problem, ich mach das gern für Sie«, sagte der Mann lächelnd und griff zum Telefonhörer, während Kluftinger noch einmal nach draußen ging. Er musste kurz nachdenken. Noch einmal besah er sich das kleine Auto von allen Seiten. Zwei Jahre, keine dreißigtausend Kilometer, vernünftig gewartet, mit Winterreifen, zu so einem Preis – eigentlich konnte er da nichts falsch machen. Innerlich hatte er auf der Fahrt von Immenstadt hierher schon mit dem Gedanken gespielt, mehr als das Dreifache für ein Auto ausgeben zu müssen.

Und sollten sie doch alle reden! Ihm reichte dieses Auto allemal. In Urlaub fuhr er sowieso nicht, Markus würde ohnehin bald eine eigene Familie haben. Und Erika würde die Vorteile nach kurzer Zeit schon zu schätzen wissen – allein was das Einparken anging. Wie oft hatte sie gegen den sperrigen Kombi gewettert!

»Also«, tönte der Autovermieter, als er aus der Tür schritt, »fünftausend geradeaus, mit deutschen Papieren, neuem Service und neuem TÜV. Umlackieren müssen Sie ihn dann aber selber. Mehr kann ich leider nicht machen – beim besten Willen. Und um den Preis können wir auch kein Altfahrzeug in Zahlung nehmen.«

»Das braucht’s eh nicht!«, merkte der Kommissar mit bitterer Miene an.

»Denken Sie einfach in Ruhe drüber nach, das Auto wird erst Ende der Woche abgeholt, bis dahin steht er auf jeden Fall hier auf dem Hof. Wegen der Vermietung ist ja so weit alles geklärt. Haben Sie vollgetankt?«

Kluftinger schüttelte den Kopf. Das Tanken hatte er in der Eile glatt vergessen. Doch im Moment hatten andere Gedanken die Oberhand. Ob er sich kurz mit Erika wegen des Kaufs besprechen sollte? Er griff in seine Hosentasche und fischte sein Handy heraus. Andererseits: Schließlich war er der Mann und auch sonst zu Hause für alle Autofragen zuständig, also konnte er hier selbstständig entscheiden.

»Also, da müssten Sie entweder noch schnell zur Tankstelle fahren, oder wir berechnen Ihnen zwei Euro fünfzig pro Liter, das ist leider …«

»Sagen Sie, wenn ich Ihnen das Geld in bar vorbeibringe, kann ich den Smart dann gleich mitnehmen?«

Der Mann im grünen Hemd zögerte kurz – mit einem so schnellen Geschäftsabschluss schien er beim besten Willen nicht gerechnet zu haben.

»Also …«, begann er, »ich müsste noch mal nachfragen, wann die die Papiere schicken können, eine Weile aber braucht das schon, bis das alles über die Bühne ist.«

»Schade, wenn, dann hätt ich das Auto sofort gebraucht. Dann lassen wir es halt doch lieber …«

»Nein, nein, ich meine …«, hakte sein Gegenüber schnell nach, überlegte ein wenig und sagte dann entschlossen: »Wissen Sie was, ich nehm das jetzt auf meine Kappe. Sie können ihn mitnehmen. Wir machen einen Kaufvertrag, Sie bezahlen und fahren mit dem Smart vom Hof – offiziell zur Miete, aber natürlich zum Nulltarif. Und in ein paar Tagen bekommen Sie den Kraftfahrzeugbrief von uns und melden den Smart auf sich an. Einverstanden?«

Kluftinger nickte. Dann fiel ihm noch etwas ein: »Krieg ich dann auch noch so ein … dings, so ein Smartfon?«

Der Mann lachte, da er annahm, dass Kluftinger einen Witz gemacht hatte, doch als er in ein todernstes Gesicht blickte, erstarb sein Gelächter. »Ich, also, leider nein.« Dann wechselte er rasch das Thema: »Holen Sie doch das Geld, ich mach derweil den Vertrag so weit fertig. Wenn Sie wollen, ruf ich für Sie noch in unserer Vertragswerkstatt an wegen der Umlackierung – da bekommen Sie bestimmt einen Sonderpreis.«

»Nein, danke – da kümmere ich mich schon selber drum«, erklärte Kluftinger. Er würde in Altusried bei seinem Spezl in der örtlichen Werkstatt sicher einen noch besseren Preis bekommen. Dann machte er sich zufrieden und ein bisschen aufgeregt wegen der unerwarteten Entwicklung der Dinge zu Fuß auf den Weg zur nahe gelegenen Sparkassenfiliale.

»Ah, der Herr Kommissar! Fahren Sie jetzt Werbung bei der Polizei?«

Kluftinger sog zischend die Luft ein. Langsam konnte er diese dämlichen Witze nicht mehr hören.

»Grüß Gott, Herr Wondratschek«, sagte er misslaunig und nickte dem Mann durch die offene Scheibe seines Wagens zu. Der Bordellbesitzer war Kluftinger weitaus weniger sympathisch als die Damen, die für ihn arbeiteten. Und die riesige Dogge, die der Mann mit dem stets zum Zopf gebundenen schwarzen Haar immer bei sich hatte, tat ihr Übriges.

»Vielleicht können wir da auch mal ins Geschäft kommen«, fuhr der Mann fort. »Ich mein: Zwei Punkte über das a in Manner und der Schriftzug vom Haus 69 dazu – da könnten wir dann schon einmal über Sonderkonditionen für euch reden! Oder meine Mädels lassen mal die Vorhänge offen im zweiten Stock!«

»Danke, der Bedarf ist bei uns eher gering.« Kluftinger nickte ihm noch einmal zu, dann bog er auf den kleinen Hof der Kriminalpolizeidirektion. Dort bugsierte er seinen neu erworbenen Smart in die hinterste Ecke, direkt neben den Fahrradständer. Nachdem er eine Weile herumrangiert hatte, was ihm dank der Abmessungen des Kleinwagens und dessen Servolenkung ohne größere Schweißausbrüche gelang, stellte er den Motor ab und stieg aus. Mit einem zufriedenen Lächeln und durchaus ein wenig stolz drückte er auf seine Funkfernbedienung und sah noch einmal auf seinen neuen privilegierten Parkplatz. Sollten die anderen doch sagen, was sie wollten – was er von nun an fuhr, war das Fahrzeug der Zukunft, auch wenn es sich vielleicht noch nicht überall herumgesprochen hatte.

»Und bei der Eröffnung soll nur die Reliquienmonstranz geraubt werden, oder?«, fragte Hefele eine halbe Stunde später. Kluftinger hatte alle zu einer kurzen Besprechung gebeten. Der Kommissar sah zu Maier, der jedoch mit den Schultern zuckte.

»Hm … also von was anderem war bis jetzt mal nicht die Rede«, erklärte Kluftinger. »Wenn die das mit einer Geiselnahme machen wollen, auch wenn sie nur vorgetäuscht ist, dann können sie wahrscheinlich schlecht die ganzen anderen Sachen auch noch mitnehmen. Das ist ja eine Wagenladung Gold und Edelsteine, wenn man es zusammennimmt.«

»Und wenn die das gar nicht mehr so machen wollen und ihre Pläne geändert haben?«, gab Hefele zu bedenken.

»Das stimmt schon, Roland. Wir wissen nicht, ob morgen wirklich was passiert. Aber andererseits: Wir haben nichts Besseres als die Aussage von dem Strehl. Also müssen wir auch so lange davon ausgehen, dass er uns die Wahrheit gesagt hat, bis das Gegenteil bewiesen ist. Und einfach so zu tun, als hätten wir keine Hinweise auf eine mögliche Geiselnahme, wär mindestens, na ja, grob fahrlässig.«

»Dann lasst uns halt die Eröffnung verschieben, in Gottes Namen!«, fand Strobl.

Kluftinger widersprach: »Nein, Eugen, das bringt im Endeffekt auch nix. Irgendwann müssen wir eröffnen. Ich hab das vorhin schon mit dem Lodenbacher besprochen: Uns ist ja daran gelegen, dass wir den Mörder von der Frau Zahn finden. Wir müssen das morgen durchziehen, daran führt kein Weg vorbei.« Er verschwieg ihnen, dass es im Gespräch mit Lodenbacher vor allem um die Wichtigkeit des für die kommende Woche angesetzten Benefiz-Golfturniers gegangen war.

Maier pflichtete ihm bei: »Wir haben immerhin einen ganz schönen Wissensvorsprung durch den Typen aus Wien. Wir können das doch lückenlos überwachen, und die Manpower haben wir schon angefordert, inklusive SEK und Schutzpolizei. Ich glaube nicht, dass da den Besuchern morgen ernsthaft Gefahr droht.«

»Die Manpower, so, so«, wiederholte Strobl spöttisch, »aber wie wär’s denn mal mit Brainpower: Ich hab da nämlich eine Idee.« Er machte eine Pause und sah grinsend in die Runde.

Kluftinger zog auffordernd die Brauen nach oben.

»Ihr habt doch die Nachbildung von dieser Monstranz aus Wien mitgebracht, oder?«

»Schon«, stimmte Kluftinger zu, »die liegt bei mir im Kofferraum.« Er sah, als er sein neues Auto erwähnte, in die Gesichter seiner Kollegen, konnte jedoch zu seiner Überraschung keinerlei Häme erkennen.

»Also, folgende Idee: Wir tauschen vor der Eröffnung das Ding einfach aus und stellen das Original gemütlich in einen sicheren Tresor – bis wir die Täter auf frischer Tat gefasst haben.«

Kluftinger schüttelte den Kopf. »Nein, das haben der Richard und ich auch schon überlegt. Aber die Fälschung stammt ja von denen, die würden die sicher sofort wiedererkennen. Und stellt euch vor, diese Typen bemerken morgen bei ihrem Coup, dass wir versucht haben, sie aufs Kreuz zu legen – da könnte aus der vorgetäuschten schnell eine echte Geiselnahme werden. Das ist zu gefährlich.«

Alle vier starrten eine Weile wortlos zu Boden. Ein Großeinsatz am nächsten Morgen bei der Eröffnung des Museums war unumgänglich, das wurde nun allen klar.

»Also, Männer«, ergriff Kluftinger das Wort, »morgen läuft alles unter unserer Regie. Lodenbacher ist auch vor Ort, aber der wird uns nicht groß stören – der wird sich eher mit der Prominenz unterhalten wollen. Und das ist vielleicht auch das Beste. Wichtigstes Prinzip morgen ist Zurückhaltung, wir können es uns nicht leisten, dass die einfach wieder unerkannt abziehen, weil sie Lunte gerochen haben. Also verhaltet euch unauffällig, das gilt auch für alle anderen Einheiten, die morgen vor Ort sein werden. Wir haben ja die mobile Einsatzzentrale mit den vielen Monitoren drin, damit werden wir die Bilder von den Überwachungskameras anzapfen. Richie, das ist dein Part. Wenn du willst: Das Auto steht schon im Hof vom Präsidium, du kannst dich also gleich mal mit den Geräten vertraut machen.«

Ein stolzes Lächeln machte sich auf Maiers Gesicht breit. Kluftinger war froh, dass sich der Kollege im Lauf der Jahre zum echten Technikexperten gemausert hatte, auch wenn er das nicht einmal unter Folter zugegeben hätte.

»Wir haben Phantombilder anfertigen lassen von den Leuten, die dieser Strehl vorgestern als seine Komplizen beschrieben hat. Bis jetzt sieht es so aus, als brächte es nicht viel – anscheinend haben wir es mit lauter unbeschriebenen Blättern zu tun. Aber egal: Wenn morgen jemand auftaucht, auf den die Beschreibung passt, kann uns das nur hilfreich sein.«

»Und wie halten wir Kontakt?«, wollte Hefele wissen. »Ich mein, falls einer was sieht oder so. Da wird’s ja morgen vor Besuchern nur so wimmeln.«

»Darum hab ich mich schon gekümmert.« Maier zog ein Aluköfferchen unter dem Tisch hervor, dem er fünf schwarze Ansteckmikrofone mit den dazugehörigen Ohrhörern entnahm. »Wir haben die Geräte aus München angefordert, weil es bei uns ja leider keine gibt. Aber mal ehrlich: Es wäre schon mal an der Zeit. Die Dinger hatte in Amerika schon vor zwanzig Jahren jeder Personenschützer!«

»Woher weißt jetzt du das so genau?«, fragte Hefele.

»Das weiß man halt. Es gibt da ja schließlich einschlägige Filme, oder?«

»Lass mich raten: ›Bodyguard‹ mit Kevin Costner?«

Maier ignorierte die Bemerkung. »Also, wollt ihr die Dinger jetzt ausprobieren?«

Alle schüttelten desinteressiert den Kopf.

»Es wär vielleicht schon nicht schlecht, wenn ihr testen würdet, ob die In-Ear-Monitore passen und in den Ohren halten. Und die Mikros …«

»Richie, lass mal, die werden schon gehen. Schau aber, dass die Batterien auch noch genug Saft haben!«, bat Kluftinger.

»Wann geht’s morgen eigentlich los?«, wollte Strobl wissen.

»Die offizielle Eröffnung ist um zehn, wenn wir gegen halb neun da sind, sollte das reichen. So, und jetzt geht’s heim, morgen wird es stressig genug werden. Alle Details sprechen wir vor Ort noch einmal durch. Aber wie schon gesagt: Von unserer Seite hat die Ergreifung der Täter oberste Priorität – wir haben schließlich einen Mord aufzuklären, Schatz hin oder her!«

»Hatten Sie denn eine gute Rückreise aus Wien, Chef?«

Sandy grinste Kluftinger mit einem Gesichtsausdruck an, den er nicht recht deuten konnte. Er beschloss, seinen belastenden Konflikt mit ihr nun endlich beizulegen. Der aktuelle Fall war turbulent genug, da musste man sich nicht auch noch Nebenkriegsschauplätze schaffen. Und eine angenehme Arbeitsatmosphäre in seinem Team, vor allem eine stressfreie Beziehung zur guten Seele der Abteilung, wie er Sandy immer nannte, erleichterte den Alltag doch ungemein. Allzu lange würde sie ihnen wegen der Schwangerschaft eh nicht mehr erhalten bleiben.

»Ganz prima, Frau Henske. Und wissen Sie was: Das Auto, das Sie uns da reserviert haben, war eine ganz tolle Wahl. Halten Sie sich fest: Ich hab den Smart grad gekauft!«

Sandy sah ihn ungläubig an – sie schien nicht sicher, ob ihr Vorgesetzter sie auf den Arm nehmen wollte.

»Nein, wirklich. Steht unten im Hof, da!« Kluftinger ging um Sandys Schreibtisch herum zum Fenster. »Wenn man von der oberen Ecke aus schaut, sieht man ihn.«

Sandy stellte sich zu ihm und gab schließlich ein »Isch werd närrsch! Der Chef hat nen bonbonrosa Smart gekauft!« von sich.

»Einen schönen Gruß vom Valentin sollen wir übrigens ausrichten«, wechselte Kluftinger das Thema.

»Aha, danke. Vor unseren Telefonaten die Woche hab ich ja schon länger nichts mehr von dem gehört. Kein großer Verlust.«

Kluftinger schlug nun einen feierlichen Ton an: »Sandy, was ich Ihnen schon länger mal sagen wollte: Ich würd mich sehr freuen, wenn Sie uns auf Dauer erhalten bleiben. Also, wenn Sie nach … dem freudigen Ereignis Teilzeit machen wollen – wir können das ganz flexibel einrichten. Ich mein, ich weiß ja nicht, wann Sie wieder einsteigen wollen in den Beruf.«

Sandra Henske, die immer noch am Fenster stand, wandte sich um und starrte ihn entgeistert an. »Man könnte gerade meinen, ich sei schwanger, so wie Sie reden.«

Kluftinger schluckte. »Ja, sind Sie das … etwa nicht?«

»Seh ich denn so aus, oder wie?«, sagte sie mit gefährlich blitzenden Augen.

Dem Kommissar wurde heiß, kleine rote Äderchen traten auf seinen Wangen hervor. »Ich … hab halt gedacht wegen der …«

»Wegen meiner Figur? Also das ist ja …«

»Nein, ich hab gedacht wegen … Sie haben doch immer wieder so Stimmungsschwankungen und … weil man sich so erzählt, dass …«

»Also das ist doch die Höhe«, kreischte sie. »Leuten, die solche Gerüchte in die Welt setzen, denen gehört das Handwerk gelegt!«

Kluftinger atmete tief durch, dann sagte er in betroffenem Tonfall: »Ja, das find ich auch. Fräulein Henske, ich kümmer mich drum. Ich hab dem Maier gleich gesagt, dass er das nicht bringen kann und dass da bestimmt nichts dran ist. Aber bitte, sprechen Sie ihn nicht selber drauf an und lassen Sie sich ihm gegenüber auch nichts anmerken, ja? Das ist Chefsache.«

Sandy hatte sichtlich Mühe, sich zu beruhigen.

Der Kommissar war erleichtert. Würde ihm seine Sekretärin also doch noch eine Weile länger erhalten bleiben. »Ich hab’s den anderen doch gleich gesagt«, fügte er freudig an. »Von wem sollten Sie jetzt auch schwanger sein?«

Er klopfte ihr väterlich auf die Schulter und ließ sie mit offenem Mund zurück.

»Heu, Vatter, hast du schon aus? Mei, ein Leben habt’s ihr Beamte! Aber sicher ganz viel Hausaufgaben, oder?«

Kluftinger machte eine wegwerfende Handbewegung. Die Spottreden seines Sohnes fochten ihn im Moment nicht an. Er hatte das Wohnzimmer mit einem erhabenen Gefühl betreten, das weitaus stärker wog als Markus’ Spitzzüngigkeit. Es war ein Gefühl, das er schon lange nicht mehr gehabt hatte, und erst jetzt wurde ihm klar, wie schmerzlich er es vermisst hatte: das Gefühl, das Familienoberhaupt zu sein, der Ernährer oder, archaisch formuliert, der Jäger, der nun in die Höhle zurückkehrte. Mit fetter Beute in Form eines kleinen rosafarbenen Autos. Er konnte es kaum erwarten, mit der Neuigkeit herauszurücken.

»Wir reden grad über die Hochzeit«, frohlockte Erika. »Ich bin ja so aufgeregt!« Immer wieder drückte sie die kleinen Hände von Yumiko, als müsse sie sich versichern, dass die Vermählung ihres Sohnes kein Traum und seine Braut aus Fleisch und Blut war. »Und ich kann’s kaum erwarten, dass wir deine Eltern kennenlernen.«

»Aber das wird ja nun doch noch dauern«, sagte Yumiko und blickte traurig drein.

»Wieso?«, fragte Erika besorgt.

»Ich hab heute mit ihnen gemailt, und erst jetzt haben sie erfahren, dass sich mein Vater erst in einigen Monaten beruflich frei machen kann.«

»Ich hab auch eine gute Nachricht«, platzte es jetzt aus Kluftinger heraus, worauf er in entsetzte Gesichter blickte. »Also, ich mein … jetzt nicht in dem Sinne. Mehr wegen der … Hochzeit und so.« Der furchtlose Steinzeitjäger war augenblicklich einem verschreckten Dackel gewichen.

»Aha. Und welche soll das sein?«, wollte Erika wissen, doch ihr Tonfall zeigte deutlich, dass sie ihrem Gatten nicht zutraute, mit einer adäquaten, seinen Fauxpas von eben wettmachenden Neuigkeit aufwarten zu können.

»Ich hab ein Hochzeitsauto für euch«, änderte Kluftinger kurzerhand seine Strategie, hatte er vorher doch noch sagen wollen, er habe für Erika endlich ein modernes Fortbewegungsmittel gekauft.

»Für uns?« Markus runzelte misstrauisch die Stirn. »Aber wir heiraten doch frühestens in einem Jahr.«

»Ja, und? Man kann nie früh genug an alles denken«, gab Kluftinger beleidigt zurück.

»Was ist es denn?«, fragte Yumiko freundlich lächelnd. Sie schien die Einzige zu sein, die Vertrauen in ihn hatte.

»Ich sag schon mal so viel: Es ist pink!«

»Ein Cadillac!«, entfuhr es Yumiko atemlos.

»Ein … nein, also kein Cadillac, eher … kleiner.«

Eine Weile war es still, dann ergriff Markus das Wort: »Vatter, versuchst du uns etwa zu sagen, dass du die Keksreklame gekauft hast?«

»Ich … was soll das denn jetzt, hm? Ich will euch hier eine freudige Nachricht überbringen, und ihr? Und … überhaupt.«

Markus brach in herzhaftes Gelächter aus. »Ich pack’s nicht, der Vatter hat den Smart gekauft! Und jetzt will er auch noch, dass wir ihm dafür huldigen.«

»Stimmt das?«, fragte Erika ungläubig.

»Ja, hab ich«, erwiderte Kluftinger mit trotzig vorgeschobener Unterlippe.

»Wir machen uns ja zum Gespött, wenn wir damit im Dorf rumfahren.« Erika klang ernsthaft besorgt.

»Du wolltest doch dauernd ein neues Auto! Außerdem lass ich es ja umspritzen.«

»Und das soll unser Hochzeitsauto werden? Vatter, da passt wahrscheinlich noch nicht mal Yumikos Kleid rein.«

»Ja, gut, es ist jetzt nicht wirklich riesig, aber …«

»Hat das nicht Automatik?«, fragte Erika. »Ich kann doch keine Automatik fahren.«

»Ach, das lernt man …«

»Dann musst du aber ein kleineres Instrument spielen«, warf Markus ein, »die Sardinenbüchse hat ja bestenfalls Platz für ein Tamburin – oder du kaufst dir einen Anhänger für die Trommel.«

Kluftingers Wangen begannen gefährlich zu leuchten. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. »Ja, Himmelherrgottnochamal, was habt’s ihr denn dauernd gegen das Auto? Das ist doch einwandfrei. Ökologisch und modern und … dings. Und wenigstens ist es kein Japaner!«

Die Stille, die auf diese Bemerkung folgte, war so mächtig, dass sie die vorhergehende noch übertraf. Und sie dauerte länger an. Wieder einmal hörte Kluftinger das Ticken der Uhr auf der Kommode und zuckte zusammen, als der Erzherzog-Johann-Jodler aus seinem Handy plärrte.

Schnell zog er es aus der Hosentasche. »Ja, Kluftinger? … Verstehe, nein, unbedingt! Ich bin sofort da!«

Kluftinger ließ sich das erhitzte Gesicht bei heruntergelassener Scheibe vom Fahrtwind kühlen, als er seinen neuen Wagen zum zweiten Mal an diesem Tag in Richtung Burgruine und Museum lenkte. Der Schuss mit dem Auto war nach hinten losgegangen, und der Anruf des Bürgermeisters, dass sie nun die Monstranz in die Vitrine einsetzen würden, genau zum richtigen Zeitpunkt gekommen. Nicht, dass es ihn wirklich interessierte, aber so konnte er sich dem häuslichen Trommelfeuer fürs Erste entziehen.

Hösch kam ihm schon entgegen, als er auf den Eingang zuschritt. »Wundert mich ja, dass du das sehen willst. Bist doch sonst nicht so kunstinteressiert«, begrüßte ihn der Bürgermeister.

»Ja, weil du ja der große Kenner bist. Dich interessieren doch vor allem die zusätzlichen Übernachtungszahlen, die jedes der kleinen Schmuckstücke da bringt.«

Hösch überhörte seine Bemerkung, fasste ihn an der Schulter und führte ihn ins Museum, als wolle er ihm sein Wohnzimmer zeigen. In der großen Ausstellungshalle herrschte eine geradezu andächtige Stimmung; etwa ein Dutzend Leute standen im Halbkreis im Zentrum des Raumes.

»Ist gleich so weit«, flüsterte Hösch feierlich, als befände er sich inmitten einer Zeremonie.

Als sie sich der Gruppe näherten, sah Kluftinger, dass neben Rolf Kuffler von der Versicherung, René Preißler von der Sicherheitsfirma mit seinen Mitarbeitern und den Spediteuren auch der Pfarrer anwesend war. Er seufzte, hatte er doch eigentlich gehofft, erst morgen auf den Geistlichen zu treffen. Jetzt wurden sie von den anderen bemerkt und kopfnickend begrüßt. Nur der Pfarrer, der neben ihm stand, reichte ihm die Hand: »Grüß Gott, Herr Kommissar. Zurzeit sehen wir uns aber oft, gell? In der Kirche bist du ja leider nur sehr selten mein Gast.«

Kluftinger ließ die Schultern hängen. Wie so oft hatte es der Pfarrer geschafft, dass er sich wie ein Schuljunge beim Schwänzen vorkam. Der Geistliche operierte gerne mit dem breiten Instrumentarium an Schuldgefühlen, das die Kirche ihm zur Verfügung stellte. Und bei ihm funktionierte es fast immer. »Ich, ja, mei, das … Gschäft«, stotterte er.

»Verstehe schon«, sagte der Priester und nickte. »Vor mir brauchst du dich nicht zu rechtfertigen. Aber was Er davon hält, steht auf einem anderen Blatt.« Bei dem Wort Er richtete der Geistliche die Augen unbestimmt zur Decke.

Priml. Kluftinger war noch keine fünf Minuten hier, und schon hatte ihm der Pfarrer nach alter Gewohnheit die ewige Verdammnis prognostiziert. »Schöne Monstranz«, versuchte der Kommissar das Thema zu wechseln und deutete auf das rote Tuch am Boden, in dem er das Schmuckstück vermutete.

»Ja, wirklich, außerordentlich schön«, stimmte der Pfarrer zu. »Weißt du eigentlich, was der heilige Magnus für uns hier im Allgäu vollbracht hat?«

Jetzt nickte Kluftinger zufrieden. Die Antwort auf diese schulmeisterlich gestellte Frage kannte er: »Ja, sicher, der hat der Legende nach mehrere Drachen besiegt. In Kempten direkt an der Iller und in Roßhaupten.«

»Das auch. Es gibt übrigens noch eine andere Drachengeschichte. Einmal hat ihn nämlich einer verfolgt, als er das Evangelium gepredigt hat, am Lech, drüben bei Füssen, kurz vor der heutigen Grenze zu Tirol. Da ist der Fluss ganz schmal. Als der Drache dann Feuer speiend kam, ist Sankt Magnus über den Fluss gesprungen – mit einer solchen Wucht, dass sich sein Fußtritt in den Fels eingedrückt hat. Deswegen heißt die Gegend Mangtritt.«

Kluftinger lächelte. Er mochte diese Geschichten.

»Ich war selbst dort. Den Fußtritt gibt’s wirklich … Gibt einem gläubigen Menschen schon zu denken, oder?«, fragte der Pfarrer herausfordernd.

Das Lächeln des Kommissars verschwand.

»Du weißt aber schon, wofür der Drache eine Metapher ist?«

»Ich … also, so genau hab ich darüber noch nicht nachgedacht.«

Der Pfarrer blickte ihn mitleidig über den Rand seiner goldgefassten Brille an. »Der Drache steht für den Unglauben, von dem uns Magnus befreit hat, nicht wahr?«

»Unglauben. Befreit. Klar.« Kluftinger fühlte sich wieder wie der kleine Ministrant, als der er unter dem Drang des damals noch als Kaplan tätigen Geistlichen gelitten hatte, sein überlegenes Wissen mit dem seiner Eleven zu messen.

»In Füssen wird das ja jedes Jahr am 6. September, dem Magnustag, gefeiert. Dort hat der Heilige damals eine Mönchszelle errichtet und das Kloster gegründet. Wo heute die barocke Magnuskirche steht, errichtete man im zehnten Jahrhundert eine romanische Kirche, die Krypta gibt es übrigens heute noch. Die Gebeine des Magnus sind verschollen, seit, ebenfalls im zehnten Jahrhundert, die Ungarn im Allgäu eingefallen sind. In seinem Grab fand man nur noch einen Kelch und seinen Stab, der bis heute am Magnustag durch die Stadt getragen wird. Leider konnte man das Museum hier ja nicht an diesem Tag einweihen, da waren weltliche Aspekte wichtiger als die kirchlichen. Na ja, ist eben so. In Füssen wird übrigens auch der Magnuswein geweiht. Sehr süffiger Tropfen, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf. Er kommt aus Südtirol aus einem Anbaugebiet, das früher dem Füssener Sankt-Mang-Kloster gehört hat. Aber das weißt du ja sicher alles.«

Kluftinger hörte nur mit einem Ohr zu, weil sich zwei Männer der Spedition gerade darangemacht hatten, die Monstranz aus dem samtenen Tuch auszuschlagen und aufzuheben. Sie taten das so langsam und so vorsichtig, dass ihre Bewegungen kaum wahrnehmbar waren. Kluftinger fand das etwas übertrieben, immerhin hatte das Stück die Jahrhunderte in einem verdreckten unterirdischen Gang überstanden. Jetzt hatten die Männer die Monstranz aufgerichtet und stellten sie in den von der Decke hängenden gläsernen Kasten, verschlossen ihn sorgfältig und traten zurück. Dann wurden die Deckenleuchten und Scheinwerfer eingeschaltet, und das Exponat erstrahlte in vollem Glanz. Ergriffen standen alle Anwesenden da und betrachteten schweigend das in unzähligen Farben funkelnde Schmuckstück mit all den Edelsteinen. Derart in Szene gesetzt, konnte sich niemand seiner Wirkung entziehen.

»Heil’ger Magnus, wir dich grüßen: Allgäus hehrer Gottesmund«, wisperte der Pfarrer neben ihm, worauf der Bürgermeister fortfuhr: »Siehe uns zu deinen Füßen, huldigend zu jeder Stund.«

Fragend sah der Kommissar die beiden an.

»Das Magnuslied«, flüsterte der Pfarrer.

Er nickte.

»So, ich glaube, wir sollten sie jetzt gleich versenken«, brach Kuffler das Schweigen. Er wirkte fahrig und nervös, was Kluftinger nur zu gut verstand: Es ging hier um eine Versicherungssumme in Millionenhöhe, diese Verantwortung hätte er nicht tragen wollen.

Nun sah der Kommissar zum ersten Mal den Tresor in Aktion: Mittels einer elektrisch betriebenen Hydraulikvorrichtung fuhren zwei Bodenplatten auseinander, worauf ein darunter eingelassener Tresor sichtbar wurde. Ein Mitarbeiter der Sicherheitsfirma tippte, für die anderen nicht erkennbar, eine Kombination in das Tastenfeld und trat dann einen Schritt zurück, und der Kommissar sah, wie sich eine horizontal verlaufende Tresortür aufschob. Dann wurde der gesamte Glaskubus mit der Monstranz heruntergelassen, direkt in den geöffneten Safe. Schließlich beugte sich Kuffler über die Öffnung, hakte den Kubus aus und trat wieder zurück. Anschließend schloss sich der Deckel, und Kuffler drückte noch einmal einen Knopf, worauf Kluftinger das Schloss einrasten hörte und ein kleines Lämpchen von Grün auf Rot wechselte. Dann schloss sich auf Knopfdruck mit leisem Surren auch die Bodenplatte wieder.

Der Kommissar war beeindruckt. Das hatte alles wie am Schnürchen geklappt; diese Sicherheitsvorrichtung war wirklich Respekt einflößend und schien auf dem allerneuesten Stand der Technik zu sein.

»Na, was sagst du dazu, hab ich das nicht alles toll eingefädelt für die Gemeinde?«, fragte ihn Hösch, der vor Bewunderung seiner eigenen Leistung kaum an sich halten konnte.

»Ganz ordentlich«, erwiderte der Kommissar lediglich.

»Das wird morgen ein Tag, an den die Altusrieder noch lange denken werden«, fuhr der Bürgermeister fort.

Ich hoffe nur, dass es eine gute Erinnerung werden wird, sinnierte der Kommissar.