Kluftinger betrat den Hausgang und schmetterte wie immer, wenn er nach Hause kam, ein »Bin dahoim!« in die Wohnung – ein Gruß, der jedoch unbeantwortet blieb. Markus und Yumiko schienen nicht zu Hause zu sein, seine Frau hörte er in der Küche telefonieren. In aller Ruhe zog er sich die Haferlschuhe aus und schlüpfte in seine Fellclogs, ein Ritual, mit dem stets der Feierabend begann und aus dem Kriminalhauptkommissar der Privatmensch Kluftinger wurde. Er freute sich auf einen gemütlichen Fernsehabend zu Hause. Auch wenn er wusste, dass heute nicht er, sondern Markus Herr über die Fernbedienung sein würde, war er froh, dass die ganze Familie vereint war. Er musste sich nicht einmal Gedanken darüber machen, wie er am nächsten Morgen ins Büro käme: Er hatte Richard Maier gebeten, ihn mitzunehmen, schließlich lag Altusried auf dessen Weg zur Arbeit.
Außerdem hatte er sich vorher von ihm bei der Kirche absetzen lassen und dort noch einmal für die unversehrte Rückkehr seines Wagens bei der Muttergottes gebetet, dies durch einen Eintrag ins Anliegenbuch untermauert und dann sogar drei Kerzen angezündet. Statt zwei Euro zehn hatte er obendrein einen Fünfer in den Opferstock gegeben – vorwiegend freilich, weil er kein Kleingeld eingesteckt hatte. Einigermaßen zuversichtlich, was die bevorzugte Behandlung seines Anliegens da oben angesichts der großzügigen Spende anging, hatte er sich auf den Heimweg gemacht.
Als Kluftinger in die Küche trat, wurde ihm schon nach wenigen Worten klar, mit wem Erika da gerade telefonierte: Dieser aufgeregte Plauderton war typisch für Gespräche mit ihrer besten Freundin Annegret Langhammer. Erika begrüßte ihn mit Kussmund und zeigte auf das Telefon.
»Er sieht schlecht aus«, sagte sie dann, worauf Kluftinger fragte »Wer?«, von Erika aber nur ein Kopfschütteln erntete. Offenbar hatte sie nicht mit ihm gesprochen. Allerdings über ihn, wie ihm aus dem weiteren Verlauf der Unterhaltung klar wurde.
Er zuckte die Achseln und nahm sich ein Bier aus dem Kühlschrank.
»Mach ruhig auf!«, sagte Erika.
»Freilich, das hatte ich auch vor.«
»Nein, nicht du, die Annegret. Der Martin kommt grad.« Sie wartete ein paar Sekunden auf eine Reaktion. Als diese ausblieb, sagte sie: »Schöne Grüße.«
»Von wem?«
Sie hielt die Hand vor die Sprechmuschel und zischte: »An den Martin. Von dir.«
»Von mir?«
»Auch schöne Grüße!«, sagte sie wieder laut.
»Wieder von mir?«
»Nein, an dich.«
»Ach so.« Er wollte gerade die Küche verlassen, da hielt ihn seine Frau zurück: »Der Martin will wissen, wie’s bei der Arbeit geht.«
Kluftinger blickte sie missmutig an. »Gut. Wenn man davon absieht, dass mich der Lodenbacher bei einem Benefiz-Golfturnier dabeihaben will …«
»Ja? Stell dir vor, der Polizeipräsident will, dass er an einem Promi-Golfturnier teilnimmt!«
Kluftinger sah sie mit zusammengezogenen Brauen an. »Was?«, fragte er verwirrt. »Der Doktor auch?«
»Wie?«
»Der Langhammer spielt auch beim Golfturnier mit?«
»Nein, du! Ja, er.«
Kluftinger schwirrte der Kopf. Wenn seine Frau über fünf Ecken telefonierte, stieg er regelmäßig aus.
»Die Annegret sagt, der Martin sagt, du sollst bei ihm vorbeikommen«, sagte sie.
Kluftinger erschrak.
»Wegen dem Golf, gell, Annegret?«, versicherte sich Erika. »Der Martin hat einen Golfsimulator.«
»Ja, des passt!«, brummte der Kommissar mit ironischem Unterton und verließ die Küche.
»Es passt ihm gut, sagt er. Er freut sich!«
Kluftinger machte auf dem Absatz kehrt und zischte Erika wild gestikulierend zu: »Nein, ich sag zu ihm. Es passt zu ihm. Zum Doktor!«
»Ja, er sagt zu! Bis später Annegret, und vielen Dank gleich mal!«
Kluftinger schüttelte den Kopf. Keine zehn Pferde würden ihn heute noch aus seinem Sessel bringen, und das Allerletzte, was er sich vorstellen konnte, war, einen Abend lang dem Doktor und einer seiner Maschinen ausgeliefert zu sein.
»Wir brauchen noch ein kleines Mitbringsel, wenn der Martin schon seinen Feierabend opfert, um mit dir zu üben!«, trällerte Erika eine halbe Stunde später aus dem Flur. »Nimm doch bitte die Pralinen mit. Die, die in der Speis im Regal stehen!«
»Die aus Schokolade?«
»Nein, die aus Belgien.«
Der Kommissar seufzte resigniert. Wieder hatte seine Frau ihn rumgekriegt. Natürlich. Sie hatte ihn vor die Wahl gestellt: ins Möbelhaus fahren, um einen neuen Teppich auszusuchen, oder alternativ der Besuch bei Doktors. In Ermangelung eines Fahrzeugs war ihm nur eine Wahl geblieben. Und da angesichts der immer wahrscheinlicher werdenden Tatsache, dass der Passat unwiederbringlich verloren war, noch genügend familiärer Ärger auf ihn zukäme, hatte sich Kluftinger zähneknirschend gefügt.
Er hielt die Pralinenpackung in der Hand. Vierhundertfünfzig Gramm. Edle, per Hand hergestellte Köstlichkeiten. Seine Mutter hatte sie ihnen geschenkt, weil er sie so gerne mochte, weswegen er sie nun nicht kampflos dem Doktor überlassen wollte. Noch dazu, wo der sich doch immer so gesund ernährte und sie wahrscheinlich ebenfalls weiterverschenken würde.
»Die hat mir die Mutter geschenkt, die kann ich nicht hergeben«, rief er seiner Frau zu.
»Wird sie ja nicht erfahren.«
Er überlegte fieberhaft und beschloss schließlich, ein wenig zu improvisieren: Er riss die Packung auf und entnahm ihr einige Pralinen, wobei er vorher anhand der Legende auf der Unterseite diejenigen auswählte, die er nicht mochte. Dann packte er die vier Blätterkrokant-, zwei Schichtnougat- und drei Ingwermarzipanpralinen vorsichtig in ein Stück Alufolie. Als er fertig war, hielt er einen unförmigen, glitzernden Klumpen in der Hand. Den würde Erika ihm nie durchgehen lassen. Also riss er erneut etwas Folie ab, wickelte alles darin ein und drehte die überstehenden Enden wie bei einem überdimensionierten Bonbon zusammen. Stolz auf seinen Erfindungsreichtum packte er das Mitbringsel in eine Plastiktüte.
Zunächst genoss Kluftinger den kurzen Spaziergang, der Erika und ihn durch sein geliebtes Heimatörtchen führte, doch je näher sie dem Doktorenbungalow kamen, desto mulmiger wurde ihm. Weiß Gott, welche Demütigungen dort wieder auf ihn warteten. Als ihnen der Arzt die Tür öffnete, war dem Kommissar klar, dass es noch schlimmer kommen würde, als er befürchtet hatte: Langhammer war von Kopf bis Fuß in Karo gewandet.
»Sieht gut aus und ist trotzdem atmungsaktiv«, beantwortete der Doktor Kluftingers ungläubigen Blick. Dass er nicht mit dem sicherlich horrenden Preis prahlte, wertete der Kommissar unter diesen Umständen schon als Hoffnungsschimmer für die kommenden Stunden.
Die Hoffnung verflog, als ihm der Arzt forsch auf die Schulter klopfte und entzückt ausrief: »So, mein Adept ist da!«
Kluftinger lief rot an. Er war kaum zehn Sekunden hier, und schon musste er sich beleidigen lassen! »Selber Depp«, grummelte Kluftinger kaum hörbar und drückte dem karierten Doktor seine Windjacke in die Hand.
»Wie meinen Sie, mein Lieber?«
»Ich … wollt Ihnen noch … was zum Schlecken geben!« Er hielt seine Plastiktüte hoch. Kluftinger bemerkte die Aufschrift erst, als der Doktor sie laut verlas: »Rose of Eden – Miederwaren und Dessous.« Er blickte den Kommissar über den Rand seiner riesigen Brille an: »Na, was bringen Sie uns denn da Spannendes zum Schlecken mit, mein Bester?«
Erika sah ihren Mann pikiert an, doch der hatte sich schnell wieder gefangen: »Keine Sorge, nicht das, was draufsteht. Nur Pralinen, das ist eh passender in Ihrem Alter. Die Tüte ist auch nicht von mir, die hat unsere Schwiegertochter mitgebracht.«
»Schwiegertochter? Na hör ich denn da die Hochzeitsglocken läuten im Hause Kluftinger?«
Der Kommissar war erleichtert, dass Langhammer den Köder gleich geschnappt hatte und damit das schlüpfrige Thema vom Tisch war. »Schon.«
»Habe ich was von Hochzeit gehört?«, jubilierte eine Frauenstimme, im selben Moment öffnete sich die Windfangtür, und Annegret Langhammer begrüßte Erika mit einer Umarmung, während sie Kluftingers dargebotene Hand mit beiden Händen umschloss. »Erika, du musst mir unbedingt alles sofort erzählen. Ich bin ja so neugierig! Komm ins Wohnzimmer, ich hab uns schon einen Algendrink gemacht.«
Kluftinger blieb allein mit dem Doktor zurück. »Der Algendrink ist die neue Wunderwaffe gegen Fett. Thalasso, wenn Ihnen das etwas sagt. Alles Biomasse. Wir züchten die kleinen grünen Dinger selber. Möchten Sie auch einen? Da kann man sogar mal sündigen und sich solche …« Er hielt inne und sah in die Tüte, die er noch immer in Händen hatte, dann zog er die Brauen zusammen, stellte den Beutel ab und fuhr fort: »Solche … wie auch immer gearteten Süßwaren gönnen.«
»Danke, mit Biomasse heiz ich lieber«, gab Kluftinger zurück. »Ich tät dann grad ein Bier nehmen.«
»Haben wir, gar kein Problem. Sogar nach den Mondphasen gebrautes Biobier aus Dinkel. Eine Köstlichkeit für Kenner, Sie werden sehen. Gehen Sie doch schon vor in den Keller, ich hole Ihnen nur noch schnell ein Glas.« Mit diesen Worten deutete Langhammer auf die offene Tür und verschwand.
Der Kommissar blickte die Stufen hinab: Dort unten erwartete ihn Neuland. Noch nie hatte er diese Räume betreten. Schon auf dem Weg hinunter ins Verlies, wie er es gedanklich getauft hatte, präsentierte es sich wie ein Gegenentwurf zum kluftingerschen Untergeschoss: Kein Stäubchen lag auf dem Boden, nirgends stand etwas herum, die blütenweißen Wände wurden durch indirekte Beleuchtung erhellt. Selbst der Kellergang war blitzblank und aufgeräumt. Nirgends ein Regal, kein Getränkekasten, nicht einmal ein Karton. Wozu dann einen Keller?, fragte Kluftinger sich. Er passierte einige geschlossene Türen, die mit kleinen Messingschildchen versehen waren, und schüttelte den Kopf. Was waren das nur für Menschen, die ihren Lebensmittelkeller »Vinothek« nannten?
»Schauen Sie sich ruhig um!« Langhammer hatte sich wieder zu ihm gesellt.
»Danke, ich hab genug gesehen«, brummte Kluftinger.
Der Doktor führte ihn zu einem Raum, der mit »Bar/Home-Cinema/Indoorgolf« beschriftet war. Davor befand sich ein kleines Bänkchen, auf dem Langhammer Platz nahm, sich ein paar Lederschuhe mit Stollen griff und anzog. Seine pinkfarbenen Plastikclogs stellte er daneben ab.
»Wegen des Parketts kann ich die Golfschuhe erst hier anlegen. Ich hab zwei Gästepaare, nehmen Sie sich einfach das, das Ihnen am besten passt!«, tönte Langhammer mit einer einladenden Handbewegung und verschwand in der Tür. Kluftingers Blick fiel auf zwei paar ausgeleierte, lederne Golfschuhe, dann auf seine Füße: Er hatte nur Sandalen an – ohne Socken. Die Leihschuhe erinnerten ihn an den Turnunterricht in der Grundschule: Dort hatte es eine Kiste gegeben, in der alle liegen gebliebenen Sportsachen der letzten Jahrzehnte aufbewahrt wurden. Und immer wenn einer der Jungen aus Kluftingers Klasse den Turnbeutel vergessen hatte, musste er die Sachen aus der Kiste nehmen. Noch heute bekam er eine Gänsehaut, wenn er an den Tag dachte, als ihm sein Lehrer eine dunkelblaue Mädchenstrumpfhose mit dem Befehl »Anziehen!« hingehalten hatte …
Der Kommissar sah sich um und entdeckte eine Tür mit der Aufschrift »Laundry«. Er wusste nicht, was das hieß, knipste das Licht an und fand einen Korb mit säuberlich zusammengelegter Wäsche. Er musste nicht lange suchen, bis er ein Paar blauer, weicher Baumwollsocken in Händen hielt. Schnell zog er sie an und schlüpfte dann in die Lederschuhe, die ihm, wie die Socken, ein bisschen zu eng waren. Aber für die paar Minuten, die er hier unten zu verbringen gedachte, würde er das schon aushalten. Er war sich außerdem sicher, dass die seelische Pein, die ihn erwartete, die körperlichen Schmerzen in den Hintergrund drängen würde. Dann atmete er tief durch, bekreuzigte sich und zog die Tür zum langhammerschen Hobbyraum auf. Dort war es stockdunkel. »Herr Langhammer?«, rief er.
»Gleich, gleich«, schallte es ihm aus dem Herzen der Finsternis entgegen. Dann blendete den Kommissar gleißendes Halogenlicht, in dessen Strahlen der Doktor mit ausgebreiteten Armen stand und feierlich sagte: »Ich präsentiere Ihnen den GOLFSIMPRO 3000! Versehen mit einem Quad-Core-Prozessor, einer Vier-Gigabyte- Grafikkarte und Radarsensor. Das Neueste, was auf dem Markt für den ambitionierten Heimanwender zu bekommen ist. Es gibt Kreuzfahrtschiffe, die mit deutlich weniger anspruchsvollen Geräten ausgestattet sind. Aber Vorsicht, mein lieber Kluftinger, das Equipment ist ziemlich teuer.«
»Ich will aber nur spielen und nicht kaufen!« Dann sah Kluftinger, wo er überhaupt stand: Der Tür gegenüber hing eine große Leinwand schlaff von der Decke, dahinter zeichnete sich unter einigen weißen Leintüchern ein Tresen mit rustikalen Barhockern ab, die Fläche davor war mit Kunstrasen ausgelegt. An der Decke war ein Beamer befestigt, der ein buntes Testbild auf die Leinwand projizierte. Die Wände zierten zahlreiche Poster, die Golfspieler in Aktion zeigten. Langhammer stand an einem Pult, auf dem sich ein Laptop nebst einer Videokamera befand.
»Mein lieber Kluftinger, treten Sie bitte hinter die Abschlaglinie zurück!«
Der Kommissar stellte sich widerwillig hinter einen weißen Strich auf dem Rasen, während der Doktor das Kameraobjektiv in seine Richtung drehte. »Sie filmen das fei nicht, gell?«
Der Arzt legte die Stirn in Falten. »Ich muss die Kamera schon laufen lassen, schließlich muss der Computer Ihren Schwung ja umrechnen. Aber keine Sorge, ich werde nichts davon ins Internet stellen. Fürs Erste jedenfalls!«
Der Kommissar sah auf die Uhr. Maximal noch fünf Minuten, dachte er.
»Nennen Sie mir jetzt Ihren Lieblingsgolfplatz!«, forderte Langhammer ihn auf.
»Meinen Lieblings…dings?«
»Also ich würde Bahrain empfehlen. Eine tolle Anlage, alles, was das Herz begehrt, mit herrlichen Sandbunkern!«
Kluftinger schüttelte vehement den Kopf. »Nein. Auf keinen Fall. Ein Golfplatz mitten in der Wüste! Die haben sie doch nicht mehr alle! Wir nehmen den Platz in Ottobeuren.« Das war schließlich der Einzige, den er wirklich kannte.
»Also, Ottobeuren hat der Computer nicht. Wie wäre es mit Sydney?«
»Viel zu weit! Hellengerst von mir aus. Oder, wenn’s sein muss, den Platz in Wiggensbach, da beim Windrad oben!«
»Aber, mein Lieber, ich habe hier nur Plätze von internationalem Rang! Wenn Sie möchten, hätte ich auch Palma de Mallorca im Angebot!«
»Viel zu überlaufen.«
»Wissen Sie was?«, versetzte der Doktor ungeduldig. »Wir nehmen einfach Musterplatz A, das ist was für Anfänger. So, und jetzt kommen Sie mal zu mir, dann kann ich Ihnen die 3-D-Sensoren applizieren.«
»Applizieren?«, wiederholte Kluftinger. Ihm wurde angst und bange.
»Keine Sorge, das tut nicht weh. Es handelt sich lediglich um Klebepunkte, die dem System ermöglichen, eine genaue Schwunganalyse vorzunehmen«, sagte Langhammer mit dozierender Arztstimme. Dann musterte er sein Gegenüber und ergänzte mit spöttisch nach oben gezogenen Mundwinkeln: »Sie müssen sich nicht einmal ausziehen dafür.«
Kluftinger sah ein, dass er gegen den Enthusiasmus des Quacksalbers heute nicht mehr genügend Gegenwehr aufzubieten hatte. Freudig pfeifend versah der sogleich Kluftingers Arm- und Beingelenke mit denselben kleinen, silbrigen Klebepunkten, die bereits an seiner Kleidung glitzerten. Dabei machte Kluftinger jedes Mal einen Satz, wenn er Körperstellen zu nahe kam, die allein seiner Frau vorbehalten waren.
»So, bis der Computer hochgefahren ist, sollten wir uns ein bisschen aufwärmen«, schlug Langhammer vor. »Diese schnellen Bewegungen sind Gift für die Bänder, wenn man nicht gedehnt ist. Ich bediene mich einiger Stellungen aus dem Qigong.«
»Hm?«, fragte Kluftinger, dem dieses »Tschi« schon mehrmals untergekommen war, jedoch nie in einer Situation, an die er sich gerne erinnerte.
»Vielleicht versuchen Sie es einfach mit Skigymnastik, das erfüllt den gleichen Zweck«, erwiderte Langhammer mitleidig lächelnd. Dann vollführte er seltsam langsame Bewegungen, die er mit allerlei Zischlauten begleitete und die wirkten, als wolle er Kluftinger k.o. schlagen.
»Skigymnastik, hm?«, knurrte Kluftinger, machte zwei Kniebeugen, leerte die Flasche Biobier in einem Zug, schnappte sich einen Schläger und sagte: »Fertig! Und jetzt fangen wir endlich an, sonst ist das Turnier ja vorbei.«
»Wie Sie meinen – jeder ist seines Glückes Schmied«, kommentierte Langhammer und tippte etwas in seinen Computer. Dann drückte er mit einem »Los geht’s!« auf seine Fernbedienung, worauf das Licht herunterfuhr und Geräusche aus dem Lautsprecher drangen. Seltsame Geräusche. Kluftinger blickte zur Leinwand. Er sah eine Wiese, doch es war nicht das Grün eines Golfplatzes. Es war eine Art Waldlichtung … mit einem Pärchen darauf. Einem nackten Pärchen. Einem Pärchen, das …
Der Blick des Kommissars fuhr zum Doktor. Der fummelte hektisch an seinem Computer herum, zischte dabei einen Fluch und zog schließlich ein Kabel an der Rückseite heraus, worauf das Bild verschwand.
»Also das ist doch die Höhe!«, entfuhr es ihm. Er wischte sich über die Glatze, die im Schein der strahlenden Leinwand knallrot leuchtete. »Ich hatte das Gerät … in der Reparatur …«
Der Kommissar grinste. »Da kriegt der Begriff Hobbykeller gleich eine ganz andere Bedeutung, gell? Ist das hier denn ein Golfrasen oder doch eher eine Spielwiese?«
»Wo denken Sie hin? Die müssen einen Virus … auf die Festplatte … oder so.«
Kluftinger war die Situation ein inneres Bockbierfest. »Sah mir eher oral als viral aus.«
Der Doktor japste wie ein Fisch auf dem Trockenen und vertiefte sich in seine Tastatur, wobei er etwas murmelte, das wie »konservativ« und »verklemmt« klang. Schließlich hob er den Kopf und deutete mit einem »So!« auf die Leinwand, auf der nun tatsächlich eine Golfbahn zu erkennen war.
Kluftinger, der kein Interesse daran hatte, das Thema zu vertiefen, fragte: »Welchen Schläger?«
»Warten Sie, ich mache es Ihnen am besten vor. Ich muss nur noch schnell die Spieler einstellen. Ich bin Spieler eins, mit dem Namen Tiger. Das ist mein Golfpseudonym sozusagen.«
Tiger! Kluftinger biss sich auf die Lippe, um nicht laut loszulachen.
»Und wie darf ich Sie nennen?«
Der Kommissar dachte nach. Dann lächelte er verschlagen und sagte: »Um im Bild zu bleiben: Nennen Sie mich einfach Langer.«
»Oh, zu lange gezögert, jetzt hab ich Sie schon Golfer genannt«, sagte Langhammer mit geschürzten Lippen.
Auch gut, dachte Kluftinger.
»Und mit Vornamen Mini.«
Priml.
Dann nahm sich auch der Doktor einen Schläger, legte sich einen Ball zurecht und schlug ihn in Richtung der Leinwand. Dort wurde der Ball durch den lose herabhängenden Stoff gebremst und fiel zu Boden.
Kluftinger hob die Augenbrauen. So sollte man Golf lernen? »Respekt. Zwei Meter. Nicht schlecht für den ersten Schlag«, spottete er. »Vielleicht hätten Sie sich doch noch länger aufwärmen sollen.«
»Ich korrigiere: hundertdreiundachtzig Meter.« Der Doktor zeigte auf die Zahlen am oberen Bildrand. »Ganz ordentlich für Loch Numero eins. Und jetzt Sie!« Er trat ein paar Schritte zurück und beobachtete gespannt den Kommissar.
Der brachte sich in Position und zog den Schläger durch. Mit einem satten Knall traf die Kugel auf die Leinwand. Noch lange, nachdem sie von der Stoffbahn abgeprallt war, zeigte das Bild den Flug eines virtuellen Balls über eine hügelige Landschaft, bis schließlich eine Fahne zu sehen war, die immer größer wurde. Kurz davor blieb der Ball schließlich liegen.
»Au weh, vierundsiebzig Meter weiter«, sagte Kluftinger mit übertrieben erschrockenem Tonfall.
Der Doktor starrte regungslos auf die Leinwand. Dann räusperte er sich und murmelte: »Auch unkonventionelle Wege führen manchmal zum Ziel«, um noch leiser hinzuzufügen, er habe möglicherweise bei Spieler zwei einen zu leichten Schwierigkeitsgrad eingestellt. Mit gerunzelter Stirn begab er sich zum Computer und drehte ihn so, dass der Kommissar keine Sicht mehr auf den Bildschirm hatte. Einige Mausklicks später forderte er den Kommissar auf, erneut abzuschlagen.
Doch die Szenerie auf der Leinwand hatte sich verändert: Statt eines sonnig blauen Himmels brauten sich dunkle Wolken am Horizont zusammen, die Bäume bogen sich in heftigem Wind, Regen peitschte auf den Rasen eines mit Sandbunkern gespickten Kurses. Und unter dem Namen »Mini Golfer« war nun »Handicap: Professional« zu lesen.
Der Kommissar zuckte mit den Achseln, nahm sich willkürlich einen Schläger aus der Tasche, legte sich einen Ball auf die kleine Abschlaghilfe und holte aus. Er spielte mit weniger Wucht als beim ersten Mal, doch wieder flog der Ball kerzengerade auf die Fahne zu. Zu Kluftingers Verwunderung tat sich kurz davor aber auf einmal ein riesiger See auf, und der virtuelle Ball wurde von einer heftigen Böe erfasst, die dafür sorgte, dass er spritzend ins Wasser plumpste. Mini Golfer: Bitte starten Sie erneut mit Loch eins!, stand auf einmal quer über der Leinwand.
Dann wechselte das Bild wieder, und auf der Anzeige stand: Abschlag Tiger. Unter strahlend blauem Himmel lag Langhammers Ball im Gras. Kein Halm regte sich im Wind. Der Doktor machte sich zum Schlag bereit, zog aber den Schläger zu hoch über den Ball, sodass der nur vom Tee hinunterkullerte und liegen blieb. Geschäftig hob er ihn auf, wirbelte herum und sagte: »Wissen Sie was, ich werde mich jetzt ganz der Analyse Ihres Spiels widmen! Ich kann schließlich jeden Tag hier unten üben. Und wir wollen Sie doch fit machen fürs Turnier, nicht wahr? Wenn Sie möchten, kann ich Sie auch dorthin begleiten und mit Rat unterstützen.«
Für einen Augenblick erwog Kluftinger ernsthaft, eine akute Blinddarmentzündung vorzutäuschen, doch dann entschied er sich dafür, die Sache wie ein Mann durchzustehen.
»Also, wir beginnen noch einmal von vorn. Die Einstellungen bleiben aber, man weiß ja nie, welches Wetter hier im Allgäu so herrscht. Oder sind Sie ein Schönwettergolfer, hm?«
Kluftingers Triumphgefühl über das zeitige Aufgeben des Doktors verlor sich irgendwo zwischen den Sandbunkern, aus denen er in den folgenden, endlosen Minuten abschlagen musste, und versickerte endgültig im Green, als er direkt vor der Leinwand putten musste, wie der Doktor forderte. Dabei begleitete Langhammer jeden Schlag mit gemurmelten Lauten, etwa »Mhm, mhm, mhm« oder »soso«. Auf Kluftingers Nachfrage erklärte er, dass er sich »im Investigationsmodus« befinde. Kluftinger dagegen war kurz davor, in den »Liquidationsmodus« zu schalten. Jede Golfeuphorie des Kommissars wurde im Keim erstickt: Kaum ein Ball erreichte mehr das gewünschte Ziel, immer wieder bekam er Strafpunkte aufgebrummt und musste von vorn beginnen, bis schließlich die Leinwand rot wurde und ein Text ihn darüber informierte, dass er ein Handicap von fünfzig erreicht habe und im Anfängermodus neu beginnen solle.
»Mann, Mann, Mann, Kluftinger, da haben wir noch ein ganzes Stück Arbeit vor uns!«, kommentierte Langhammer die Anzeige. »Vom Freizeitspieler zum Turniergolfer ist halt doch ein weiter Weg.«
»Sie müssen es ja wissen, Tiger.«
»Ihre Misere beginnt schon bei der falschen Schwungtechnik, wenn Sie mich fragen!«
»Tu ich aber nicht!«
»Wie meinen?«
»Ich frag Sie gar nicht!«
Langhammer ignorierte seinen Einwand, tippte auf dem Laptop herum, bis auf der Leinwand Schwunganalyse Mini Golfer läuft zu lesen war. Dann wichen diese Worte dem ernüchternden Ergebnis besagter Analyse.
»Wenig geübte Hobbygolferin!«, wiederholte Langhammer glucksend. »Man möchte meinen, der Simulator habe Humor. Oder kennt er Sie persönlich, mein Lieber?«
»Der ist halt von Ihnen schon versaut«, gab Kluftinger wenig schlagfertig zurück. Er fühlte sich leer und dem Doktor und seinen technischen Gerätschaften hilflos ausgeliefert.
Der stellte nun ein auf das Schwungverhalten von Mini Golfer angepasstes Trainingsprogramm ein. Jetzt kommentierte eine Computerstimme seine Schläge. Mal sollte er gleichmäßiger schwingen, mal lockerer stehen, mal mehr Körperspannung zeigen. Kluftinger wurde das dumpfe Gefühl nicht los, dass Langhammer jeden einzelnen Kommentar selbst eingegeben hatte. Als der sich dann auch noch von hinten an den Kommissar schmiegte, seine Arme um ihn schlang, um mit ihm synchron den richtigen Schwung zu üben, schoss dem Kommissar eine Welle Adrenalin durch den Körper, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Seine Hände umklammerten den Griff des Schlägers so kräftig, dass seine Fingerknöchel weiß wurden, und er schwang ihn mit Wucht nach hinten, wobei er Langhammers Arme mitriss. Einen Sekundenbruchteil später bohrte sich das Eisen krachend in die Gipskartonplatte der Hobbyraumdecke. Ein wenig weißer Staub rieselte daraus auf die beiden Männer, die vor Schreck erstarrten und dastanden wie zwei Statuen im Schneetreiben.
»Himmelarsch!«, entfuhr es dem Kommissar, wobei er sich aus der Umarmung des Doktors befreite.
Langhammer blieb stumm stehen, den Blick auf den Schaden gerichtet.
»Herr Langhammer, das tut mir leid jetzt. Aber die Decke ist halt wirklich saumäßig niedrig da herin. Wobei, das kann man ja recht einfach wieder spachteln. Ich mach Ihnen das wieder zu!«
»Nein, nein«, winkte Langhammer ab, »da muss schon ein Fachmann ran. Da kann man nicht einfach selber herumdoktern. Das sieht ja unmöglich aus. Lassen Sie mal, trifft ja keinen Armen.«
Schuldbewusst besah sich der Kommissar die Decke und glaubte bei genauerem Hinsehen eine schlecht geflickte Stelle neben dem von ihm verursachten Loch zu erkennen – noch dazu in etwa derselben Größe. Doch er hatte keine Gelegenheit, nachzuhaken, denn im selben Moment wurde oben die Kellertür aufgerissen, und Erika und Annegret stürmten mit besorgten Mienen in den Raum.
»Sagt mal – was war denn hier los?«, fragte Annegret und sah abwechselnd die beiden Männer an.
Kluftinger blickte mit rotem Kopf zu Boden.
»Nun, Personenschäden gibt es keine, aber die ungelenke und rustikale Spielweise unseres lieben Herrn Kluftinger hat für einigen Sachschaden gesorgt«, erklärte der Doktor und zeigte zur Decke.
»Also sag mal, wie hat das denn passieren können? Hättest du denn nicht ein bissle aufpassen können?«, schimpfte Erika. Ihr war die Sache noch peinlicher als ihm selbst, das wusste Kluftinger. An Langhammer gewandt fuhr sie fort: »Er ersetzt euch das natürlich, Martin. Wir kommen für alle Schäden auf, die durch seine Ungeschicklichkeit entstanden sind.«
Kluftinger versuchte zu schlucken, doch sein Mund war so trocken geworden, dass es ihm nicht gelang. Warum musste Erika ihn in solchen Situationen noch extra dastehen lassen wie einen kleinen, ungezogenen Jungen, der von seiner Mutter die Ohren lang gezogen bekommt?
»Ach was, lass mal sein, das ist doch nur der Keller hier«, wiegelte Annegret ab. »Die Hauptsache ist, dass euch nichts passiert ist!«
»Nein, Schmarrn«, insistierte Kluftinger und richtete ebenfalls den Blick nach oben, »ich mach euch das schon wieder ganz. So gut wie bei dem Loch direkt neben meinem bekomm ich das schon auch hin, keine Sorge!«
Die Frauen sahen beide auf, nur Langhammer widmete sich wieder seinem Computer.
»Ach, Martin, deswegen hast du letzte Woche den Gips und die Spachtel gesucht!«, entfuhr es Annegret. Kluftinger warf ihr einen dankbaren Blick zu.
»So, nun aber Schwamm drüber«, beendete Langhammer die Diskussion, »die alte Kellerdecke ist nicht so wichtig.«
Seine Frau stimmte zu: »Genau, wir wollen noch ein bisschen was sehen von euren Golfkünsten!«
»Er stellt sich recht an, mein Mann, oder, Martin?«, fragte Erika unverblümt.
»Das möchte ich noch nicht einmal sagen. Für den Turniersieg wird es wohl noch nicht ganz reichen, aber ein gewisses Talent ist zu erkennen. Dein Göttergatte hat durchaus ein Händchen für den Golfsport – möchte man gar nicht meinen, wenn man ihn so sieht.«
»Er ist übrigens selber da«, knurrte Kluftinger.
»Na ja, wo er so einen geduldigen und guten Lehrer wie dich hat, Martin, da muss ja was hängen bleiben!«
Kluftinger legte die Stirn in Falten. War im Algentrunk etwa Alkohol gewesen?
Auch bei dem von den Frauen geforderten Golfmatch zwischen den beiden Männern feuerte Erika den Hausherrn an, während der Kommissar hin und wieder moralische Unterstützung von Annegret bekam, die ihn als Naturtalent pries. Als Kluftinger beim Putten auf einmal ein »Toor!« entfuhr, war sie die Einzige, die nicht hämisch lachte.
Der kleine freundschaftliche Wettkampf der Männer entwickelte sich so immer mehr zum erbitterten Duell. Mal lag Kluftinger einen Schlag vorn, mal der Doktor. Beim Abschlag zum neunten Loch legte Langhammer eine enorme Weite vor, und Kluftinger war bereit, alles zu geben: Er stellte sich parallel zum Ball, schwang mehrmals über ihn hinweg, fixierte ihn, blickte zur Leinwand und holte aus zu einem perfekten Schwung. Der Kopf des Schlägers traf den Ball mit ungeheurer Wucht ein wenig unterhalb der Mitte. Kluftinger kniff die Augen zusammen. Genau in der Mitte des Bildes traf die weiße Kugel auf und durchschlug die Leinwand mit einem satten Knall, auf den ein lautes Klirren folgte.
»Himmelarsch!«, entfuhr es Kluftinger erneut. Der Doktor blickte bedröppelt drein, die Frauen sahen sich erschrocken an. In der Leinwand klaffte ein langer Riss und gab den Blick auf Langhammers ehemalige Hausbar frei. Der Ball hatte die Glastür eines Hängeschrankes durchschlagen und die darin befindlichen Trinkgläser zerdeppert.
Kluftinger ließ seinen Schläger sinken, und die Computerstimme sagte blechern: »Neuer Geschwindigkeitsrekord für Minigolfer.«
»Also wirklich, da können wir jetzt bald nicht mehr hingehen wegen dir!«, schimpfte Erika. Sie hatte ihr Tempo noch einmal beschleunigt, sodass ihr Mann Mühe hatte, mit seinen Sandalen Schritt zu halten.
Au ja, bitte nie mehr!, schoss es ihm durch den Kopf, über seine Lippen kam jedoch nur ein entschuldigendes »Jetzt Erika, wart halt! Ich hab doch versprochen, dass ich morgen ein Leintuch vorbeibring! Und die Annegret hat gesagt, die Bar hätten sie schon lang nicht mehr in Verwendung.«
Mittlerweile waren sie fast zu Hause angekommen.
»Ach, hat sie das, ja? Aber der Martin war nicht gerade erfreut über das Angebot, statt einer Silberleinwand ein altes Leintuch von uns zu bekommen! Und überhaupt: Du hast ja heut anscheinend deine Schwäche für die Annegret entdeckt, oder wie? Gefällt sie dir auf einmal so gut, dass du gleich ihre Socken anziehst?«
Kluftinger wurde rot. Das »Na, na, die Strümpfe meiner Frau lassen Sie aber wohl hier, oder?« des Doktors war die Krönung eines an Peinlichkeiten reichen Abends gewesen.
»Du hast doch dauernd zum Doktor gehalten«, gab sich der Kommissar kampfeslustig. »Von mir aus kannst du auch bei denen im Bett in der Besucherritze schlafen, da brauchst dich schon nicht mehr für mich genieren! So, und jetzt geh ich für meinen Teil rein!«
Damit ließ er seine sprachlose Frau zurück, deren Lippen zu beben begannen. Doch noch bevor er die Tür geöffnet hatte, hielt er inne. In all den Ehejahren hatten sie nie mit einem Grundsatz gebrochen, den ihnen Erikas Vater mit auf den Weg gegeben hatte: niemals im Streit schlafen zu gehen.
Der Kommissar machte kehrt, schluckte allen Ärger hinunter und ging auf seine Frau zu, die sich gern von ihm in die Arme schließen ließ und dabei ein ungemein zärtliches »Du alter Depp!« murmelte.