Wenige Minuten zuvor

Sie hatten sich gut vorbereitet auf diesen Besuch. Dennoch prüfte Magnus noch einmal den Inhalt seines Rucksacks. Eigentlich dürfte nichts schiefgehen. Sie nickten sich noch einmal zu, bevor Agatha die wenigen Stufen hinaufstieg und in einem der Torbogen verschwand. Magnus wartete ein paar Minuten, zündete sich eine Zigarette an und betrachtete die imposante Umgebung: Der Heldenplatz schien das richtige Ambiente für ihre Unternehmung, denn auf eine gewisse Art waren sie genau das – Helden. Auch der gewaltige Rundbogen mit den unzähligen Säulen der Neuen Burg ließ niemanden kalt, schon gar nicht jemanden mit so viel Kunstverstand, wie er ihn hatte.

Er seufzte: Zu gerne hätte er sich weiter in diesem architektonischen Paradies verloren, doch er war ja nicht zum Vergnügen hier. Er trat seinen Zigarettenstummel aus und begab sich ebenfalls in die Eingangshalle. Er wusste, wie er sich zu bewegen hatte, wusste, wo sich die Kameras befanden, ohne dass er hinsehen musste. Es war von Vorteil, wenn Ausstellungen in solch bekannten Gebäuden stattfanden – da waren die Sicherheitseinrichtungen in ihren Kreisen mindestens so bekannt wie die Bauten selbst bei den Touristen.

Er spürte das warme Gefühl der Vorfreude, als er durch das große Portal trat. Auch dort musste er sich zusammenreißen, um nicht wieder ins Schwärmen zu geraten, so beeindruckt war er von dem riesigen Atrium, das er durchqueren musste, um in die Räume mit dem Schatz zu kommen. Wie ein ganz normaler Tourist kaufte er sich sein Ticket.

Bevor er hineinging, hielt er noch einmal kurz inne, atmete tief durch und mischte sich dann unter die zahlreichen Besucher. Gleich würde er zum ersten Mal im Original sehen, wofür er schon so lange arbeitete. Zwar war das so nicht geplant gewesen, aber er hatte gelernt, sich anzupassen. Er war flexibel geworden in all den Jahren, denn selten verlief alles reibungslos.

Die neue Lage bot ihm nun immerhin die Möglichkeit, vorab zu betrachten, was sie bald in ihren Händen halten würden. Ein erhebender Moment. Denn die Ehrfurcht vor den Dingen, die er »besorgte«, wie er es immer nannte, war im Laufe der Zeit nicht geringer geworden. Auch wenn ihn die Jahre seiner Kindheit, die er in kirchlichen Heimen zugebracht hatte, die vielen Demütigungen, die körperlichen und seelischen Qualen, die er dort hatte erdulden müssen, zum Feind dieses bigotten Männerbundes gemacht hatten, auch wenn er vor der Institution Kirche jeglichen Respekt verloren hatte: Er war ihr doch dankbar dafür, dass sie ihm – auf besondere Weise – so ein einträgliches Auskommen sicherte.

Die Gebete, die er in den dunklen Stunden seiner Kindheit zu einem angeblich liebenden Gott geschickt hatte, waren auf eine verquere Weise doch noch erhört worden. Auge um Auge, Zahn um Zahn – dieses alttestamentarische Diktum hatte er zu seinem Credo erkoren. Und so erlaubte er sich bei seinen Projekten auch immer diesen Spaß mit den Heiligennamen. Es war zweckmäßig und erinnerte ihn, wenn er einmal Skrupel bekam, immer daran, wo der Ausgangspunkt für seine »Karriere« lag.

Er lächelte, während er an den endlosen Vitrinen entlangging, denn er wusste, dass viele der größten Kunstwerke nicht existieren würden, gäbe es die Kirche nicht. Sie hatte die bedeutendsten Künstler für sich arbeiten lassen. Und immerhin waren so einzigartige Werke geschaffen worden: Michelangelos Decke der Sixtinischen Kapelle, da Vincis ›Abendmahl‹ und, wenn auch viel weniger berühmt, die Strigel-Madonnen aus Memmingen, von denen ihm die eine oder andere schon »geschäftlich« untergekommen war.

Als er die Halle mit den wichtigsten und edelsten Stücken des Kaldener Burgschatzes betrat, fasste er nach dem Kugelschreiber in seiner Hemdtasche, in den eine winzige Kamera eingebaut war. Früher war dieses Werkzeug noch sündteuer und nur auf dunklen Kanälen zu beschaffen gewesen, heute gab es diese Geräte für wenig Geld in jedem gut sortierten Internetshop. Wenn das Fortschreiten der Technik – vor allem im Sicherheitsbereich – seiner Berufssparte auch schon viele Unannehmlichkeiten bereitet hatte, so brachte es doch ab und an auch Positives.

Er blickte in den Raum und entdeckte Agatha. Unauffällig verhielt der sich ja nicht gerade, der untersetzte Mann mit der gestreiften Tasche war eher ein Blickfang. Immerhin würde das die Aufmerksamkeit von ihm selbst ablenken. Ihre Blicke kreuzten sich kurz, und sie nickten sich kaum wahrnehmbar zu.

Dann schritt Magnus die Exponate in konzentrischen Kreisen ab. Erstens wollte er so eine möglichst lückenlose Aufnahme des Schatzes mit seiner Minikamera erstellen, zweitens wollte er, dass der Moment, in dem er der Reliquienmonstranz gegenüberstand, den dramaturgischen Höhepunkt seines Besuches darstellte. Ganz so, wie wenn man sich das beste Stück vom Sonntagsbraten bis zum Schluss aufhebt. So ließ er sich also von der Menge treiben, spazierte vorbei an den Vitrinen mit den Ringen, ging weiter zu den Edelsteinen und den Goldkelchen.

Dann war es endlich so weit: Magnus stellte sich geduldig in den Pulk der Menschen, die sich um das Prunkstück der Ausstellung drängten. Dabei vermied er es geflissentlich, in eine der Kameras zu blicken, und hielt den Kopf gesenkt, bis er sie in seinem Rücken wusste. Schließlich trat die Frau vor ihm zur Seite und gab den Blick frei auf das Objekt seiner Begierde: Es sah der Replik auf den ersten Blick wirklich zum Verwechseln ähnlich, doch der Glanz des Originals war im Gegensatz zum Nachbau geradezu atemberaubend.

Seine Augen badeten im Schimmer des Reliquienschreins, und er sah auf seinem Spiegelbild im Glas der Vitrine die Faszination in seinen eigenen Augen. Das Spiegelbild! Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erkenntnis, dass sein Gesicht für die Vitrinenkamera nun deutlich sichtbar sein musste, und er wandte sich schnell ab. Er verfluchte sich selbst dafür, dass er beim Anblick dieses kunstvollen Gegenstandes für einen Augenblick die emotionale Distanz verloren hatte. Er ging schnell weiter, atmete tief durch. Es war nicht gravierend gewesen, schließlich ging es nur um sein Spiegelbild, niemand würde es sehen, man suchte ihn nicht, und schon gar nicht hier in Wien. Aber er war Perfektionist und erlaubte sich nicht den kleinsten Fehler. Nur so hatte er so lange und so erfolgreich seiner Arbeit nachgehen können.

Er wollte gerade weitergehen, da erstarrte er mitten in der Bewegung: Sein Handy vibrierte. Und zwar das Handy, dessen Nummer er nur einem einzigen Menschen gegeben hatte. Er führte das Gerät an sein Ohr und zischte ohne eine Begrüßung: »Ich hab dir doch gesagt, dass du nur im Notfall anrufen sollst. Und vor allem nur von dem Handy aus, das ich dir gegeben habe. Hast du etwa meine Nummer in dein eigenes Telefon eingespeichert, du Blödmann?«

Dann lauschte er den Worten des anderen und gab nur ein paarmal ein leises »Okay« zurück, wobei er darauf achtete, die Lippen möglichst wenig zu bewegen. Schließlich beendete er das Telefonat und sah sich vorsichtig um. Er musste sofort Agatha Bescheid geben und dann schnellstmöglich verschwinden. Er wusste nicht, warum es derart schiefgegangen war, aber es blieb keine Zeit, jetzt darüber nachzugrübeln.

Magnus ließ seinen Blick schweifen und fand Agatha vor der Infotafel, die über die Grabungen in Kalden Auskunft gab. Rasch, aber doch nicht so schnell, dass es auffallen konnte, durchquerte er den Raum und stellte sich neben ihn.

»Hör zu, es geht jetzt schon los«, flüsterte er ihm zu, ohne ihn anzusehen.

»Verstehe. Was ist passiert?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Kriegst du das hin?«

»Sicher, was glaubst du denn?«

»Gut, ich bin weg.«

»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte Agatha leise mit spöttischem Grinsen.

»In Ewigkeit, Amen«, erwiderte Magnus. Dann mischte er sich wieder unter die Besucher. Ließ sich allmählich zum Ausgang treiben, ging dann gesenkten Hauptes in Richtung der Toiletten. Er durfte nun keine Zeit mehr verlieren, aber wenigstens hatte er vorgesorgt. Sein Puls beschleunigte sich kaum, als er den gekachelten Raum betrat. Sofort lief er zu einer der Kabinen, schloss die Tür, nahm seinen Rucksack ab, zog seine Jacke und seine Hose aus, unter denen ein grauer Arbeitsoverall mit dem Logo des Museums zum Vorschein kam. Dann zog er einen Teleskopstab heraus, schraubte ihn auf, steckte einen Wischmopp darauf, schnallte sich den Rucksack verkehrt herum unter den Overall auf den Bauch, knüllte seine Kleidung hinein, setzte sich die Baseballkappe auf und spähte nach draußen. Als er niemanden sah, eilte er zur Tür und öffnete sie langsam. Sofort fing er an zu wischen und arbeitete sich so langsam, aber zielstrebig gen Ausgang vor.

Als er den erreicht hatte, rieb er seine Fingerabdrücke vom Wischmopp, stellte ihn in eine Ecke und ging hinaus.

Er wollte schon erleichtert durchatmen, da sah er, dass vom Platz her eine Gruppe Polizisten auf den Eingang zustürmte. Er senkte den Kopf und ging an ihnen vorbei, bereit, sofort durchzustarten. Doch sie rannten an ihm vorüber. Er spürte lediglich den Blick des letzten Beamten, eines ungepflegten Mannes mit abgewetzter Lederjacke, auf sich, dann hatten sie einander passiert.

Er huschte um die nächste Ecke und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er im Gewirr der Säulen der Neuen Burg untertauchte. Er liebte diese adrenalingeschwängerten Momente – wenn sie gut für ihn ausgingen jedenfalls.