Als sie das Gate passierten und die Ankunftshalle des Wiener Flughafens betraten, hatte sich Kluftingers Nervenkostüm wieder beruhigt. Er verstand nun, warum der letzte Papst immer den Boden geküsst hatte, nachdem er aus dem Flugzeug gestiegen war.
Die Flügel der automatischen Tür hatten sich noch nicht hinter ihnen geschlossen, da entdeckte der Kommissar bereits seinen Wiener Kollegen Valentin Bydlinski zwischen den Wartenden. Das fiel auch nicht schwer: Nicht nur seine Erscheinung – abgewetzte Lederjacke, pockennarbiges Gesicht und strähnige Haare – hob sich von den anderen ab. Er hielt außerdem ein Pappkartonschild hoch, auf dem in krakeliger Handschrift stand: »Die Wiener Gendarmerie begrüßt Geheimagent Kluftinger. Weil: Inschpektor gibt’s kan.«
Kluftinger, dem sich der Witz dieser Begrüßung nicht bis ins letzte Detail erschloss, winkte dem Kollegen. Der stürmte auf ihn zu und umarmte ihn, was der Kommissar reichlich übertrieben fand.
»Gut, oder?«, fragte Bydlinski und hielt noch einmal das Schild hoch. »Kottan, verstehst?«
»Ja, ja, sicher«, log Kluftinger. »Den Richie Maier kennst du ja«, fuhr er schnell fort und deutete mit dem Kopf auf den Kollegen, der sofort die Hand ausstreckte.
»Jo, freilich«, sagte Bydlinski, ohne einzuschlagen, »der Gscheithafen.« Dann grinste er breit und entblößte dabei seine tabakgelben Zähne: »Aber mir wär’s lieber gewesen, du hättest die fesche Sandy mitbracht.«
Als sie sich Richtung Ausgang bewegten, fragte Maier: »Wo steht denn Ihr Auto?«
»Nix Auto, hab ich eh keins«, erwiderte der Österreicher. »Wir fahren mit dem CAT.«
»CAT?«
»City Airport Train«, sagte Bydlinski und klang dabei so stolz, als würde ihm das Gefährt gehören.
»Priml«, seufzte Kluftinger, während Maier brummte: »Nur gut, dass Sie uns abgeholt haben.«
Sie waren etwa fünfzehn Minuten bis in die Wiener Innenstadt gefahren, in denen Bydlinski ihnen nichts über den Fall, dafür allerhand über die Wiener Sehenswürdigkeiten erzählt hatte. Vor allem über den Zentralfriedhof, den der Schnellzug passierte, wusste er allerhand schaurige Geschichten.
Kluftinger, der endlich zum eigentlichen Grund ihres Besuchs übergehen wollte, fragte schließlich: »Was machen wir denn jetzt eigentlich?«
»Jetzt gehen wir erst mal was essen.«
Der Kommissar atmete tief durch. Sein Kollege aus dem Nachbarland schien es nicht eilig zu haben. Für ihn galt das jedoch nicht. »Aber wir setzen uns nirgends rein, so viel Zeit haben wir nicht.«
»Eh gut«, erwiderte Bydlinski mit spöttischem Grinsen. »Wir können uns auch raussetzen.«
Schließlich einigten sie sich darauf, auf dem Weg ins Polizeirevier an einem typischen Wiener Imbiss haltzumachen. Dieser war so unscheinbar, dass Kluftinger ihn zuerst gar nicht als solchen erkannte: In einem heruntergekommenen Haus in einer Seitenstraße wurde aus einem Fenster heraus Essen verkauft. Weder eine Werbetafel noch eine Speisekarte wiesen darauf hin.
Quirlig drängte sich Maier vor und sagte: »Ein Paar Wienerle, bitte!«
»Lasst vielleicht doch besser mich was aussuchen«, sagte darauf Bydlinski und schob Maier beiseite. »Dreimal Blunzengröstl, wie immer mit viel Kren, bitte«, orderte er. »Das beste in Wien«, versicherte er.
Es hätte auch das schlechteste sein können, Kluftinger hätte den Unterschied nicht bemerkt, schließlich hatte er noch nie von dieser Speise gehört. Dennoch schmeckte ihm die nicht gerade appetitlich aussehende braune Masse auf seinem Pappteller.
»Was ist denn das eigentlich genau?«, wollte Maier schließlich wissen.
Bydlinski sah ihn verwundert an. »Wie der Name eh schon sagt: hauptsächlich gebratene Blunzn, also Blutwurst, wie ihr Piefkes es nennt. Dazu Erdäpfel, Zwiebeln und frischer Kren.«
Maier sah Kluftinger mit einem angewiderten Ausdruck im Gesicht an und spuckte den Bissen aus, den er gerade im Mund hatte. Dann stellte er die Nahrungsaufnahme ein. Kluftinger aß jedoch mit gutem Appetit weiter. Zwar hatte es eine Weile gebraucht, bis er wieder Blutwurst essen konnte, nachdem er einmal gesehen hatte, wie sie hergestellt wird. Inzwischen aber hatte er seinen Frieden damit gemacht, noch dazu, wo er gehört hatte, dass Blut besonders eisenhaltig und somit außerordentlich gesund sei. »Isst du das noch, Richie?«, fragte er Maier und zeigte auf dessen Portion, die ihm dieser mit einem Kopfschütteln aushändigte.
Als sie endlich bei der Wiener Polizei angekommen waren, legte sich Kluftingers Unruhe etwas. Sie nahmen in einem der Verhörzimmer Platz, einem Raum, der wie alle anderen in diesem altehrwürdigen Bau mit hohen Fenstern, Stuckdecke und grauem Linoleumboden ausgestattet war, und warteten.
Bydlinski ging den Fisch holen, der ihm im Museum ins Netz gegangen war, und sie würden hoffentlich endlich mehr erfahren.
Schließlich ging die Tür auf, Bydlinski stieß einen untersetzten Mann mit schütterem Haar in den Raum und drückte ihn unsanft in einen Stuhl.
»So, er gehört euch«, sagte der Österreicher, dann lümmelte er sich auf einem Stuhl an der Wand, wo er gelangweilt auf einem Zahnstocher herumkaute. Maier ging noch immer nervös im Zimmer auf und ab. Er machte allmählich einen etwas angeschlagenen Eindruck.
Kluftinger nahm gegenüber dem Mann in Handschellen Platz.
»Mein Name ist Kluftinger, Hauptkommissar bei der Kripo Kempten, das hier ist mein Kollege Maier. Gut, vielleicht fangen wir erst einmal mit Ihrem Namen und Ihrem Wohnsitz an«, begann Kluftinger, doch sein Gegenüber starrte nur stur auf den Boden.
»Ah, ist Ihnen das zu schwer? Wie wär’s dann damit: Was wollten Sie in dem Museum?«
Wieder keine Antwort.
Da schaltete sich Bydlinski ein: »Ich hab’s euch eh schon durchgegeben: Der Mann heißt Markus Strehl. Er ist unter falschem Namen gereist, aber bei seinen Fingerabdrücken hat’s in unserem Computer geklingelt. Wohnhaft in Lindenberg, arbeitet am Bodensee, damit in eurem Hoheitsgebiet. Seines Zeichens Meister des Goldschmiedehandwerks. Sein Name ist in Zusammenhang mit mehreren Delikten aufgetaucht, unter anderem Raub, Betrug und Kunstfälschung. Aktuell liegt nix gegen ihn vor, aber das wisst ihr ja eh schon.«
Kluftinger nickte.
»Was haben Sie dazu zu sagen?« Mit diesen Worten legte er vor Strehl ein Foto der nachgebildeten Monstranz auf den Tisch.
Der Mann hob den Kopf, schaute das Foto eine Weile an und senkte den Blick dann wieder.
»Seien Sie nicht dumm«, schaltete sich Maier ein. »Sie haben noch nichts getan. Wenn Sie jetzt nicht reden, sind Sie der Depp. Wenn Sie uns aber helfen, dann kommen Sie noch einmal mit einem blauen Auge davon. Wir würden uns auch für Sie einsetzen.« Er warf Kluftinger einen fragenden Blick zu, doch der nickte bestätigend, was Strehl jedoch kaltzulassen schien. Wieder schaute er teilnahmslos zu Boden, als ginge ihn das alles gar nichts an.
Kluftinger ging zu ihm und baute sich neben seinem Stuhl auf.
»Folgendes, Herr Strehl«, begann er leise, »was mein Kollege meint, ist: Wir haben bis jetzt keinen Tatverdächtigen für den Mord an der alten Zahn finden können. Jetzt haben wir einen: Sie. Ich häng Ihnen das Ding an, wenn Sie hier nicht mit uns kooperieren. Es gibt genügend Indizienprozesse, die mit einer lebenslänglichen Strafe für den Angeklagten enden. Die Leute wollen einfach einen Schuldigen sehen bei so etwas. Wie gesagt: Wir hängen Ihnen das an, verlassen Sie sich drauf!«
Strehl atmete tief ein, dann hielt er eine Weile die Luft an.
»Also gut«, begann er auf einmal, und Kluftinger hatte den Eindruck, Entschlossenheit in seiner Stimme zu hören, »wahrscheinlich ist es das einzig Vernünftige, wenn ich jetzt auspacke. Ich hab auch, ehrlich gesagt, keine Lust, für die anderen in den Bau zu gehen.«
Kluftinger nickte Strehl aufmunternd zu. Schließlich sagte der leise: »Was wollen Sie wissen?«
Kluftinger und Maier tauschten einen flüchtigen Blick. Nun hatten sie ihn so weit. Der Kommissar spürte Genugtuung: Offenbar hatte er mit seiner Drohung Strehls wunden Punkt erwischt. »Was wollten Sie hier in Wien? War das nur ein Besuch zur Vorbereitung, oder wollten Sie den Schatz hier klauen?«
»Also: Natürlich können Sie sich denken, dass ich hier nicht eine Replik der Reliquienmonstranz bei mir habe, weil ich so ein großer Anhänger von Sakralkunst bin, dass ich das Zeug nachbaue und dann damit in Europa herumreise. Ich muss sagen, dass mich das Angebot gereizt hat. Man bekommt nicht jeden Tag den Auftrag, etwas so Aufwendiges und Filigranes herzustellen.«
»Wie genau hätte der Coup denn hier laufen sollen?«, wollte Bydlinski wissen.
Strehl kaute auf seiner Unterlippe. Zögernd antwortete er: »Ich … wir mussten umdisponieren, wegen des … Zwischenfalls.«
Kluftinger lief rot an. »Zwischenfall? So nennen Sie den kaltblütigen Mord an einer alten Frau? Wer hat das getan?«
»Ich weiß auch nicht, wer’s war. Ich jedenfalls nicht. Ich war nicht einmal dabei, als es passiert ist, und habe mir ernsthaft überlegt, danach auszusteigen. Mit so etwas will ich echt nichts zu tun haben.«
»Ihre Skrupel waren dann aber wohl doch nicht so groß, was?«, fragte Maier provozierend.
Strehl wurde kleinlaut: »Nein, das Projekt war einfach zu verlockend. Und Magnus kann sehr überzeugend sein.«
»Magnus?«
»Ja. Das heißt: nein. Ich weiß nicht, wie er wirklich heißt. Ich kenne ihn nur unter diesem Namen. Und unter seinem … wie soll ich das nennen? Künstlernamen?«
»Wie lautet der?«, fragte Kluftinger, auch wenn er es bereits ahnte.
»Man nennt ihn gemeinhin den Schutzpatron.«
Die Beamten sahen sich vielsagend an.
»Wo ist er jetzt?«, wollte Maier wissen.
»Ich hab keine Ahnung. Meinen Sie denn, er würde mir das sagen? Wir haben uns heute früh wie verabredet vor dem Museum getroffen, keine Ahnung, wo er herkam und wo er danach hingegangen ist. Und wie man sieht, hat seine Vorsicht durchaus eine gewisse Berechtigung.« Strehl lachte, doch keiner der Polizisten lachte mit.
»Gut, darüber reden wir noch«, schloss Kluftinger das Thema erst einmal ab. »Jetzt zu Ihrem Ausflug nach Wien: Was wollten Sie denn nun im Museum?«
Der kleine pausbäckige Mann knetete seine Hände. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. Dann sagte er: »Wir wollten es hier machen.«
»Aha. Und wie?«
»Durch Austausch. Wir wollten uns abends einsperren lassen und es gegen die Kopie austauschen, die ich angefertigt hab. Aber …«
»Aber wir waren vorher da!«, unterbrach ihn Bydlinski.
Kluftinger schüttelte den Kopf, um ihm zu verstehen zu geben, dass er sich besser aus der Unterhaltung raushalten solle.
»Ja, das auch«, fuhr Strehl fort. »Aber es wäre eh nicht machbar gewesen. Nicht in dieser kurzen Zeit. Nachdem wir den ursprünglichen Plan modifizieren mussten, hatten wir gedacht, vielleicht könnten wir hier, vielleicht in der Nacht, als Putzteam getarnt … aber es ging eben nicht. Zu viele Unbekannte in der Gleichung.«
»Wie geht es jetzt weiter? Und erzählen Sie mir nicht, der Schutzpatron hätte aufgegeben, das glaubt Ihnen kein Mensch.«
Strehl schürzte die Lippen. »Was ist denn jetzt genau für mich drin, wenn ich Ihnen das sage?«
Der Kommissar lächelte. »Sie sollten lieber fragen, was für Sie drin ist, wenn Sie’s nicht sagen. Vorbereitung einer Straftat, Beihilfe zum Mord, sag ich da nur. Wir finden was, verlassen Sie sich darauf! Kooperieren Sie, und Sie bleiben ein freier Mann.« Er bluffte, aber das brauchte Strehl ja nicht zu wissen.
Der gab sich einen Ruck und begann tatsächlich auszupacken: »Nein, aufgegeben haben wir nicht. Es gibt einen Plan B.«
Maier richtete sich im Stuhl auf. »Und wie sieht der aus?«
»Bei der Eröffnung des Museums in Altusried passieren, wenn …«
»Bei der Eröffnung?« Maier sah ihn ungläubig an. »Niemals. Da sind doch die Sicherheitsmaßnahmen besonders hoch. Kein Mensch würde es da machen.«
»Sehen Sie, und genau deswegen ist das der beste Zeitpunkt. Keiner rechnet damit. Und Magnus sagt immer: Handle gegen die Erwartungen, das ist die halbe Miete.«
»Und wie genau soll es passieren?« Kluftinger beugte sich vor. Jetzt wurde es interessant.
Strehl blickte ihm direkt in die Augen: »Ich kenne nur Teile des Plans. Magnus würde nie einem Mitglied des Teams alles anvertrauen. Und er hat recht damit. Er ist eine Legende, und die ist er sicher nicht umsonst geworden. Also, alles, was ich weiß, ist, dass es eine Geiselnahme geben wird.«
Kluftinger wurde blass. Schlimmer hätte es kaum kommen können.
»Ganz ruhig, Herr Kommissar. Es wird keine echte, sondern nur eine fingierte Geiselnahme sein. Das ist ja das Perfide daran. Sie sollten also nicht nur die Geiselnehmer, sondern auch die Geisel selbst im Auge behalten.«
Das klang in Kluftingers Ohren zwar noch immer schlimm genug, aber zumindest etwas besser. »Und weiter?«, fragte er heiser.
»Sie sichern mir Schutz zu, wenn ich weiterspreche? Und Strafmilderung?«
»Ich sichere Ihnen Schutz zu. Alles andere werden wir dann sehen. Und jetzt reden Sie, Mann!«
»Gut, also, ganz sicher bin ich mir nicht. Entweder, er verlangt die Monstranz als Lösegeld oder so. Oder er setzt sich mit einem Fluchtfahrzeug ab und nimmt das Teil unbemerkt mit.«
»Und wie kommt er in die Vitrine?«
»Ich sagte ja: Ich weiß nicht alles. Aber das war doch auch schon eine ganze Menge, oder? Das müsste Ihnen helfen, die ganze Sache zu verhindern.«
Kluftinger dachte eine ganze Weile nach. »Wie kommunizieren Sie mit Ihrem … Chef?«, fragte er dann.
»Mit Prepaidhandys. Allerdings haben wir die Nummer von Magnus nicht. Er ruft uns an, wann immer es etwas zu besprechen gibt.«
»Und wie hat er am Anfang mit Ihnen Kontakt aufgenommen?«
»Über einen Mittelsmann.«
»Wer ist das?«
»Keine Ahnung. Den kenn ich nicht.«
»Natürlich nicht«, seufzte Kluftinger. »Kennen Sie denn wenigstens die anderen Mitglieder des Teams? Oder ein paar von ihnen?«
»Nein. Jedenfalls nicht mit richtigem Namen. Wir benutzen alle Decknamen.«
»Was für Decknamen?«
»Na ja, Magnus hat uns Phantasienamen zugeteilt.«
»Aha. Wie heißen Sie denn im Team?«
»Das tut jetzt ja nichts zur Sache, oder?«, zischte Strehl.
»Vielleicht nicht, aber Sie werden Ihren Decknamen wohl kaum mehr brauchen, also können Sie ihn uns ja auch sagen!«
»Agatha!«, presste er hervor.
Kluftinger dachte zunächst, er hätte sich verhört. »Agatha?«, wiederholte er ungläubig und hatte alle Mühe, sich das Lachen zu verbeißen.
»Ja. Magnus, dieser … Allen anderen hat er vernünftige Namen gegeben, nur mir …«
»Wie auch immer, Sie haben keinen von denen jemals vorher gesehen?«
»Nein.«
Kluftinger atmete tief durch. Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und betrachtete sein Gegenüber. Es war spät geworden, und noch mehr würde er im Moment wohl nicht aus ihm herausbekommen.
Dann wandte er sich an Bydlinski: »Wie lange könnt ihr so jemanden hier festhalten?«
Bydlinski grinste. »Lange genug, Kollege.«
»In welchem Hotel sind wir eigentlich untergebracht?«, fragte Kluftinger, als sie eine halbe Stunde später bei einer Tasse Kaffee in Bydlinskis Büro saßen.
Maier zuckte die Achseln. »Das weiß ich noch gar nicht, da muss ich im Büro anrufen. Die Sandy hat das gebucht.«
»Ist nicht nötig«, mischte sich Bydlinski ein. »Ist alles schon arrangiert. Ihr nächtigt im Hotel Valentin.«
Die beiden Allgäuer sahen sich fragend an. »Wissen Sie denn ungefähr, wo das ist?«, fragte Maier.
»Ja, das kenn ich sogar ziemlich gut. Ich wohn da nämlich auch.«
»Sie wohnen im Hotel?«
»Na, geh, ihr wohnt’s bei mir, eh klar, oder? Hab ich mit euren Leuten so ausgemacht. Die Hotelzimmer sind gerade sackteuer, irgendeine komische Messe. Is besser, da können wir noch zusammen ein paar Glaserl heben.«
Kluftinger zog die Augenbrauen nach oben. Diese Aussicht schien ihm wenig verlockend. Er blickte zu Maier und konnte an dessen Miene ablesen, dass es ihm ähnlich ging. »Ach was«, winkte Kluftinger deshalb ab, »wir wollen dir doch keine Umstände machen. Und das Hotel geht sowieso auf Spesenrechnung, und dann …«
Bydlinski ließ ihn erst gar nicht ausreden: »Geh, jetzt seid’s net sperrig. Das sind doch keine Umstände. Ich freu mich doch, so hochrangige Gäste bewirten zu dürfen. Wollt’s noch mit dem Fiaker fahren, damit ihr auch was seht’s von Wien?«
Hilfe suchend schaute der Kommissar noch einmal zu Maier, doch eigentlich war ihm klar, dass es ziemlich unhöflich gewesen wäre, dieses Angebot, besser gesagt diese Anordnung abzulehnen. Also fügten sie sich in ihr Schicksal und traten mit ihrem österreichischen Kollegen die Heimfahrt an. Immerhin fuhren sie mit der U-Bahn, nachdem Bydlinski ihnen versichert hatte, dass es sich bei der vorigen Frage um eine rein rhetorische gehandelt hatte: Freiwillig und ohne Not würde sich kein Wiener in so einen Pferdekarren setzen.
»Da vorne ist es eh gleich.« Bydlinski hatte seinen Finger ausgestreckt und zeigte auf einen schmucklosen Wohnblock, der wohl in den Sechzigerjahren entstanden war. »Gemeindebau!«, beantwortete der Österreicher Kluftingers skeptischen Blick.
»Ach, wie in dem Lied? Ich mein …«, er begann zu singen, »du bist die Blume aus dem Gemeindebau …«
Bydlinski grinste und stimmte mit ein »… ohne di wär dieser Bau so grau …«
Lachend und singend setzten sie ihren Weg fort, nur Maier trottete mit saurem Gesicht hinter ihnen her, ganz offensichtlich beunruhigt darüber, welchen Verlauf dieser Abend noch nehmen würde.
»Ich wohn ganz oben«, verkündete der Österreicher freudig, als sie durch die Tür in den Hausflur traten. »Super Aussicht. Aber Fahrstuhl gibt’s kan.«
»Priml«, sagte Kluftinger, den schon der kurze Fußmarsch von der U-Bahn-Station bis hierher mächtig ins Schwitzen gebracht hatte. Als sie zehn Minuten später – sie hatten mehrere Zwischenstopps einlegen müssen, während derer sich der Kommissar Maiers Koffer als Sitzgelegenheit ausgeliehen hatte – Bydlinskis Wohnung erreichten, war Kluftinger froh, endlich irgendwo angekommen zu sein.
Der Wiener Polizist schloss die Tür auf und warf sich dann mit der Schulter dagegen. »Klemmt«, kommentierte er.
Als sie eintraten, schaltete Bydlinski das Licht ein, was die Sicht aber nicht wesentlich verbesserte: Die Wohnung war dunkel, und von der Decke des Hausgangs hing nur eine trübe Glühbirne. Was jedoch sofort wahrnehmbar war, war ein muffiger, fast beißender Geruch, als sei hier schon jahrelang nicht mehr gelüftet worden.
»Ich hab vorher extra noch schnell gelüftet«, sagte Bydlinski und bückte sich.
»Gott sei Dank«, antwortete Kluftinger bitter. Erst dann sah er, dass drei fette, langhaarige Katzen um ihre Füße herumstrichen.
»Darf ich vorstellen: Das sind Am, Dam und Des.« Der Hausherr hielt eine der schmutzig weißen Katzen an sein Gesicht, worauf ihm das Tier mit seiner winzigen Zunge über die Wange leckte. Kluftinger verzog angewidert den Mund und blickte zu Maier, der fassungslos auf die Katzen starrte.
»Ich hab eine Katzenhaarallergie, das weißt du doch«, jammerte er.
»Woher soll ich das bittschön wissen?«, erwiderte Kluftinger leise. »Und selbst wenn: Wie hätte ich denn wissen sollen, dass der Valentin welche hat, hm?«
Maier flüsterte: »Jetzt weiß ich wenigstens, warum ich den nie hab riechen können.«
»Das sind Angorakatzen«, meldete sich Bydlinski wieder zu Wort und hielt Maier das Tier auf seinem Arm entgegen, worauf dieser einen Satz zurück machte. »Sauteuer. Aber sind mir eh quasi zugelaufen. Ich hab sie im Keller gefunden. Denen gefällt’s bei mir halt so gut. Gell, ihr kleinen Mozartkugerln, ihr wollt’s doch eh nur bussieren.« Er begann wieder mit dem Tier zu schmusen.
»Und was sind das für komische Namen?«, erkundigte sich Maier missmutig.
»Na ja: wie in der Fernsehsendung«, antwortete Bydlinski.
»Welche Fernsehsendung?«
Kluftinger verdrehte die Augen. »Er kommt aus dem Tal der Ahnungslosen. Nennt man bei uns Württemberg.«
Der Österreicher nickte wissend. »Verstehe. War so eine Kindersendung. Abgefilmter Kindergarten, wenn du so willst. Die Titelmelodie ging so: Am, dam, des …«
»… disse malle press«, stimmte Kluftinger mit ein, dann sangen sie zusammen: »… disse malle pumperness, am dam des.«
Maier sah sie regungslos an. Dann sagte er: »Scheint ja echtes Bildungsfernsehen gewesen zu sein. Uahhh.« Der Beamte machte einen Satz, weil eine der Katzen sich schnurrend an seinem Bein rieb.
Kluftinger konnte sich schon vorstellen, dass es den Tieren hier gefiel: Die Wohnung war düster und muffig, vollgestellt mit Kartons, riesigen Papierstapeln und einem Sammelsurium aus Krimskrams, der aussah wie das, was in der Sperrmüllwoche immer an der Straße stand. Alles hier wirkte dreckig und verwahrlost. Ein Katzenparadies vielleicht – aber die Hölle für Übernachtungsgäste. Er verfluchte sich dafür, nicht hartnäckiger gegen das Angebot des Österreichers protestiert zu haben.
»So, jetzt legt’s einmal ab, und wenn ihr wollt, gibt’s noch eine kleine Jause als Betthupferl.« Mit diesen Worten ließ er die Katze auf den Boden fallen und verschwand in der Küche.
Sie zogen ihre Mäntel aus und blickten sich um. Eine Garderobe war nicht zu sehen, auch kein sonstiger Ablageplatz, der ihnen adäquat – sprich: sauber genug – erschien.
»Haut’s euer Sach einfach irgendwohin und nehmt’s schon mal im Wohnzimmer Platz«, rief ihr Gastgeber aus der Küche. Sie schauten sich achselzuckend an. Kluftinger wartete so lange, bis Maier seine Jacke auf einen Pappkarton voller alter, schimmliger Bücher legte, worauf er die seine auf Maiers platzierte, sorgsam darauf bedacht, dass sie nicht mit dem Karton in Berührung kam. Dann gingen sie ins Wohnzimmer und suchten sich in einem Durcheinander aus Kisten, alten Zeitungen, Pizzaschachteln, dreckigem Geschirr und Katzenfutterdosen einen Sitzplatz.
»Ich glaub, der hat ein böses Messie-Problem«, flüsterte Maier seinem Chef zu.
Der nickte nur und schob einen Stapel Fernsehzeitschriften zur Seite, um sich so einen Platz auf der zerschlissenen Ledercouch freizuschaufeln. Maier tat es ihm gleich und scheuchte eine der Katzen weg, die ihre Krallen gerade in sein Hosenbein schlug. Seine Augen waren bereits leicht gerötet, und er schniefte hörbar, was Kluftinger aber für eine theatralische Übertreibung seines tatsächlichen Zustands hielt.
»So, habt’s ihr’s euch schon gemütlich gemacht?«, fragte Bydlinski, als er sich mit einem Tablett zu ihnen gesellte. Mit dem Arm wischte er zerknüllte Papiertaschentücher und einige alte Tageszeitungen von dem kleinen Couchtisch und stellte dort das Tablett ab. Dann forderte er sie auf: »Greift’s zu, is eh nicht viel …«
Kluftinger besah sich das vor ihm aufgebaute Abendessen und vervollständigte leise: »… aber wenig.«
»Ha, du gfallst mir«, sagte Bydlinski grinsend und schlug dem Kommissar kräftig auf die Schulter. Dann schob er ihm ein Glas hin und füllte es mit Roséwein aus einer Tetra-Pack-Tüte. »Kein Österreicher, aber ganz passabel trinkbar!«, erklärte er. Maier winkte ab, als er ihm eingießen wollte. Anschließend stellte er vor jeden ein kleines Schüsselchen, riss eine Tüte mit der Aufschrift »Feinste krosse Schweinekrusten« auf und sagte: »Na hopp, bedient’s euch. Nur nicht so schüchtern.«
Als sie zögerten, schob er noch nach: »Wenig Cholesterin. Gesünder geht’s kaum.«
Kluftinger betrachtete die fettigen, blassen Chips, die wie angesengter Schaumstoff aussahen, und bezweifelte die letzte Aussage ihres Gastgebers ernsthaft. Er hatte sowieso nicht mehr viel Hunger, nachdem er vorher Maiers Blunzenportion mit verdrückt hatte. Der jedoch starrte hungrig auf das karge Mahl vor ihm und schien innerliche Kämpfe auszufechten, ob er nun dem Hunger oder der Vernunft nachgeben sollte. Schließlich entschied er sich gegen den Imbiss und gähnte demonstrativ.
»Was darf’s denn sein zum Trinken?«, fragte Bydlinski.
»Ich glaub, ich nehm einen Saft.«
»Au weh, mit Saft schaut’s ein bisserl dürftig aus in meiner Speisekammer. Ich hab leider nicht allzu oft weiblichen Besuch. Ich steh mehr auf den Gerstensaft – magst ein Flascherl Zipfer?«
Maier schüttelte den Kopf.
»Dann hab ich eh nur noch Eutersaft!«, verkündete der Österreicher.
Kluftinger und Maier sahen ihn erschrocken an.
»Eine Milch halt! Die lieben meine pelzigen Spatzerln doch so!«
»Ich bin eigentlich … überhaupt auch gar nicht durstig, danke!«, winkte Maier ab.
»Ich seh schon, des wird nichts mehr mit unserer Party, oder? Dann geh’n wir halt schlafen, wenn ihr mögt. Ich hau mich eh gleich hier auf die Couch.«
Kluftinger fragte sich ernsthaft, wie der Österreicher hier Platz zum Schlafen finden wollte, doch er fragte nicht nach, sondern trank den Rest seines Weins in einem Zug leer und erhob sich. Die Anstrengungen dieses Tages machten sich erst jetzt so richtig bemerkbar, da sie zur Ruhe kamen und die Müdigkeit wie bleierne Gewichte an seinen Gliedern hing.
Sie folgten dem Österreicher durch die Wohnung, stets darauf bedacht, nicht über eine der Kisten oder staubigen Gerätschaften zu stolpern, die überall herumstanden. Schließlich öffnete er eine Tür, und sie blickten in einen großen Raum mit einem Bett und zwei Nachtkästchen, der sonst keine weiteren Möbel beherbergte – bis auf einen Sessel, den Kluftinger unter dem Kleiderberg am Fenster vermutete.
»Gut, das nehm dann ich«, sagte der Kommissar, der sich nicht vorstellen konnte, dass noch ein besseres Zimmer auf sie wartete.
Dennoch überraschte ihn Bydlinskis Antwort: »Gibt eh nur das eine.«
»Hm?«, entfuhr es Kluftinger, der nicht glauben wollte, dass diese Antwort das bedeutete, was er befürchtete.
»Ich hab kein weiteres Zimmer«, bestätigte der Österreicher seine schlimmsten Vermutungen.
Wenn es kein anderes Zimmer gab, dann bedeutete das, dass er mit Maier das Bett würde teilen müssen. Und auch wenn der Kommissar nun wirklich keine übertrieben luxuriösen Ansprüche an sein Nachtlager stellte, so war das doch undenkbar. »Du wirst doch wohl noch irgendwo ein Zimmer haben – das ist doch eine große Wohnung«, insistierte er deswegen.
»Nur mehr eins, aber das wollt ihr sicher nicht.«
»Doch, wollen wir!«, erklärte Kluftinger rasch.
»Gut, wie ihr meint. Kommt’s mit.« Bydlinski ging den Korridor weiter bis zum letzten Zimmer. Schon bevor er die Tür ganz geöffnet hatte, stach Kluftinger ein beißender Geruch in die Nase, der stärker war als die Grundmuffigkeit, die hier über allem lag.
»Das ist eigentlich das Schlafgemach meiner drei Grazien«, erklärte ihr Gastgeber und stieß die Tür ganz auf. Der fensterlose Raum glich eher einer Abstellkammer, wenn man einmal von dem Bettgestell in der Mitte absah. Die Laken darauf waren völlig verdreckt, und auf dem Boden davor lagen offene Futterdosen herum, in der Ecke standen drei halb volle Näpfe.
»Also, ich kann hier unmöglich schlafen«, platzte Maier heraus, als sich Kluftinger zu ihm umdrehte. »Meine Allergie, das ist klar, oder?«
»Ja, ja, versteh schon«, maulte Kluftinger. Sein innerer Kampf dauerte nur kurz, die Entscheidung zwischen Katzenbett und Maierbett war schnell getroffen. »Dann halt doch das andere für uns zwei.«
»Wie ihr wollt’s.« Der Österreicher begleitete sie wieder zurück und sagte: »Wenn ihr was braucht’s, sagt’s Bescheid. Ansonsten: Schlaft’s recht schön. Eh fein, dass ihr meine Gäste seid.« Dann zog er die Tür zu.
Maier und Kluftinger sahen sich wortlos an und verfielen dann schnell in Aktionismus, um der peinlichen Stille zu entgehen, die sich im Raum ausbreitete. Während der Kollege in seinem Köfferchen kramte, begann der Kommissar, sich durch den Klamottenberg bis zum Sessel vorzugraben, auf dem er die Nacht zu verbringen gedachte. Ein Kleidungsstück nach dem anderen schichtete er auf einen anderen Stapel um, wobei etliche gebrauchte Unterhosen zum Vorschein kamen, die er lediglich mit spitzen Fingern anfasste und sofort unter anderem Gewand wieder begrub. Je weiter er sich vorarbeitete, desto mehr legte sich seine Stirn in Falten. Und das nicht etwa, weil er über die reichhaltige Garderobe des Österreichers staunte, der doch immer irgendwie gleich angezogen wirkte, sondern weil ihn mehr und mehr das Gefühl beschlich, dass er auf kein Möbel mehr stoßen würde. Bydlinski hatte sich ganz offensichtlich ein Prinzip zu eigen gemacht, das auch Kluftinger praktizierte: das des »Gwandsessels« – nur ohne Sessel. Seufzend ließ sich der Kommissar auf einen der beiden Klamottenhaufen fallen und blickte auf das Bett. Es würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als es mit Maier …
Seine Augen wurden groß: Maier stand am Kopfende des Bettes und zog sich munter pfeifend aus. Er stand bereits nur noch in Unterwäsche da und machte keine Anstalten, seine Tätigkeit hier abzubrechen. Schon flog das Doppelripphemdchen aufs Bett, und er hakte seine Daumen in den Saum seiner Unterhose ein, als ihn ein scharfes »Hey!« des Kommissars zusammenfahren ließ.
»Was schreist du denn so?«
»Ich will wissen, was du da genau vorhast.«
»Wie vorhast?«
»Na, was machst du da gerade?«
»Ich mach mich bettfertig.«
»Und wo ist dein Schlafanzug?«
»Ich schlafe immer nackt – schon seit frühester Jugend!«
Kluftingers Kiefermuskeln begannen zu arbeiten. Er atmete tief ein, dann sagte er mit einem bedrohlich knurrenden Unterton: »Und diese Gewohnheit endet genau heut!«
Im Badezimmer stützte sich Kluftinger auf das Waschbecken und blickte in das müde Gesicht seines Spiegelbildes. Die Reise nach Wien, sein spontaner erster Flug, all die unvorhergesehenen Wendungen, die dieser Tag für ihn bereitgehalten hatte, ja sogar die enge Zusammenarbeit mit Richard Maier – all das hatte er ja gut verkraftet. Doch nun wäre es Zeit für eine echte Rückzugsmöglichkeit. Er konnte sich einfach nur dann richtig tief entspannen, wenn er allein war – oder allenfalls noch in Gegenwart seiner Frau oder seines Sohnes. Alles andere stellte für ihn sozialen Stress dar.
Als der Kommissar den kleinen, in zartem Altrosa gekachelten Raum betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatte, waren seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt worden: Einen Schlüssel hatte er vergeblich gesucht. Priml. Nicht einmal hier war seine Intimsphäre sichergestellt. Er platzierte seinen Kulturbeutel auf einer freien Ecke des kleinen Waschbeckens und sah sich um. Der Zustand dieses Zimmers war eigentlich keine Überraschung mehr, denn es passte exakt zum Rest der Wohnung des Kollegen: Hier war seit gut und gern vierzig Jahren nicht mehr renoviert worden. Die Badewanne war fast bis an den Rand mit Kleidungsstücken und Handtüchern gefüllt, die so aussahen, als warteten sie schon ein paar Wochen oder sogar Monate auf eine Wäsche. Ein verschlissener Vorhang mit verblichenem Delfinaufdruck trennte die Duschwanne vom Bad ab. Der geflieste Boden war übersät von Fusseln und Wollmäusen. Auch die Klobrille aus Acrylglas, in die ein Stück echter Stacheldraht eingegossen war, verblüffte ihn nicht sonderlich. Sie passte zu Bydlinski und seinem seltsamen Humor.
Nachdem Kluftinger mit dem Desinfektionsspray, das ihm Erika eingepackt hatte, einmal das Badezimmer eingenebelt hatte, fischte er die Zahnpastatube aus seinem kunstledernen Kulturbeutel, wobei der vom Waschbecken fiel und der Inhalt sich über den Boden verteilte. Fluchend bückte er sich und stopfte seine Utensilien wieder hinein: Notfallpflaster, Deoroller, die alte Nagelschere, das kleine Hotelfläschchen Shampoo … Er erstarrte: Seine Reisezahnbürste lag ebenfalls auf dem Fußboden, und der Borstenschutz hatte sich gelöst. Er schluckte. Seine Ansprüche an Hygiene waren alles andere als übertrieben, aber es gab eine gewisse Grenze, die er in seinem Leben nicht mehr unterschreiten wollte. Als er die Bürste zögernd aufhob und auf das Konglomerat aus Flusen und Haaren sah, das von den Borsten herabbaumelte, war ihm klar, dass sich ihre Wege hier für immer trennen würden. Er schmiss sie angewidert in den überfüllten Mülleimer und wusch sich die Hände – wenn auch ohne das offenbar aus verschiedenen Resten zusammengeklebte Seifenstück zu verwenden. Diese Katzenwäsche – der Begriff ließ ihn bitter lächeln – musste für den heutigen Abend genügen. Dann drückte er sich ein wenig Zahnpasta auf die Kuppe seines rechten Zeigefingers und fuhr sich ein paarmal über die Zähne. Immerhin hatte er so frischen Minzgeschmack statt des Fettaromas der Krusteln im Mund. Er spritzte sich noch ein wenig Wasser ins Gesicht und trocknete sich dann mit dem Handtuch ab, das ihm seine Frau in den Koffer gepackt hatte. Tief sog er dessen Duft in seine Lungen: Es roch nach Sauberkeit, nach Frische, nach Daheim, nach Ruhe, Geborgenheit und irgendwie nach Erika. Er schlüpfte schnell in seinen dunkelgrünen Nickischlafanzug und ging seufzend zurück ins Schlafzimmer. Maier, noch immer lediglich mit Unterhose bekleidet, machte sich nun seinerseits auf ins Bad. Kluftinger riet ihm, Socken oder Schuhe anzuziehen, und als der Kollege ihn fragend anblickte, sagte er nur: »Wirst schon sehen, Richie!«
Dann schaltete er die Nachttischlampe auf seiner Bettseite an, löschte das große Licht und rollte sich vollständig in die Decke ein, sodass wie bei einem Mumienschlafsack nicht einmal mehr seine Arme herausschauten. Dabei lag er am äußersten Rand der Matratze auf der Seite, um so möglichst viel Raum zwischen sich und Maier zu bringen, wenn er mit dem schon das Bett teilen musste. Für Kluftinger war diese Schlafhaltung eine Art ungeschriebenes Gesetz zwischen Männern, die in eine solche Notlage gerieten. Dessen Einhaltung erwartete er stillschweigend auch von Richard Maier.
Als sich die Tür öffnete, betrat jedoch nicht sein Bettgenosse, sondern Valentin Bydlinski in Boxershorts und einem ausgeleierten Rapid-Wien-Trikot das Zimmer. Er warf die Kleidung, die er tagsüber getragen hatte, auf einen der Klamottenhaufen. »Ordnung muss sein«, flüsterte er lapidar und verließ das Zimmer wieder.
Kluftinger schüttelte ungläubig den Kopf. Dann befreite er sich jedoch noch einmal aus seiner Decke, stand auf und holte seine Dienstpistole aus dem Koffer, um sie zusammen mit seinem Geldbeutel, seinem Handy, einem kleinen mechanischen Reisewecker und seinem Hausschlüssel auf das Nachtkästchen zu legen.
Er hatte sich gerade wieder sorgfältig eingerollt und das Licht ausgemacht, da kam Maier vergnügt pfeifend zurück und kramte in seinem Koffer herum, dem er erst ein Ladekabel für sein Handy, eine Packung Taschentücher und schließlich ein Buch entnahm. Hinter seinem Nachtkästchen suchte er nach einer Steckdose für das Kabel, dann fragte er, sein Smartphone in der Hand haltend: »Für wann soll ich denn den Wecker stellen?«
»Vergiss es, Richie!«, brummte der Kommissar.
»Was soll ich denn vergessen, bitte?«
»Das mit dem Handy. Ich hab keine Lust, heut Nacht an diesem … Elektrosmogzeug einzugehen. Mach das Ding aus, ich hab meinen Reisewecker auf halb acht gestellt!«
»Da strahlt ja gar nix. Ich hab den Flugmodus aktiviert.«
»Ausmachen!«
»Ja, schon gut.«
Sein Kollege drückte auf seinem Telefon herum, und Kluftinger hätte gerne überprüft, ob er es wirklich abgeschaltet hatte, wenn er nur gewusst hätte, wie man das Ding bedient.
Schließlich warf sich Maier übermütig aufs Bett, knipste seine Nachttischlampe an und sagte: »Gut’s Nächtle! Ich les noch ein bisschen, wenn’s dich nicht stört.«
Der Kommissar wälzte sich mühsam in Maiers Richtung und sah, dass der gerade ein Buch mit dem Titel »Freunde finden, beliebt sein – Ein Wegweiser aus dem Abseits« aufschlug. Ein Lächeln huschte angesichts dieser Lektüre über Kluftingers Gesicht. »Es stört mich aber! Heut war ein stressiger Tag, und ich will jetzt schlafen!«
»Wenn ich nicht noch lese, kann ich nicht einschlafen«, erwiderte Maier trotzig.
»Zefix, Richard, jetzt gib endlich Ruhe! Und morgen liest du gleich beim Frühstück das Kapitel: Warum ich trotz Ratgeberlektüre immer noch keine Freunde habe!«
Maier stieß beleidigt die Luft aus, legte sein Buch weg und löschte das Licht.
Doch die ersehnte Ruhe wollte sich für Kluftinger nicht einstellen: Er hörte seinem Kollegen mehrere Minuten dabei zu, wie der sich auf dem Bett hin und her wälzte, die Decke vor und zurück schlug, um die richtige Schlafstellung zu finden.
»Geht das jetzt die ganze Nacht so?«, erkundigte sich der Kommissar.
»Tschuldigung, hab’s gleich. Aber ich muss dich vorwarnen. Nachts bin ich ziemlich aktiv. Wenn ich dir zu nahe komm oder mich auf dich draufwälze, dann weck mich einfach!«
Draufwälzen?
Kluftinger machte seine Nachttischlampe erneut an, drehte sich zu seinem Kollegen, blickte ihn drohend an und sagte: »Hier, exakt in der Mitte dieses Bettes …« Er zog mit dem Finger eine imaginäre Linie. »… verläuft eine unsichtbare Grenze. Diese Grenze wird die ganze Nacht lang nicht überschritten, haben wir uns da verstanden?«
Maier grinste. Offenbar dachte er, sein Bettgenosse mache Scherze.
Um diesen Eindruck zu widerlegen, fügte Kluftinger todernst an: »Wenn dir dein Leben lieb ist, hältst du dich dran.« Dann löschte er das Licht wieder.
Doch er döste mehr, als dass er wirklich schlief. Immer wieder jagten Bilder des vergangenen Tages durch sein dahindämmerndes Bewusstsein. Er sah sich im Flugzeug sitzen, die Landung beklatschen, durch Wien spazieren … Ruckartig riss er die Augen auf. Direkt in seinem Nacken spürte er warmen Atem. Er rollte zum Nachttisch und schaltete das Licht an. Und tatsächlich: Maier lag mindestens zwanzig Zentimeter über der Mitte, den Mund offen, ein feines Speichelrinnsal auf Kluftingers Kissen ergießend! Der Kommissar drehte sich um, langte nach seiner Waffe, hielt sie dem Kollegen vors Gesicht und tippte ihm damit an die Stirn. Maier schlug langsam die Augen auf, einen glasigen Blick auf den Gegenstand werfend, den Kluftinger in der Hand hielt – und machte einen Satz zurück, der ihn beinahe aus dem Bett warf.
»Sag mal, spinnst du?«, rief er mit schriller Stimme.
»Richie, ich hab dir gesagt, ich mein’s ernst!«
Maier atmete schwer: »Mal ganz ehrlich, auch wenn du mein Chef bist, aber manchmal tickst du nicht mehr ganz richtig!«
Von diesen Worten nicht im Geringsten beeindruckt, drehte sich Kluftinger wieder um und löschte erneut das Licht. Was Erika wohl heute gemacht hatte? In all der Hektik hatte er glatt vergessen, sich am Abend noch einmal daheim zu melden. Andererseits: Nachdem ja Markus und Yumiko gerade in Altusried waren, hielt sich die Sehnsucht seiner Frau nach einem Telefongespräch mit ihm sicher in Grenzen. Er könnte ihr ja bei seiner Rückkehr alles haarklein erzählen. Ob sie schon im Bett war oder noch vor dem Fernseher … Ein rhythmisches Vibrieren der Matratze unterbrach seinen Gedankengang.
»Was machst du da, Richie?«
»Wieso?«
»Dieses … Zappeln! Sag sofort: Was machst du?«
Kluftinger knipste erneut das Licht an.
»Richie, wo sind deine Hände?«
Maier sah ihn fragend an.
»Ich will sofort deine Hände sehen!«
Eingeschüchtert riss Maier seine Hände unter der Decke hervor. »Da sind sie doch.«
»Was war dann das für ein … Gehupfe grad?«
»Ich kann nicht mehr schlafen, nachdem du mich so unsanft geweckt hast. Und jetzt bin ich zappelig, weil ich so einen Kohldampf hab!«
Kluftinger setzte sich auf. »So wird das nix mit dem Schlafen. Aber ich muss zugeben, dass ich einen kleinen Happen schon auch noch vertragen könnt.«
»Wollen wir mal im Kühlschrank schauen, ob wir noch was finden?«
Kluftinger stimmte zu, fügte jedoch an: »Aber zieh dir bittschön ein T-Shirt an, ja?«
Auf dem Weg in die Küche vernahmen sie Bydlinskis sonores Schnarchen aus dem Wohnzimmer. Sie schalteten das Licht an, hockten sich vor den Kühlschrank und stießen fast gleichzeitig einen Seufzer aus, in dem sich Enttäuschung, Resignation, Verwunderung und Ekel mischten: Auf den Gitterrosten standen vorwiegend Einmachgläser mit schwer definierbarem Inhalt, dazu zwei Dosen Muscheln in Madeirasoße, eine Packung Harzer Käse mit Kümmel, der an einer Stelle blaugrünlich verfärbt war, eine halb volle Konservendose Kuttelsuppe sowie zwei Flaschen tschechisches Bier. Im Gemüsefach lagen drei eingeschrumpelte Karotten neben ein paar welken Salatblättern.
Die Beamten sahen sich fragend an. Dann nahm der Kommissar eines der Gläser und hielt es gegen das Licht, um den graugrünen Inhalt genauer in Augenschein zu nehmen. Ein Etikett behauptete, dass es sich dabei um Sellerie handle. Weitere Etiketten trugen die Aufschrift Sauerkraut, Salzgurken, Schwarzwurzeln und Eingesalzte Bohnen. Kluftinger streckte seine Hand gerade nach einem Glas Frankfurter aus, da flüsterte Maier angewidert: »Da drin schaut’s aus wie in Willi Renns Gruselkabinett! Würd mich nicht wundern, wenn bei den Wienerle auch noch ein Finger im Glas schwimmt!«
Kluftinger zog seine Hand zurück und ließ die Kühlschranktür zufallen. Priml. Maiers Kommentar hatte ihm die Würste ein für alle Mal verdorben. Denn der spielte auf die makabre Asservatenkammer des Kemptener Spurensicherers an, die aus mehreren abgetrennten Gliedmaßen, einem durchschossenen Schädel und allerhand anderen absonderlichen Leichenteilen bestand. »Hab eh schon die Zähne geputzt«, sagte er bitter. Dann blickte er fragend zu Maier: »Und jetzt?«
»Ich glaub nicht, dass ich wissen will, was sich erst in diesen Vorratsschränken hier befindet«, erklärte der und ließ seinen Blick durch den Raum wandern.
Kluftinger nickte. Und trotzdem musste er noch eine Kleinigkeit essen, sonst würde er wirklich Probleme haben, in den Schlaf zu finden. Also überwand er sich und untersuchte den Inhalt der Schränke, doch außer Geschirr, Gewürzen und Fertigsoßenpäckchen, einer Menge Handtücher und Putzlappen und interessanterweise einer staubigen Handkreissäge fand er lediglich eine verschlossene Packung Spaghetti sowie eine Flasche Ketchup.
»Nudeln mit Tomatensoße?«, fragte er in Maiers Richtung.
Statt einer Antwort begann der mit der Suche nach einem Topf, doch Kluftinger hielt ihn zurück.
»Schmarrn. Wir fangen doch jetzt nicht mehr das Kochen an, mitten in der Nacht!«
Nachdem die beiden Polizisten ein gutes Drittel der trockenen, harten Nudeln in Ketchup eingetunkt und verspeist und sich die fehlende Flüssigkeit mithilfe der beiden Bierflaschen aus dem Kühlschrank zugeführt hatten, lagen sie schließlich eine halbe Stunde später ermattet nebeneinander im Bett. Kluftinger spürte endlich die ersehnte Bettschwere, der Alkohol tat seine Wirkung …
»Gute Nacht«, kam es von seinem Bettgenossen.
»Mhm«, brummte Kluftinger zurück.
»Gut Naaaahaaacht!«
»Nacht und Schnauze jetzt!«
»Und träum was Schönes.«
Kluftinger seufzte resigniert. Er war schlichtweg zu müde, um heute noch jemanden umzubringen.