Vier Tage zuvor
»Verdammt noch mal, wie oft soll ich dir noch sagen: Du musst auf die Treppe aufpassen.« Magnus hielt die Stoppuhr an, die ihm um den Hals hing, und an seinen Kiefermuskeln sah man, dass er gerne noch ein bisschen mehr gesagt hätte, sich dies aber aufgrund der sowieso schon angespannten Stimmung verbiss.
»Es tut mir leid, in der Hektik …«, begann Georg eine Entschuldigung zu formulieren, doch er hatte genau die falschen Worte gewählt.
»Hektik«, wiederholte er mit schriller Stimme. »Hektik? Was glaubst du, wie das vor Ort aussehen wird? Meinst du, das hier ist der anstrengende Teil bei dieser Arbeit? Kannst du dir vorstellen, was passiert, wenn es wirklich drauf ankommt? Wenn jede Sekunde entscheidend sein kann? Wenn niemand mit einer Stoppuhr neben dir steht? Wenn wir nicht sagen können: Okay, das war nichts, wir machen’s noch mal? Na?«
Schuldbewusst blickte Georg zu Boden. Er ließ seine Schultern hängen und wirkte dadurch noch kleiner. Er wollte die Stimmung nicht durch eine weitere unbedachte Aussage verschlechtern.
»Also Magnus, hör mal, ich finde …«, wollte ihm Nikolaus zu Hilfe kommen, doch er brach mitten im Satz ab. Alle Köpfe wandten sich zur Tür. Es hatte laut und vernehmlich geklopft. Sie standen wie versteinert im Raum, keiner wagte auch nur zu atmen. Ihre Gesichter verrieten, dass sie das Schlimmste befürchteten.
»Herr Magnus? Hallo, Herr Magnus, sind Sie da?«
Die Stimme gehörte ihrer Vermieterin, einer neugierigen alten Schachtel, die schon des Öfteren unerwartet hier aufgetaucht war, wo sie eigentlich gar nichts zu suchen hatte. Sie schien das jedoch etwas anders zu sehen.
Sofort fuhr Magnus herum und zischte Servatius zu: »Hast du etwa den Riegel am Tor vorne offen gelassen? Oder wie ist die Alte hier reingekommen?«
Servatius schwieg und blickte zu Boden, was für Magnus Antwort genug war.
»Herr Magnus, ich muss Sie mal sprechen!«, rief die Alte von draußen.
Sie blickten auf die alte Werkstattuhr, die an der Wand hing. Es war schon kurz nach elf, so spät hatte die Alte noch nie hier herumgeschnüffelt.
Magnus zuckte mit den Schultern, seufzte und gab Georg ein Zeichen, zur Tür zu gehen. Dieser öffnete sie einen Spaltbreit und fragte ruppig: »Was wollen Sie?«
»Ist der Herr Magnus da?«
»Nein.«
»Ich müsste ihn aber dringend … sprechen.« Die Alte versuchte, während sie sprach, an Georg vorbei einen Blick in den Raum zu erhaschen, indem sie ihr enormes Gewicht erstaunlich flink verlagerte. Georg jedoch verhinderte dieses Vorhaben dadurch, dass er seinen drahtigen Körper synchron zu ihrem hin und her schaukelte.
»Hören Sie, wenn er kommt, sagen wir Ihnen Bescheid!« Gerne hätte er der Frau gedroht, doch das hätte ihre Neugierde nur noch mehr entfacht. Sie hatten damit gerechnet, dass derart betagte Vermieter so mit sich selbst beschäftigt wären, dass sie andere Sorgen hätten, als ihnen nachzuspionieren. Aber sie hatten sich ganz offensichtlich getäuscht. Mehr als einmal waren sie drauf und dran gewesen, abzuziehen, doch die knappe Zeit hatte sie dazu bewogen, hierzubleiben. Und als sie ihr gesagt hatten, wenn es etwas zu besprechen gebe, müsse sie das mit Herrn Magnus tun, war es noch schlimmer geworden. Sie konnte es einfach nicht verwinden, dass der Mann, der offenbar die Verantwortung hatte, ihr noch nicht seine Aufwartung gemacht hatte. Sie hatte ja keine Ahnung, wie froh sie darüber hätte sein sollen.
»Also, wissen Sie, ich habe da etwas gefunden. In Ihrem Müll.«
Georg wurde unsicher. Sie hatte ihren Müll durchwühlt?
»Nicht dass Sie denken, ich hätte in Ihrem Müll gewühlt«, rechtfertigte sich die Alte. »Aber beim … Sortieren, da ist mir was in die Hände gefallen, worüber ich gerne sprechen würde. Am besten mit Ihrem … Chef.«
Unsicher sah Georg sich um. Magnus wies mit dem Kopf in Richtung Tür, was wohl heißen sollte, dass er nicht vorhatte, selbst mit der Frau zu reden.
»Also, was haben Sie denn gefunden? Altglas im Restmüll?«
»Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe da einen Artikel in so einer Plastikhülle gefunden, aus der Zeitung. Über diese Ausstellung in Altusried. Und dann diesen … was ist das wohl, eine Art Prospekt über diese Sicherheitsfirma. Das kam mir schon ein bissle komisch vor!«
Georg schluckte. Wieder warf er einen Blick über die Schulter. Doch sein Chef starrte gerade Nikolaus wutentbrannt an. Er war für den Müll zuständig, und Magnus hatte ihm hundertmal gesagt, dass er sorgfältig damit umgehen müsse. Dass schon einige vermeintlich geniale Coups im Nachhinein aufgeflogen seien aufgrund der Hinterlassenschaften des Teams. Das würde noch Ärger geben, da war sich Georg sicher.
»Wissen Sie«, riss ihn die alte Frau aus seinen Gedanken, »wenn Sie hier irgendetwas Illegales tun, also … dann müssen Sie gehen. Und ich sag es sonst meinem Mann. Oder …« Sie machte eine Pause, als denke sie nach. »Oder Sie müssen mehr Miete zahlen. Viel mehr!« Ihre Augen blitzten.
Das war es also. Es ging ihr ums Geld. Georg atmete erleichtert auf. Sie war käuflich. Sie würden sie leicht zum Schweigen bringen, es war nur eine Frage des Preises. Ein letztes Mal blickte er sich um. Magnus nickte. »Verstehe«, sagte Georg mit aufgesetzter Freundlichkeit, »wir sind gerne bereit, Ihnen für Ihre … sagen wir … Unannehmlichkeiten mehr Miete zu zahlen, das ist doch klar.«
Die Alte schien überrascht, dass sie so mühelos und schnell ihr Ziel erreicht hatte, und stand ein paar Sekunden mit offenem Mund da, bevor sie sagte: »Gut, das Doppelte?«
Georg nickte. Das war alles, was sie wollte? Nicht mehr?
»Gut, ich mache den neuen Vertrag fertig«, sagte die Frau. Dann drehte sie sich grußlos um und ging.
Georg schloss die Tür und zischte einen Fluch. Magnus wartete ein paar Sekunden, dann wandte er sich an Nikolaus: »Herrgott noch mal, was bist du? Ein Kind? Ein Amateur? Oder einfach nur ein Trottel? Ein Profi verhält sich so jedenfalls nicht.«
Nikolaus erwiderte nichts. Das Muskelpaket wirkte wie ein zu groß geratener Schuljunge.
»Bring das wieder in Ordnung!«, forderte Magnus bestimmt.
Nikolaus’ Augen begannen zu leuchten. Er hatte schon befürchtet, aus dem Team zu fliegen, aber nun bot man ihm die Gelegenheit, seinen Fehler wiedergutzumachen. Er nickte eifrig und eilte nach draußen.
Die Köpfe aller Anwesenden ruckten herum, als Nikolaus ohne vorherige Ankündigung die Tür wieder aufzog. Er wirkte reichlich derangiert, Schweißperlen standen auf seiner Stirn, sein Gesicht war leichenblass, kraftlos ließ er die Schultern hängen. Fragend sahen ihn seine Komplizen an, doch er schlug die Augen nieder.
»Na los, sag schon, hast du die Sache geklärt?«, herrschte Magnus ihn an.
Er nickte, ohne aufzusehen, dann ließ er sich auf eine umgedreht in der Ecke stehende Bierkiste sinken und vergrub das Gesicht in seinen großen Händen.
»Bist du dir ganz sicher, dass sie uns nicht verpfeift? Ich meine, sie muss wissen, was dann auf sie zukommt. Was hast du zu ihr gesagt?«
Die anderen wandten sich wieder Nikolaus zu.
»Ich hab … doch nicht gewusst, dass das … so schnell geht!«, stammelte er mit brüchiger Stimme.
»Hast du sie … Du willst jetzt nicht etwa sagen, dass du sie umgebracht hast, oder?«
Nikolaus sprang auf und starrte Magnus aus feuchten Augen an. Dann biss er sich auf die Lippen. »Aber du hast doch gesagt, ich soll das in Ordnung bringen!«
Magnus kniff die Augen zusammen. Seine ohnehin schon grollende Stimme nahm einen noch bedrohlicheren Ton an: »Du hirnverbrannter Vollidiot! Bist du wirklich so dumm? Wir sind doch nicht in Chicago! Mann, du hättest sie einschüchtern sollen – zum Schweigen bringen! Aber doch nicht gleich kaltmachen! Wir sind doch keine Mörder, verdammte Scheiße!«
Nikolaus schluckte und wich ein paar Schritte zurück. Magnus kam auf ihn zu, holte aus und verpasste ihm eine schallende Ohrfeige mit der flachen Hand.
Nikolaus blieb starr und ohne eine Miene zu verziehen stehen. Leise erklärte er: »Magnus, ich … wollte sie doch wirklich nur einschüchtern!«
Magnus hatte sich abgewandt und starrte nun stur auf das Gebilde aus Holz, Karton und Fäden, auf dem die Plastik-Heiligenfigur thronte. Von seinem Schweigen ein wenig ermutigt, führte Nikolaus weiter aus: »Ich bin ihr hinterher und hab sie an der Schulter gepackt. Sie hat sofort mit ihren fetten Armen nach mir gehauen. Und da hat sie auf einmal mit den Bullen angefangen. Dass sie gerade bei ihnen angerufen hat und nur noch mal auf Nummer sicher gehen wollte, dass wir Dreck am Stecken haben. Und das hätten wir bewiesen, weil wir ihr Schweigegeld zahlen würden. Und immer wieder hat sie auf mich eingehauen. Miese Verbrecher wären wir. Die Polizei würde eh gleich kommen und uns allen das Handwerk legen … Ich hab mir wirklich nicht mehr anders zu helfen gewusst und hab einfach zugedrückt von hinten. Da hat sie dann endlich ihr Maul gehalten. Und ich hab einfach nicht mehr losgelassen, und auf einmal ist sie zusammengebrochen! Ich glaub, die hat nen Herzkasper gekriegt. Jedenfalls ist sie jetzt hin. Mann, Leute, glaubt mir halt, ich wollt doch nicht, dass die gleich verreckt, die Alte!«
Nikolaus schien durch diese Erklärungen wieder ein wenig ruhiger geworden zu sein. Noch immer standen die anderen Männer wie erstarrt da. Servatius ergriff als Erster das Wort: »Wenn ihr mich fragt: Um die Alte ist es nicht schad«, sagte der Südländer. »Aber das bedeutet leider, dass wir jetzt ganz schnell …«
Magnus schnitt ihm das Wort ab: »Genau das heißt es! Wir müssen weg hier! Und zwar sofort. Los, packt das Nötigste zusammen, und dann ab durch die Mitte! Wo ist die Alte jetzt?«
Nikolaus beeilte sich, seinem Chef die Tote zu zeigen, die neben der alten Hebebühne auf dem Boden lag. Die anderen rafften hektisch die Pläne zusammen, die sie gerade noch studiert hatten, und steckten sie in einen Rucksack.
»Magnus«, rief Georg mit Blick auf das Gebilde in der Mitte des Raumes, »was machen wir mit unserem Modell hier?«
»Lass gut sein, wir haben keine Zeit! Die Bullen können jeden Moment hier sein. Haben wir sonst alles?«
Die Männer nickten. Agatha hatte seine filigranen Werkzeuge, mit denen er an einem der Tische in der Werkstatt gearbeitet hatte, wieder in seinen Pilotenkoffer gepackt und mit einem Pinsel und einem kleinen Schäufelchen einige Späne, die beim Feilen seines Werkstücks angefallen waren, fein säuberlich zusammengekehrt und in einer Plastiktüte verstaut.
»Also, auf geht’s, Männer«, befahl Magnus, »ab in die Autos. Wir treffen uns zur vereinbarten Zeit in der alten Hütte. Jeder bringt sein Material wieder mit! Und zu keinem ein Wort, verstanden? Ruhig Blut ist jetzt oberstes Gebot, okay?«