»Männer, kommt’s ihr mal alle sofort zu mir?« Auch wenn sein Chef ihm nahegelegt hatte, doch die Einladungsfunktion »in seinem Lotus« zu nutzen, wenn er eine Konferenz einberufen wolle, hielt Kluftinger die Schreien-aus-der-offenen-Tür-über-den-Gang-Methode jeglichem Lotus und sonstigen asiatischen Erfindungen weit überlegen.
Als sich – wie er fand, als Beweis der Überlegenheit seiner analogen Methode – seine Kollegen wenige Sekunden später in seinem Büro eingefunden hatten, setzte er sich zufrieden auf die Schreibtischkante.
»Was gibt’s denn so Dringendes?«, wollte Strobl wissen.
Kluftinger hob gerade zu einer Antwort an, da öffnete sich die Tür, und seine Sekretärin kam herein. Wortlos legte sie ihm einen Stapel Papier auf den Schreibtisch und wandte sich wieder zum Gehen. Er blickte flüchtig darauf und sah dann, dass ihre Ernennungsurkunde immer noch bei ihm lag. »Fräulein Henske, die können Sie gleich mitnehmen«, rief er ihr hinterher und wedelte mit dem Papier in der Luft. »Ich brauch die ja jetzt nicht …«
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden, denn Sandy brach in ein herzzerreißendes Schluchzen aus und stürmte aus dem Zimmer.
Mit leerem Gesichtsausdruck starrte der Kommissar auf die Tür, die sie hinter sich zugeknallt hatte, dann seufzte er vernehmlich und sagte: »Schwanger, wenn ihr mich fragt.«
Sofort brach Richard Maier in ein meckerndes Lachen aus, worauf ihn die anderen Kollegen missbilligend anstarrten. »Na, ich war’s nicht«, erklärte er und hob abwehrend die Hände. Darauf wandten sich die Köpfe in Richtung Hefele, der rot anlief und polterte: »Ja, Himmelherrgott, jetzt schaut’s doch nicht so saudumm, was weiß denn ich, was die hat, ich kapier’s doch auch nicht …«
»Dabei bist du doch der Frauenversteher«, erwiderte Maier grinsend, und Kluftinger merkte, dass die Stimmung zu kippen drohte und Hefele im Begriff war, auf seinen Kollegen loszugehen. Doch Strobls »Ich weiß gar nicht, was ihr habt, das ist doch schön!« entschärfte die Situation etwas, und alle beruhigten sich wieder.
»Danke, Eugen«, sagte Kluftinger, der die ganze Aufregung auch nicht so recht verstand. Er räusperte sich und beeilte sich dann, zum eigentlichen Thema ihrer Zusammenkunft zu kommen. »Also, ich war grad bei unserem Pathologen Böhm in Memmingen«, begann er und machte eine kurze Pause. Keiner reagierte. »In seinem … Dings … seinem … Mausoleum.«
Wieder keine Reaktion. Ein bisschen Anerkennung hätte er sich schon erwartet. Keiner stieg gern in Böhms Totenreich hinab, und wenn doch, dann hatte er dafür Respekt verdient – besonders, wenn es sich dabei um ihn drehte, fand Kluftinger.
Da räusperte sich Maier: »Genau genommen …«
Kluftinger machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ach, komm, Richie, ist nicht der Rede wert. Das hätte jeder von euch genauso gemacht.«
Irritiert blickte ihn sein Kollege an. »Was ich sagen wollte, war: Genau genommen ist der Georg kein Pathologe.«
Der Kommissar zog die Augenbrauen hoch.
»Ich meine, ihr sagt das immer, aber er ist halt Gerichtsmediziner.«
Hefele, noch immer merklich in Rage, ging ihn feindselig an: »Und? Er schnippelt an Toten rum, oder?«
»Eben.«
»Wie, eben?«
»An Toten. Pathologen schnippeln an Lebenden.«
Sie blickten sich erstaunt an.
»Allerdings ist das, womit sie es zu tun haben, totes Gewebe.«
»Was jetzt«, fragte Kluftinger gereizt, »tot oder lebendig?«
»Beides.«
»Sehr hilfreich. Der Böhm hat sich jedenfalls noch nie beschwert.«
»Wahrscheinlich hat er’s aufgegeben.«
Etwas aus dem Konzept gebracht, fuhr Kluftinger fort: »Es ist jedenfalls so, dass viele Morde von Hausärzten unentdeckt bleiben.«
»Von Hausärzten?«, fragte Hefele nach, der sich offensichtlich wieder beruhigt hatte.
»Ja. Das habt ihr nicht gewusst, gell?«, entgegnete Kluftinger stolz.
Seine Kollegen schüttelten den Kopf.
»Ist ja auch kein Wunder«, sagte Hefele, »die haben ja eine medizinische Ausbildung, da kann man leicht was vertuschen.«
»Nein, das vertuschen die ja gar nicht aktiv, das kriegt man nur eben gar nicht mit.« Kluftinger blickte in fragende Gesichter. Er versuchte, sich an die Ausführungen von Böhm zu erinnern. »Über eintausend Morde sind das. Also, tausend mehr, als es sonst wären, halt.«
In ein langes Schweigen hinein fragte Strobl: »Ohne Ärzte gäbe es weniger Morde?«
Maier schob nach: »Willst du uns jetzt sagen, dass lauter mordende Serienkiller-Hausärzte da draußen unterwegs sind?«
»Was? Nein, ich mein nicht Morde von Ärzten. Sie entdecken nur die Morde nicht! Herrgott, jetzt seid’s doch nicht so schwer von Begriff: Die Hausärzte finden bei der Leichenschau eben nicht die Hinweise auf ein Verbrechen, weil sie gar nicht danach suchen. Oder nicht ausgebildet sind dafür.«
Nun hellten sich die Mienen der Kollegen deutlich auf. »Jetzt wird’s Tag«, sagte Strobl, und die anderen nickten.
»Und außerdem werden eh nur fünf Prozent …« Kluftinger dachte nach. Er wusste nicht mehr genau, was Böhm ihm erzählt hatte. »Also, im Vergleich zu Österreich zumindest … die obduzieren viel mehr. Zwanzig Prozent.«
»Von was?«, fragte Maier.
Kluftinger lief rot an. »Von hundert, Herrgott. Bin ich beim Verhör oder was? Jedenfalls haben wir in Deutschland anscheinend ein Problem mit der Leichenschau.«
»Ja, darüber hab ich auch schon was gelesen«, erklärte Maier.
»Ja, ja. Sicher hast du das«, erwiderte Hefele mit übertriebenem Nicken. »Wahrscheinlich hast du’s sogar selber geschrieben.« Dann wandte er sich an Kluftinger. »Wie viele waren das noch mal?«
»Über tausend.«
»Im Jahr?«
»Ich … hm, also, ja, ja, bestimmt.«
»Und wo? In Deutschland? In Bayern? Oder bei uns?«
Kluftinger dachte angestrengt nach, dann platzte er heraus: »Zefix, sind wir hier im statistischen Landesamt oder … oder … woanders? In Deutschland, ja. Also, auf jeden Fall hab ich heute einen entdeckt, von diesen Morden.«
Jetzt bekamen die Kollegen große Augen, und Kluftinger hatte endlich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit. Nun wurde es ernst. Er erzählte ihnen von der Frau und den Würgemalen. Als er fertig war, setzte er sich hinter seinen Schreibtisch und musterte sie zufrieden.
»Also, eigentlich …«
»Ja, Richie?«
»Eigentlich, streng genommen, hat ja dann der Böhm den Mord entdeckt, oder?«
Strobl biss sich auf die Lippen, und Hefele hielt sich die Hand vor den Mund.
Kluftinger setzte sich auf: »Ist denn das nicht völlig wurscht? Wer das entdeckt hat? Wichtig ist doch, dass wir hier einen Mord haben, um den wir uns kümmern müssen.«
Die anderen nickten. Nur Maier schien noch nicht zufrieden: »Ich mein ja bloß, weil du gesagt hast, du hättest ihn …«
In diesem Moment klingelte das Telefon. Auf dem Display wurde eine Mobilnummer angezeigt. Kluftinger zuckte die Achseln und hob ab.
»Ja? … Ach so, Entschuldigung, Kluftinger … Natürlich, Sie haben völlig recht, Herr Lodenbacher.«
Kluftingers Kollegen grinsten. Strobl bedeutete ihm, doch laut zu stellen, damit alle mithören konnten.
»Ich steh do grad auf der Dreifing-Räinsch«, quäkte es aus dem kleinen Lautsprecher.
»Wo sind Sie?«, fragte Kluftinger und beugte sich dabei über den Lautsprecher, worauf Strobl ihm zuflüsterte: »Beim Golfen!«
»Auf der Driving-Range, Kluftinga. Und wissen Sie, wer neben mir steht?«
Kluftinger hielt das für eine rhetorische Frage, doch als Lodenbacher nicht weitersprach, erwiderte er: »Der schwarze Mann?«
»Herr Kluftinga, lossen S’ den Blödsinn. Der Herr Landrat steht neben mir, ned?«
»Sag ich ja: der schwarze Mann«, antwortete er und sah zufrieden, wie seine Kollegen mühsam ein Lachen unterdrückten.
»Herr … Herr Kluftinga, ich hab das Handy auf Laut geschaltet.«
Der Kommissar setzte sich kerzengerade hin und lief knallrot an. Nun bereitete es seinen Kollegen noch mehr Mühe, nicht loszuprusten.
»Oh, ah so, ja, ich … Grüß Sie Gott, Herr Landrat.«
Er hörte ein dumpfes Gemurmel am anderen Ende, dann fuhr Lodenbacher fort – wie immer, wenn Honoratioren in der Nähe waren, besonders krampfhaft um hochdeutsche Diktion bemüht: »Es geht um die Soche, Sie wissen schon, die Ausstellung in Altusried. Des is a ganz große … also Soche, vor allem die Sicherheit liegt mir sehr am Herzen. Des sind ja Dinge von gewaltigem Wert, des sucht ja seinesgleichen im Allgäu, ach was, in Bayern, Deutschland, ned wahr? Do kemma uns koan Fehler leisten.«
Er redete sich in Rage und vergaß dabei, auf seine Aussprache zu achten. Es folgte ein zweiminütiger Monolog, in dem es immer wieder um »immense Werte«, »großes öffentliches Interesse« und ein »einmaliges Ereignis« ging. Auch wenn Lodenbacher nicht direkt sagte, worum es sich drehte, war Kluftinger klar, was er meinte. In seinem Heimatort gab es ja seit Wochen kein anderes Thema. Alle redeten nur noch von der »Heimkehr des Schatzes«, wie die Lokalzeitung es genannt hatte. Ihm schwante nichts Gutes.
»… und deswegen wollen mir, dass Sie bei dera Arbeitsgruppe auch dabei san«, schloss sein Vorgesetzter.
Kluftinger sah sich in endlosen und – wie meist bei derartigen von Lodenbacher ins Leben gerufenen Arbeitsgruppen – fruchtlosen Sitzungen dahinvegetieren, deswegen sagte er schnell: »Aber das wär doch eine Sache für den Maier. Der ist in so was viel besser, der kann das, und er kennt sich aus, und er ist eh grad hier und …«
Maier richtete sich auf. Seine Augen leuchteten.
»Naa, Kluftinga, der is allweil so kompliziert und drängt sich immer in den Vordergrund.«
Richard Maier ließ sich wieder in seinen Stuhl sinken.
»Ich hab auch den Lautsprecher an, Herr Lodenbacher.«
»Oh … Kluftinga, wia gsogt, des is wichtig. Außerdem sind Sie ja aus Altusried, also da sind Sie genau der Richtige. Morgen is die erste Sitzung, da könna mir alles Weitere besprechen.« Grußlos beendete er das Telefonat.
Als Kluftinger aufsah, bemerkte er, dass seine Kollegen gerade dabei waren, sein Büro zu verlassen. »Und wo wollt ihr jetzt hin?«
Maier antwortete schnell: »Na, du hast ja jetzt einen Auftrag, da musst du dich sicher um einiges kümmern, und da dachten wir …«
»Ja, das tät euch so passen. Wir haben jetzt Wichtigeres zu tun.«
Als Kluftinger vor der alten Autowerkstatt am Ufer der Iller in der Kemptener Altstadt die Tür des Dienstwagens öffnete, standen dort bereits der weiße BMW von Willi Renn und ein Streifenwagen, mit dem wohl sein Team gekommen war. Wie die das nur schafften, immer noch vor ihnen an den Tatorten zu sein! Kluftinger stieg aus und ging auf den Erkennungsdienstler zu, der gerade im Kofferraum seines Autos kramte.
»Willi, auch schon da?« Kluftinger klopfte dem Kollegen auf die Schulter. Er mochte Renn und hätte nicht sagen können, wie lange er schon mit dem kleinen Mann zusammenarbeitete, an wie vielen Tatorten sie schon gemeinsam nach Spuren und Indizien gesucht hatten, Kluftinger eher intuitiv, Willi akribisch und genau. Und der Kommissar wusste, dass man sich immer auf »Willi, den Wühler« verlassen konnte, nicht nur, wenn es um Spurensicherung ging.
»Klufti, du weißt doch, dass wir von der schnellen Truppe sind! Wo hast du denn dein Auto gelassen?«, wollte Renn wissen.
»Du, der Eugen ist gefahren. Hast du heut gar keinen Strampelanzug an?« Der Kommissar grinste. Normalerweise trugen Renn und seine Kollegen an Tatorten einen weißen Einweg-Papieranzug, Kopfhaube und Handschuhe, um keine Spuren zu verwischen oder mit eigenen Haaren oder Hautschuppen zu verunreinigen.
»Ein Anzug hilft da drin höchstens noch gegen Ölschlamm und Wagenschmiere, vernünftige Spuren werden wir wohl kaum finden. Da hat schon die Putzfrau zusammengekehrt!«, brummte Renn. Dann zog er sich die blau karierten Gummistiefel an, die er eben aus dem Kofferraum geholt hatte.
Kluftinger warf ihm einen fragenden Blick zu.
»Ich hab keine Lust auf Ärger mit meiner Frau, weil ich die neuen Mokassins aus dem Spanienurlaub mit Altöl versaut hab!«, erklärte Renn, griff augenzwinkernd doch noch nach einem Einwegoverall und entfernte sich.
Kluftinger ließ den Blick über das Haus wandern, vor dem er stand: ein L-förmiges Gebäude, das den geteerten Hof begrenzte, links von ihm das große Wohnhaus und direkt vor ihm in rechtem Winkel dazu die etwas niedrigere zweistöckige Werkstatt. Das gesamte Gebäude hatte schon bessere Zeiten gesehen: Beim Wohnhaus blätterte der Putz ab, die meisten der zahlreichen Fenster waren trüb. Einige der schäbigen grünen Läden fehlten. Nur wenige Fenster waren gegen neuere Kunststoffmodelle ausgetauscht worden. Deren Scheiben jedoch waren sauber geputzt, mit Gardinen versehen, dahinter konnte man Zimmerpflanzen erahnen. Nur hier schien noch jemand zu wohnen. Der Werkstatttrakt war in einem moosigen Grünton gestrichen, im Erdgeschoss zwei alte Klapptore, eines davon halb offen, der erste Stock wirkte ungenutzt, die kleinen Fenster waren voller Spinnweben. An einem kleinen Balkon, einer Art winziger Dachterrasse auf der Werkstatt, leuchteten üppig blühende rote Geranien aus hellgrauen Plastikblumenkästen. Ein bizarrer Mix, fand Kluftinger.
Über den Toren prangte als Relief in verwitterten grauen Lettern ein Schriftzug: Auto-Zahn, Fahrzeugreparaturen aller Marken. Inh. Herbert Zahn.
In diesem Moment bog ein Lieferwagen mit der Aufschrift Motorrad-Center Biberach auf den Hof ein. »Himmelarsch, kann man denn nirgends in Ruhe arbeiten?«, schimpfte Kluftinger und ging auf das Auto zu.
»Was gibt’s denn?«, fragte der Mann auf dem Beifahrersitz, nachdem sie das Fenster heruntergelassen hatten.
Der Kommissar seufzte. Das war seine Lieblingsfrage an Tatorten. Wenn die Menschen mit diesem schaulustigen Leuchten in den Augen wissen wollten, ob es eine Sensation zu sehen gebe. Entsprechend genervt wollte er die beiden wieder loswerden. Doch als er mitbekam, dass sie sich lediglich verfahren hatten, wurde er wieder etwas freundlicher und erklärte ihnen den Weg. Gelbfüßler, dachte er kopfschüttelnd, während sie um die Ecke bogen.
»Der Hefele hat grad angerufen«, sagte Strobl und steckte sein Handy weg. »Kommt zusammen mit Zahns Arzt gleich mal hier vorbei.«
»Mit welchem Zahnarzt?«
»Nein, nicht Zahnarzt, mit dem Arzt von Zahn … also, dem Doktor von den Zahns halt, dem, der den Totenschein ausgestellt hat«, erklärte Strobl umständlich.
»Schon klar, Eugen. Kommt’s, wir gehen rein!«
»Das dürfte ja ein Tatort ganz nach deinem Geschmack sein, oder, Klufti?«, merkte Strobl grinsend an. »Ich mein … so ganz ohne Blut und ohne Leiche!«
Maier gluckste.
»Ihr braucht’s gar nicht so großspurig tun! Als ob euch das nicht auch lieber wär!«, blaffte der Kommissar zurück und betrat die Werkstatthalle.
Kluftinger fiel als Erstes der beißende, muffige Geruch auf: eine Mischung aus Öl, Lösungsmittel, Metall und dem Dreck, der sich seit fünfzig Jahren in diesem Raum angesammelt hatte. Was er dann sah, wirkte geradezu wie eine Reminiszenz an vergangene Zeiten, als in Fahrzeugen noch echte Mechanik dominiert hatte, nicht schnöde Elektronik. Eine mächtige Metalldrehbank vor der Rückwand, dazu eine Standbohrmaschine auf einer mächtigen schwarzen Werkbank. Daneben zwei riesige Gasflaschen eines geradezu antik anmutenden Schweißgerätes und in der Ecke ein großer Amboss. Hier waren früher offenbar noch Ersatzteile angefertigt, nicht nur Relais getauscht und Bordcomputer programmiert worden.
In dem Raum waren übereck zwei alte Autohebebühnen angeordnet, Werkstattwagen mit allerlei ölig-verschmiertem Werkzeug standen herum, und an der linken Seitenwand hing ein verrostetes Schild mit der Aufschrift: Wenn das Auto nicht springt an, ruf doch gleich den Auto-Zahn. Einige Blechschilder von Reifen- oder Elektrikherstellern, deren Namen Kluftinger allenfalls noch aus seiner Jugendzeit kannte, fristeten hier ein Schattendasein und schienen geradezu darauf zu warten, von irgendeinem begeisterten Sammler wieder zu altem Glanz erweckt zu werden.
Bei einer der Hebebühnen knieten Willi Renn und seine Mitarbeiter, junge Kollegen, die Kluftinger nur dem Namen nach kannte. Sie waren beide ordnungsgemäß mit Overalls bekleidet und erfüllten somit das Klischee vom Erkennungsdienst weit besser als Willi.
Plötzlich hörte der Kommissar hinter sich ein seltsames Surren, das rasch näher zu kommen schien. Er drehte sich um und sah einen älteren Mann in einem Elektrorollstuhl, der sich in seine Richtung bewegte. Der Kommissar ging einen Schritt auf den Mann zu, doch der Alte schien keine Anstalten zu machen, sein Gefährt zum Stehen zu bringen. Kluftinger machte einen Ausfallschritt nach rechts, doch er war nicht schnell genug gewesen: Sein linkes Schienbein brachte den Rollstuhl mit einem heftigen Ruck zum Stehen. Ein stechender Schmerz ließ den Kommissar kurz aufschreien.
»Kreuzhimmel, haben Sie denn …«, setzte er zu einer heftigen Schimpftirade an, doch bevor er richtig loslegen konnte, hielt ihn auch schon sein schlechtes Gewissen zurück: Schließlich saß sein Gegenüber im Rollstuhl, und er wollte nicht rücksichtslos erscheinen. Er war sich immer unsicher, wie man mit den Gebrechen oder Einschränkungen anderer umzugehen hatte. Viele wollten ja gar keine Sonderbehandlung. Man wusste nie, ob die Betroffenen es nicht eher als Affront ansahen, wenn man ihnen helfen wollte. In diesem Fall fühlte sich Kluftinger sogar ein wenig schuldig. Schließlich hatte er ja mitten im Weg gestanden.
»Ich mein, es … tut mir …«, stammelte er.
»Nix für ungut, Herr Inspektor«, unterbrach ihn der Mann im Rollstuhl. »Aber das Ding reagiert nicht besonders sensibel. Und manche sagen das auch seinem Besitzer nach. Herbert Zahn. Mit wem habe ich das zweifelhafte Vergnügen?«
Erst jetzt konnte Kluftinger das Gesicht seines Gegenübers richtig sehen. Zahn wirkte recht rüstig, geradezu drahtig – ein Eindruck, der durch die sonnengebräunte Haut, markante Gesichtszüge und eine sonore Bassstimme unterstrichen wurde. Nur an seinen dürren, knochigen Händen sah man, dass der Mann über achtzig sein musste.
»Kluftinger, Kripo Kempten, grüß Gott, Herr Zahn. Zuerst mal möchte ich Ihnen mein Beileid aussprechen zum Tod Ihrer …«
»Geben Sie sich keine Mühe, das Leid hält sich in Grenzen, was mich angeht«, sagte Zahn lapidar.
Kluftinger runzelte die Stirn.
»Meine Frau und ich, wir haben nicht gerade eine Bilderbuchehe geführt, verstehen Sie? Aber in unserem Alter, da lässt man sich nicht mehr scheiden, auch wenn man sich überhaupt nichts mehr zu sagen hat. Jeder von uns ging längst seiner eigenen Wege, obwohl wir in einem Haus gelebt haben. Und meine Frau, wie soll ich das sagen, sie war nicht gerade herzlich, verstehen Sie? Nicht nur zu mir. Was meinen Sie, wieso sie in der Nachbarschaft nur ›Giftzahn‹ genannt worden ist? So was hat schon seinen Grund! Die konnte ein furchtbarer Drache sein.«
Kluftinger sah den Mann fassungslos an. Unglaublich, wie der über seine erst vor ein paar Tagen verstorbene Frau sprach. Was bewog jemanden, sein Leben mit einem Menschen zu verbringen, der ihm nichts mehr bedeutete, schlimmer noch, der ihm regelrecht zuwider war? Unvorstellbar, und dennoch kannte er einen ähnlichen Fall aus der eigenen Familie: Hatte nicht seine Großmutter am offenen Grab ihres zehn Jahre älteren Mannes vor allen Trauergästen gesagt, sie sei zwar sehr traurig über den Tod ihres Mannes, freue sich aber auch auf ihr neues Leben als Witwe und auf ein paar schöne Jahre, die sie nun noch habe? Er dankte Gott in einem Stoßgebet für seine funktionierende Ehe, konnte er sich doch nicht einmal in den schlimmsten Albträumen ausmalen, wie groß seine Trauer wäre, würde seiner geliebten Erika etwas zustoßen. Kluftinger schüttelte kaum merklich den Kopf, versuchte dann aber, seinen Abscheu vor Zahns Verhalten, so gut es ging, zu verbergen.
»Haben Sie denn Ihre Frau aufgefunden?«, fragte er und bemühte sich, dabei möglichst sachlich zu klingen.
»Schon, ja. Neulich ist sie mal in der Früh nicht da gewesen«, gab Zahn an. »Ich hab schon in der Nacht gesehen, dass sie nicht in ihrem Bett lag, auf dem Weg zum Klo komm ich ja an ihrem Zimmer vorbei.«
»Und dabei haben Sie sich nichts gedacht?«, hakte Strobl auf einmal nach. Kluftinger hatte gar nicht bemerkt, dass seine beiden Kollegen schräg hinter ihm standen. Maier hielt sein Handy-Diktiergerät in Zahns Richtung.
»Mein Gott! Die ist oft auf dem Sofa bei laufendem Fernseher eingeschlafen und erst beim Morgengrauen ins Bett gegangen. Was hätt ich mir da schon denken sollen?«
»Aber im Bericht des Hausarztes steht, dass er erst um elf Uhr dreißig des nächsten Tages gerufen worden ist«, hakte Kluftinger nach. »Haben Sie denn nicht wenigstens in der Früh mal nach Ihrer Frau geschaut?«
»Halb zwölf ist ja auch noch in der Früh!«, gab Zahn zurück. »Wir frühstücken nie zusammen, und ich steh eh später auf. Manchmal ist sie dann halt schon weg gewesen, beim Einkaufen auf dem Markt oder was weiß ich. Aber wie sie nicht gekommen ist, als es auf die Essenszeit zuging, da hab ich mal in die Werkstatt geschaut. Und da ist sie dann gelegen. Hat man ja gleich gesehen, dass die hinüber ist.«
»Zeigen Sie uns bitte genau, wo Ihre Frau gelegen ist!«, forderte Strobl den Mann auf.
Zahn zögerte kurz, dann richtete er sich auf einmal in seinem Rollstuhl auf. Kluftinger zuckte regelrecht zusammen, wurde aber schnell von Maier abgelenkt, der leise, aber durchaus für alle vernehmlich sagte: »Ein Wunder, ein Wunder!«
Strobl und Kluftinger warfen ihm umgehend tadelnde Blicke zu, woraufhin der Kollege kleinlaut zurückgab, man dürfe doch wohl mal noch ein »Späßle« machen.
Zahn schlurfte davon unbeirrt auf die Hebebühne zu, an der Willi und seine Kollegen noch immer zugange waren. Die Polizisten folgten ihm.
»Sind Sie denn gar nicht auf den Rollstuhl angewiesen, Herr Zahn?«, wollte Kluftinger wissen.
»Angewiesen nicht«, brummte der zurück, »aber ich bin mein ganzes Leben schon lieber gefahren als gelaufen. Wieso sollte ich mir diese Annehmlichkeit denn nicht gönnen? Wenn ich denk, was ich früher für Autos und Maschinen gehabt hab! Ich war zweimal bayerischer Meister auf der Sandbahn! Speedway, verstehen Sie? Das kennen Sie heut gar nicht mehr! Aber egal. Also, ich bin hier reingekommen und hab meine Frau da über dem vorderen Querholm von der Hebebühne liegen sehen.«
»Haben Sie denn seitdem hier irgendetwas verändert?«
»Wie, verändert? Ich hab da seit zwanzig Jahren nichts mehr verändert. Das ist noch genau wie vorher! Nur dass sie nicht mehr daliegt halt.«
Jetzt wandte sich Kluftinger an Renn: »Habt ihr euch den Schacht unter der Bühne schon mal angeschaut, Willi?« Er deutete auf die rechteckige Montagegrube, die nur zu einem kleinen Teil mit einem verbogenen alten Gitter gesichert war.
»Mal langsam, Kollege! So weit sind wir noch nicht!«
»Macht es dir was aus, wenn ich da mal selber runtersteige?«
»Wie gesagt, ich glaub nicht, dass wir hier noch viel finden. Aber tu, was du nicht lassen kannst! Und denk dran: Auch deine Erika wird nicht grad begeistert sein, wenn du völlig verdreckt heimkommst!«
»Ich pass schon auf«, wiegelte Kluftinger ab und stieg die wenigen Gitterstufen in den dunklen Schacht hinunter. Unten verlor der Kommissar für einen Moment den Halt. Er krallte sich reflexartig an dem rostigen Geländer fest, um nicht hinzufallen. Mit zusammengekniffenen Augen sah er zu Boden, der bedeckt war von genau dem schmierigen Film aus Altöl und diversen anderen undefinierbaren Substanzen, vor denen ihn Willi gerade gewarnt hatte.
»Kruzinesn! Herr Zahn, haben Sie denn kein Licht hier unten?«, fragte er aus dem Dunkel.
Zahn schüttelte den Kopf.
»Er hat keins!«, gab Maier dienstbeflissen weiter. »Aber wenn du möchtest, dann kann ich dir Licht machen. Ich hab ein Flashlight-App!«
Kluftinger streckte den Kopf aus der Grube: »Was hast du?«
»Ein Flashlight, also … Taschenlampen-App!«
»Ein Epp, soso. Reimt sich verdächtig auf Depp!« Kluftinger sah augenzwinkernd zu Strobl, der seine Lippen zu einem Grinsen verzog. »Also, kann man damit leuchten? Dann will ich’s haben!«
Maier zögerte etwas: »Eigentlich handelt es sich dabei um mein neues Smartphone. Und ich geb so sensible Geräte ungern aus der Hand, noch dazu an Leute, die sich damit absolut nicht auskennen!«
»Alles klar. Dann komm endlich runter und mach’s hell, du … Leuchte!«
Erstaunt stellte der Kommissar fest, dass Maiers Telefon als Not-Taschenlampe tatsächlich ganz passabel funktionierte. Während der in gebückter Haltung das Gerät nahe über dem Boden hin und her schwenkte, suchte Kluftinger die Grube Quadratzentimeter für Quadratzentimeter ab. Als sie etwa ein Drittel hinter sich hatten, beugte sich Kluftinger ruckartig nach unten und stieß mit Maiers Hinterkopf zusammen.
»Herrgott, Richie, geh aus dem Weg mit deinem Quadratschädel, ich hab da was!« Kluftinger klaubte einen Gegenstand vom Boden, der im spärlichen Licht des Telefons wie ein verschmierter Draht, ein Kabel oder ein dünnes Drahtseil aussah. Daneben lag eine zerrissene Kette.
»Ein Kabel in einer Werkstatt, Respekt, Herr Hauptkommissar, wer konnte damit rechnen«, spottete Willi. »Ich schau vielleicht auch noch mal, sicher ist sicher. Wir haben nämlich sogar eine transportable Neonleuchte dabei!«
»Schönen Dank auch, und ich plag mich mit der Funzel ab!«
»Du, ich wollt mich nur nicht einmischen.«
»Aha, alles klar!« Kluftinger fischte die eben geborgenen Teile mit spitzen Fingern vom Boden und hielt sie Zahn vor die Nase. »Was ist das, Herr Zahn?«
Der alte Mann wollte gerade danach greifen, da zog Kluftinger es ihm wieder weg.
»Nur anschauen, bitte, Herr Zahn, Sie wissen ja, die Spuren!«
Willi nickte anerkennend in Kluftingers Richtung.
Zahn setzte die Brille auf, die an einer Kordel um seinen Hals hing, und schürzte die Lippen, dann sagte er: »Wenn Sie mich fragen, ist das der Gaszug von einem 911er oder 912er Porsche, Baujahr 1960 bis frühe Siebziger. Kann aber auch schon von einem 356er sein. Den können Sie aber wegwerfen, der ist an der vorderen Befestigung abgerissen. Das andere ist die Christophoruskette meiner Frau.«
»Respekt, Herr Zahn«, kommentierte Maier. »Damit können Sie ja bei ›Wetten, dass?‹ auftreten!«
»Willi, packt das mal in einen von euren Gefrierbeuteln, bitte!«, bat Kluftinger.
Renn hielt ihm einen seiner durchsichtigen Asservatenbeutel hin. »Klufti, da muss ich dich ja regelrecht loben!«
»Herr Zahn«, wandte sich der Kommissar wieder an den alten Mann, »wollen Sie denn gar nicht wissen, weshalb wir hier sind?«
»Sie werden es mir schon bald mal sagen, nehm ich an!«
»Ihre Frau ist keines natürlichen Todes gestorben, wie es im Totenschein steht«, erklärte Kluftinger und fixierte dabei sein Gegenüber, um dessen Reaktion möglichst genau mitzubekommen. »Sie ist ermordet worden. Das hat die Obduktion zweifelsfrei ergeben!«
Zahn runzelte die Stirn. Mit zu Schlitzen verengten Augen presste er hervor: »Heu, jetzt wird’s interessant!«
»Ich kann Ihnen ohne Umschweife schon einmal sagen«, mischte sich Maier ein, »dass Sie sich verdächtig gemacht haben. Sehr verdächtig. Ich hab Ihre Aussagen alle auf dem Handy!«
»Ach so? Meinen Sie, ich hab sie mit meinem Rollstuhl überfahren, oder wie?«
»Wohl kaum«, konterte Strobl, »schließlich ist sie erwürgt worden!«
»Ach so, klar, ich hab sie erwürgt! Ich kann noch nicht mal einen Stift halten, so stark hab ich Gicht! Aber meine Frau, diesen Koloss, den hab ich einfach mal so erwürgt! Nach über fünfzig Jahren Ehe hab ich mir gedacht: Jetzt reicht’s mir, jetzt erwürg ich den alten Drachen!« Er tippte sich mit dem Finger an die Stirn.
»Jetzt mal mit der Ruhe, Herr Zahn«, sagte Kluftinger, »wir sagen ja nicht, dass Sie es waren. Hat Ihre Frau denn Feinde gehabt?«
»Feinde?«, wiederholte Zahn abschätzig. »Fragen Sie lieber nach ihren Freunden, da geht das Aufzählen schneller!«
»Warum? Wie hat sich Ihre Frau denn unbeliebt gemacht?«, hakte Strobl nach.
»Wie gesagt: Giftzahn haben die Leut gesagt. Wie oft hab ich sie gewarnt, dass sie nicht immer ihre Nase überall reinstecken soll. Jetzt hat sie den Dreck!«
In diesem Moment erhellte ein Lichtschein von draußen die düstere Werkstatt. Kluftinger wandte sich zur Tür: Hefele betrat gerade mit einem vielleicht fünfzigjährigen Mann den Raum. »So, Kollegen, darf ich vorstellen, Herr Doktor Sichler, der Arzt von Frau Zahn.«
Maier schob sich an Kluftinger und Strobl heran und flüsterte: »Aber nicht der Zahnarzt!«
»Den hatten wir schon«, erklärte Strobl. Dann klopfte er dem Kollegen aufmunternd auf die Schulter und setzte ein »Kannst du ja aber nicht wissen« hinzu.
Kluftinger begrüßte den Arzt und war überrascht von dessen Händedruck, der auffallend kräftig war für einen Mann von seiner Statur. Auf Ende vierzig schätzte ihn der Kommissar, hochgewachsen, schlank, ja geradezu dürr. Seine weiße Hose war gut und gern drei Zentimeter zu kurz, und der Hosenbund saß oberhalb des Bauchnabels. Obendrein machte der Doktor ein Hohlkreuz, was seinen Hintern wie eine Art Entenbürzel hervortreten ließ.
»Gut, dass Sie gleich mitgekommen sind, Herr Doktor Sichler. Kluftinger, Kripo Kempten. Können Sie uns denn mal kurz schildern, wie das vor sich gegangen ist, als Sie vorgestern hierhergerufen worden sind?«
»Herr Zahn hat mich verständigt, gegen elf, halb zwölf müsste das gewesen sein. Er hat mir sofort gesagt, dass seine Frau tot sei und er sie hier in der Werkstatt gefunden habe.«
»Hat Sie das denn nicht stutzig gemacht?«, erkundigte sich Strobl.
»Wissen Sie, Frau Zahn war herzkrank. Wenn Sie sie gesehen haben, wissen Sie auch, dass sie eine sehr starke Person war …«
»Sie war fett, Herr Doktor, das können Sie ruhig ohne Umschweife sagen!«
Der Arzt sah zu Zahn hinüber, der mittlerweile wieder in seinem Rollstuhl Platz genommen hatte, und zuckte mit den Schultern, dann fuhr er fort: »Schön, sie war sehr übergewichtig, dickleibig, das stimmt schon. Und dann hatte sie noch die Probleme mit dem Herzen. Angina Pectoris.«
»Pah, die hatte überhaupt kein Herz, mal ehrlich!«, brummelte Zahn.
Sichler ließ sich nicht beirren. »Ich bin also schon am Telefon davon ausgegangen, dass Frau Zahn an einem Herzversagen gestorben ist. Wer rechnet schon mit einem unnatürlichen Tod bei einer Zweiundachtzigjährigen?«
»Vielleicht der Arzt? Bei der gesetzlich vorgeschriebenen Leichenschau?«, forderte Maier den Mediziner heraus.
Der reagierte prompt. Er ging einen Schritt auf Maier zu und sagte mit einem Nachdruck, der den Polizisten sichtlich einschüchterte: »Ich weiß, was ich laut Gesetz machen muss. Und ich mache es, so gut ich kann. Wenn Sie zwischen einer Lungenentzündung und einer Krebsnachsorge samt Prostatauntersuchung mal schnell zu einem Todesfall in eine düstere Garage gerufen werden, wo eine dicke alte Frau liegt, die eigentlich nach Menschenermessen längst tot sein müsste, meinen Sie, da entgeht Ihnen nicht auch mal was?«
»Jetzt lassen Sie uns nicht streiten«, versuchte Hefele zu beschwichtigen, und Kluftinger fügte hinzu: »Niemand macht Ihnen da einen Vorwurf!« Dann sah er Maier scharf an und fragte: »Als Sie keine Anhaltspunkte für eine Gewalteinwirkung gefunden haben, was haben Sie getan?«
»Ich hab zusammen mit Herrn Zahn die Bestatter gerufen.«
»Standen Sie in einer engen Beziehung zu Frau Zahn?«, fragte Maier weiterhin in recht unversöhnlichem Ton.
Der Arzt runzelte fragend die Stirn.
»Na ja, waren Sie so etwas wie ihr Vertrauter? Sie wären nicht der erste Hausarzt, der in einem Testament …«
»Haben Sie denn Kinder, Herr Zahn?«, fragte Kluftinger an den Mann im Rollstuhl gewandt, um die Situation nicht noch mehr eskalieren zu lassen. Der Arzt, der schon zu einer Gegenrede angesetzt hatte, hielt abrupt inne.
Zahn machte eine wegwerfende Handbewegung und brummte: »Kinder? Nein. Meine Frau hat von ihren ehelichen Pflichten nie viel gehalten, auch als wir jung waren, nicht. Es gab also nicht viele Gelegenheiten. Aber ich war auch nicht scharf drauf. Ich hab mich anderweitig vergnügt, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Kluftinger blies hörbar die Luft aus. So genau hatte er es eigentlich gar nicht wissen wollen. »Herr Doktor, ist Ihnen etwas aufgefallen, hier in der Werkstatt? Vielleicht, dass etwas herumlag oder irgendetwas verändert schien?«
»Verändert? Es ist schon eine Weile her, dass ich hier drin gewesen bin. Vielleicht fünfzehn Jahre. Damals hat Herr Zahn noch die Werkstatt betrieben und meinem alten Jeep einen neuen Auspuff verpasst. Aber wenn Sie mich so fragen: Seitdem ist hier alles gleich geblieben!«
Strobl schaltete sich ein: »Was hat denn Ihre Frau überhaupt hier unten gemacht? Ich meine, wenn hier alles stillgelegt ist.«
»Ist es ja gar nicht«, gab Zahn zurück. »Das hier wird seit bald zehn Jahren alles vermietet. Einschließlich der Werkzeuge und der Ausstattung. Meine Frau hat sich darum gekümmert. Das haben immer wieder andere gehabt, meistens so Autoschrauber, die dann ihren Oldtimer aufgemöbelt haben. Dann haben sie die Werkstatt an irgendwelche Kumpels weitervermittelt. Ich sag’s Ihnen gleich, da ist bei meiner Frau viel unter der Hand gelaufen.«
Die Beamten blickten sich an. Das gab dem Ganzen natürlich eine neue Wendung.
»An wen hat sie denn zuletzt vermietet?«, fragte Kluftinger aufgeregt. »Wo sind denn Ihre aktuellen Mieter? Und was haben sie hier gemacht? Sieht ja nicht nach Autoreparatur aus, dazu fehlen die Fahrzeuge und Teile, oder? Und können Sie sich vorstellen, was Ihre Frau hier in der Werkstatt wollte? Hat sie denn irgendeine Veranlassung gehabt, hierherzukommen? Und hat sie einen Schlüssel gehabt?«
»Weg. Weiß nicht. Stimmt. Keine Ahnung. Glaub nicht. Ja.«
»Bitte?«
»Ja, wenn Sie alle Fragen auf einmal stellen, antworte ich halt auch auf einmal.«
Kluftinger lief rot an. Gut, er hatte gerade keine professionelle Fragetechnik angewandt; wegen der neuen Sachlage war der Gaul ein bisschen mit ihm durchgegangen. »Das ist hier eine ernste Sache, Herr Zahn«, ermahnte er den alten Mann. »Würden Sie sich bitte entsprechend verhalten?«
»Schon gut, schon gut. Also, meine Frau hätte den Mietern niemals alle Schlüssel gegeben, dazu war sie viel zu misstrauisch. Sie hat immer wieder herumspioniert hier unten und sich weiß Gott was für Geschichten ausgemalt, dass hier gestohlene Autos umlackiert oder zerlegt werden. Und dann hat sie auch die Miete immer bar haben wollen, weil sie allen immer misstraut hat. Vielleicht wollte sie ja an dem Abend auch Geld eintreiben.«
Der Kommissar seufzte. »Gibt es einen Mietvertrag?«
»Ich denke schon. Da müssen wir in den Unterlagen von meiner Frau nachschauen. Die sind oben im Wohnzimmerschrank.«
Um Maier und den Arzt fürs Erste voneinander zu trennen, schickte Kluftinger den Kollegen mit Hefele und Zahn in dessen Wohnung, damit sie den Vertrag suchen.
»Ich müsste dann mal wieder in meine Praxis«, meldete sich Sichler, der nach Maiers Weggang friedlicher schien.
»Ja, Sie können eigentlich gehen. Wir haben ja Ihre Nummer.«
Ein paar Minuten noch standen Strobl und Kluftinger ein wenig verloren in der Werkstatt. Es schien hier tatsächlich keinerlei Ansatzpunkte für die Ermittlungen zu geben. Auch Willi Renn hatte ihnen wenig Hoffnung gemacht.
Als die beiden Polizisten gerade die düstere Halle verlassen wollten, hielt sie Renn jedoch mit einem »Hey!« auf. Er stand in der schmalen Tür zu einem Nebenraum auf der linken Seite der Werkstatt. »Kommt’s mal her, Kollegen, und schaut’s euch das an. Vielleicht könnt ihr euch einen Reim darauf machen, ich kann’s jedenfalls nicht!«, rief er.
Kluftinger verstand sofort, was Willi meinte: Er blickte in einen kahlen, etwa vier Meter hohen Raum, schätzungsweise vierzig Quadratmeter groß, der Zahn als Lager gedient haben musste. Der Raum wurde von einer einzelnen Neonleuchte notdürftig erhellt. Kluftinger zog grübelnd die Brauen zusammen. Sein Blick fiel auf ein seltsames Gebilde im Zentrum des Zimmers: Auf einem zusammengeschraubten Sockel aus Dachlatten und Sperrholz stand eine billige bunte Heiligenfigur aus Plastik unter einer Art Käseglocke aus Glas, ringsherum markierten giftgrüne dicke Wollfäden so etwas wie einen Würfel. An verschiedenen Stellen des Raums waren wie die Reste eines überdimensionalen Spinnennetzes Gebilde aus den gleichen Schnüren gespannt. Kluftinger hatte keine Ahnung, was er da vor sich hatte. Er schüttelte langsam den Kopf, drehte sich dann um und blickte in die völlig ratlosen Gesichter von Willi Renn und Eugen Strobl.
»Habt’s ihr eine Idee?«, wollte Renn wissen, doch die beiden anderen schüttelten nur die Köpfe.
»Hm, komisch«, sinnierte Kluftinger, »das schaut aus wie so eine Installation, findet ihr nicht? Moderne Kunst oder so was.«
»Interessant!«, tönte es hinter dem Kommissar. Er wandte sich um und sah, wie Richard Maier sein Taschenlampenhandy hochhielt und Fotos machte.
»Lass gut sein, Richie«, sagte Kluftinger, »der Willi hat schon genügend fotografiert, da brauchst du jetzt nicht noch rumknipsen.«
»Ich will ja auch nur für mich ein paar private Bilder«, verkündete der und drängte sich mit noch immer gezückter Kamera in den Raum. »Ich liebe moderne Kunst, und was wir hier sehen, erinnert in seiner Verwendung von Alltagsgegenständen und ihrer Veredelung zur Kunst ein bisschen an die Readymades von Duchamp! Was meint ihr?«
Verwirrt sahen drei Augenpaare zu Maier. Der schien die Blicke in seinem Rücken zu spüren, denn er drehte sich um und bemerkte: »Ihr wisst schon, der mit der Kloschüssel an der Wand …«
»Deine Schüssel hat aber noch keinen Sprung, da bist du sicher?«, entfuhr es dem Kommissar, der solche Äußerungen allenfalls von Langhammer gewohnt war, nicht aber von einem seiner engsten Mitarbeiter. »Und überhaupt: Weshalb bist du denn schon wieder da?«
»Weil Kollege Hefele gerade mit Herrn Zahn die Akten nach dem Vertrag durchforstet. Deshalb.«
»Aha, dann kannst du ja gleich wieder raufgehen und den Zahn nach diesem … was auch immer fragen. Den Weg kennst du jetzt ja, gell?«