23

Der Wind brauste mit Macht vor dem Eingang des Hangars, fegte hinein und verstummte, eingeschüchtert von dem riesigen Raum, zu einem Flüstern.

Aus dem aufkommenden Sturm rollten zwei Jeeps in den Hangar. Changs Männer, völlig mit Staub bedeckt, stiegen aus und legten etwas auf den Boden. Es war der bewusstlose ! Koga. An seinem Hinterkopf klebte eine Blutkruste – diese Verletzung hatte !Koga durch den Schlag erlitten, den Max auf dem Fernsehschirm gesehen hatte, als sie seinen Freund gejagt hatten. Blut sickerte aus ! Kogas rechtem Ohr.

Shaka Chang nickte einem seiner Männer in der Nähe zu, und der gab den Jägern flüsternd den Befehl, den Jungen zu Chang zu bringen.

Tom Gordon legte seinem Sohn eine Hand auf die Schulter, um ihn zurückzuhalten. Unbeherrschte Wut war eine Waffe, die sich auch gegen einen selbst richten konnte.

Der Freund lag auf dem Betonboden wie eine Leiche auf dem Seziertisch. Die Jäger traten respektvoll zurück, als Chang den Jungen mit einem Fuß anstieß. »Doktor!«, fauchte er.

Schernastyn, der wie Slye versucht hatte, sich aus Changs Blickfeld fernzuhalten, stöhnte auf und rückte sich unwillkürlich den Kragen zurecht.

»Schauen Sie sich ihn an. Ist er tot?«, sagte Chang. Dr. Schernastyn kniete nieder und untersuchte ! Koga.

»Er lebt, Mr Chang, aber ich glaube, er hat einen Schädelbruch erlitten. Wenn er nicht in ein Krankenhaus kommt, wird er das wohl kaum überleben.«

Max hielt das nicht mehr aus. Sein Freund lag nur wenige Meter entfernt von ihm halb tot am Boden und er konnte ihm nicht helfen.

»Sie dürfen ihn nicht sterben lassen!«, schrie er.

Shaka Chang würdigte ihn keines Blickes. In diesem Augenblick erschien Slye mit der gut verpackten DVD in der Hand. »Hier ist sie, Sir«, sagte Slye.

»Gut!« Chang strahlte. »Sehen wir sie uns an. Wenn es das ist, was wir erwarten, kann es vernichtet werden.« Er schritt zum Aufzug und sah zu Max, seinem Vater und !Koga zurück. »Und die da auch.«

Shaka Chang und Slye verschwanden. Schernastyn wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Bei Chang wanderte er auf einem sehr schmalen Grat.

»Können Sie nicht irgendwas tun?«, flehte Max ihn an. »Nein. Mir fehlen die nötigen Geräte.«

»Sie müssen doch irgendetwas tun können!«

»Ich kann nicht!«, zischte Schernastyn. »In wenigen Stunden ist er tot. Und überhaupt, warum sollte ich? Er bedeutet mir nichts.«

»Er ist mein Freund. Er ist ein Kind. Sie müssen ihm helfen! Sie sind Arzt!«

Schernastyn sah Max’ Vater an und grinste höhnisch. »Ich nutze mein Können für andere Zwecke.« Er wandte sich ab und gab dem bewaffneten Wächter einen Wink, aber Max rief ihm hinterher.

»Ich kann Shaka Chang immer noch erzählen, dass ich das Beweismaterial mit Ihrer Hilfe verschickt habe. Es wird ihm gar nicht gefallen, dass Sie ihn belogen haben. Hier muss doch irgendwo ein Krankenhaus sein!«

Schernastyn hatte sein Leben wieder in der Hand. Max konnte tun oder sagen, was er wollte, es konnte ihm nun nicht mehr schaden. »Das nächste Krankenhaus gehört zu einer Militärbasis, eine Tagesfahrt von ihr entfernt. Mr Chang wird kaum erlauben, dass der Junge dorthin gebracht wird. Im Übrigen hast du keine weitere Möglichkeit, mit Mr Chang zu sprechen, und in wenigen Minuten, wenn er die DVD gesehen hat, wird er dich erschießen. Es dauert nur noch ein paar Stunden, dann werden die Geier an deinen Knochen nagen. Was glaubst du, warum das Fort Skeleton Rock heißt?«

Schernastyn drehte sich um und ging.

Sofort lief Max zu seinem Freund. Sein Vater folgte ihm. Der bewaffnete Wächter blieb, wo er war; die beiden bedeuteten keine Gefahr mehr.

Max kniete sich nieder und berührte ! Kogas feuchtes Gesicht.

»Dad, was sollen wir tun?«

Sein Vater schob ! Kogas Augenlider hoch.

»Die Pupillen sind unterschiedlich groß, Max. Dieser Quacksalber hat Recht. Er hat einen Schädelbruch.«

Tom Gordon hob !Koga an den Schultern an und legte ihn Max auf die Brust. »Halt ihn so«, erklärte er. »Drück seinen Kopf an deinen Oberkörper. Achte darauf, dass die blutende Wunde immer oben bleibt.«

Während Tom Gordon den Puls an !Kogas Hals fühlte, flüsterte er: »Sag mal Max, gibt es noch irgendeinen anderen Weg ins Freie?«

Max wandte dem bewaffneten Wächter den Rücken zu und antwortete flüsternd: »Es gibt noch einen kleineren Hangar, aber darin befinden sich nur Motorräder und so was. Dad, wir dürfen ihn nicht sterben lassen!«

Sein Vater zeigte ihm kurz den Hummer-Zündschlüssel. »Ich weiß nicht, wie wir ihn da reinschaffen und fliehen sollen. Bis zum Ausgang ist es ziemlich weit; sobald wir den Motor anlassen, erwischen sie uns. Max, denk nach, gibt es hier etwas, womit du !Koga wegbringen kannst?«

Auf einmal wurde Max klar, worauf sein Vater eigentlich hinauswollte.

»Dad, wir gehen zusammen von hier weg. Ich lasse dich nicht allein. Niemals!«

Max spürte die warme Hand seines Vaters auf seiner Schulter. »Jede Sekunde, die wir noch leben, ist ein Geschenk des Himmels. Ich kann mich nicht schnell genug bewegen. Ich bin zu schwach. Falls dir nun doch noch ein Ausweg einfällt, wie du ihn hier herausschaffen und zu diesem Krankenhaus bringen kannst, dann tu es, denn sonst wird er sterben. Vielleicht stirbt er sogar schon vorher. Aber wir können nicht einfach hier sitzen bleiben und uns von diesen Leuten töten lassen. Dann war alles umsonst. Verstehst du?« Er sah seinen Sohn sehr ernst an. »Entscheide dich. Rette ihn, wenn du kannst.«

Max kämpfte gegen seine Tränen an. Schließlich nickte er. »Ich glaube, es gibt eine Möglichkeit. Es ist jedoch kaum zu schaffen. Ich muss ihn dazu durch diesen Gang in den anderen Hangar bringen.«

»Dann tun wir das.« Sein Vater hielt !Koga fest, sodass Max sich auf den wichtigsten Lauf seines Lebens vorbereiten konnte. »Der Junge hat schon einiges durchgemacht, aber das Risiko müssen wir auf uns nehmen. Kannst du ihn tragen? Allein?«

Max nickte.

»Okay. Dann pass eine günstige Gelegenheit ab.«

»Ich komme zurück und hole dich hier raus, Dad. Versprochen«, sagte Max mit grimmiger Entschlossenheit.

Sein Vater strich ihm zärtlich übers Gesicht, doch plötzlich verhärteten sich seine Züge. Es war genau wie damals auf dem Boot, als die Piraten angegriffen hatten. Als ob in seinem Vater noch jemand anders steckte. Hart und zäh und unnachgiebig.

Bevor der Wächter begriff, was geschah, hatte Tom Gordon !Koga hochgehoben und Max, der sich startbereit gemacht hatte, über die Schulter gelegt. Als der Wächter sein Sturmgewehr hob, erkannte Max mit Entsetzen, dass sein Vater den Mann niemals rechtzeitig erreichen konnte und gleich erschossen werden würde. So wie es aussah, unternahm sein Dad auch nur einen schwachen Versuch, sich auf den Wächter zu stürzen. Aber weder Max noch der Wächter hatten das Rollbrett bemerkt, das ein Monteur unter dem Hummer hatte stehen lassen. Tom Gordon setzte zu einem gewagten Sprung an, um so darauf zu landen, dass es dem Wächter gegen die Knöchel krachte. Und genau das geschah auch. Das Rollbrett schlug dem Wächter die Füße weg, er stürzte rückwärts zu Boden, und plötzlich war Tom Gordon neben ihm, entwand ihm seine AK-47 und zog sie ihm über den Schädel.

»Lauf, Max!«

Max löste sich aus seiner Erstarrung, schnappte nach Luft und rannte mit ! Koga auf der Schulter los. Der Freund mochte nur aus Haut und Knochen bestehen, aber leicht zu tragen war er dennoch nicht. Als Max den Durchgang erreichte, sah er noch einmal zurück. Sein Vater stand jetzt an der Werkbank und streckte die Hand nach der Strombuchse mit dem Stecker des Lampenkabels aus. Im selben Moment fingen die Männer an zu brüllen. Ihre Schatten an der Wand ließen sie als Riesen erscheinen, die zum Angriff übergingen.

Max’ Vater nickte seinem Sohn zu, und eine Sekunde später krachte eine ungeheure Explosion aus der Inspektionsgrube, in die Max die Benzinkanister gebracht hatte. Tom Gordon hatte wohl den Schalter gedrückt, sodass die blanken Kabelenden Funken geschlagen hatten. Um das Fahrzeug herum, das über der Grube stand, schlugen hohe Flammen empor, und dann explodierte es ebenfalls. Metall sprengte in alle Richtungen und der Hangar stand voller Rauch. Männer schrien. Es war ein einziges Chaos. Und Max’ Vater war verschwunden – verschlungen von Rauch und Flammen.

Max rannte, und durch das Adrenalin in seinen Adern fühlte es sich an, als würde ! Koga immer leichter werden.

Er kam in den zweiten Hangar, schlug auf den großen Einschaltknopf, und schon begann der riesige Ventilator an der Wand zu rotieren. Als er ! Koga vorsichtig in das Cockpit des Strandseglers legte, spürte er den kräftigen Luftzug in seinem Rücken. Er kletterte hinter ! Koga. Es war kaum noch Platz, und er musste sich den Oberkörper seines Freundes auf den Schoß legen. Dann streckte er die Beine aus, sah noch einmal nach, ob !Kogas Kopf auch wirklich mit der unverletzten Seite an seiner Brust lag, und packte die Seile, die am Segel befestigt waren.

Aus dem anderen Hangar hallten Schüsse herüber. Dicker schwarzer Rauch quoll aus dem Gang und verwirbelte wie die Turbulenzen hinter einem Jumbojet, als der Ventilator voll aufdrehte. Der Luftstrom erfasste das Segel, und dann schien es, als würde eine unsichtbare Riesenfaust den Strandsegler nach vorne schleudern.

Sie schossen durch Rauch ins Freie. Sofort peitschte ihnen der Sturm so viel Sand ins Gesicht, dass Max kaum die Augen aufhalten konnte, als er versuchte, das Segel in dem sich ständig drehenden Wind zu lenken und das Fahrzeug unter Kontrolle zu bekommen. Bald hatten die Seile ihm die Handflächen aufgescheuert, aber als er den Segler erst einmal auf Kurs gebracht hatte und der Wind ihm von hinten über die rechte Schulter blies, rollten die Räder reibungslos über den ausgedorrten Erdboden.

Er wagte einen Blick nach hinten. Viel Rauch, aber keine Flammen. Offenbar hatte Shaka Chang eine Löschanlage, die insbesondere in den Hangars, wo die Flugzeuge und Fahrzeuge standen, jedes Feuer sofort erstickte. Max hatte sich den Weg eingeprägt; er musste um das Fort herum und dann zurück in die Richtung, aus der er und !Koga gekommen waren. Zum Glück verhinderte der Rauch, dass er von Skeleton Rock aus gesehen werden konnte.

Sie ratterten dahin, getrieben vom Wind. Einmal verlor Max beinahe die Kontrolle über den Strandsegler, als eins der Laufräder vom Boden abhob, aber irgendwie schaffte er es, sein Gewicht so zu verlagern, dass es wieder aufsetzte. Die Staubwolke hinter ihnen wurde länger und länger, und sie wurden immer schneller. Die Tachonadel schwankte zwischen siebenundsiebzig und achtundachtzig Kilometer die Stunde und das straff gespannte Segel knatterte. Die Zugseile, mit denen Max das Fahrzeug durch die unermessliche Weite lenkte, vibrierten in seinen Fingern. Seine Gedanken kreisten fast so schnell wie die Räder. Er musste sich konzentrieren, denn überall lauerten breite Spalten in der durch die Dürre aufgebrochenen Erde, die ihn zu verschlingen drohten – ein einziger Fehler und der Segler würde zerschellen. Und sie beide wären tot.

Er klammerte sich an die Lenkseile. Der Wind machte die ganze Arbeit, und Max wusste, dass er bis jetzt Glück gehabt hatte, aber seine mangelnde Erfahrung konnte immer noch ihr beider Untergang bedeuten. Er trimmte das Segel, um die Fahrt etwas abzubremsen. Wenn er die Geschwindigkeit kontrollieren konnte, hätten er und !Koga bessere Chancen, das zu überleben. Wie heiß der Körper seines Freundes war – anscheinend nicht nur von dem engen Kontakt, sondern auch, weil er hohes Fieber hatte.

Der Segler wurde stark durchgerüttelt, da das Gelände rauer geworden war. Die starren Hinterräder sprangen über die Erdfurchen, folgten dem von Max gesteuerten Vorderrad, das sich auf dem unebenen Boden immer wieder quer zu stellen drohte. Er musste mehrmals vorsichtig nach links und rechts lenken, bis es wieder gleichmäßig lief.

Jetzt hatte er es raus. Wind und Segel arbeiteten harmonisch zusammen und beschleunigten ihn auf achtzig, fünfundachtzig, siebenundachtzig. Pfeilgerade schoss er dahin. Ihre Überlebenschancen besserten sich zusehends. Max hatte bereits dreißig oder vierzig Kilometer gespart, weil er die Abkürzung durch die Ebene genommen hatte. Als er und !Koga sich an die Festung herangeschlichen hatten, hatten sie einen weiten Umweg gemacht. Jetzt nahmen sie die Luftlinie, und dadurch waren sie so schnell wie die Geier. Trotzdem konnte noch immer etwas passieren, und dann würden die Aasfresser sie genussvoll verspeisen.

Sein gutes Gefühl verwandelte sich in Angst, als er plötzlich hinter sich ein windgefülltes Segel sah, das wie eine geballte Faust auf ihn zugeschossen kam. Es war ein zweiter Strandsegler. Und der Pilot kannte sich bestens damit aus. Er hielt sein schwarzes Geschoss so auf Kurs, dass er Max den Weg abschneiden musste. Und er hatte mindestens hundert Stundenkilometer drauf – bei diesem Tempo hatte er ihn in wenigen Minuten erreicht.

Max kämpfte mit den Seilen. Irgendetwas machte er falsch. Er geriet aus dem Wind, das Segel flatterte lahm, und nur mit Mühe bekam er es wieder richtig hin.

Der Jäger holte rasch auf.

Max wusste, dass er zu viel auf einmal versuchte. Er musste !Koga festhalten und hatte daher nur eine Hand frei, um den Segler zu steuern. Er beschloss, das Segel sich selbst zu überlassen und mit der rechten Hand zu lenken. Er würde so gut es ging mit dem Wind segeln und versuchen, seinen Verfolger auszumanövrieren.

Wieder änderte der Wind seine Richtung und verursachte einen halben Kilometer voraus einen kleinen Sandsturm. So ziellos er auch herumfuhr, wusste Max plötzlich, wo er war. In diesem ansteigenden Gelände hatten er und !Koga eine Pause eingelegt, bevor dann der Atem des Teufels Max verschlungen hatte – und sein Ziel lag hinter dieser Klippe. Dort war das Flugzeug versteckt. Und das war seine einzige Chance, ! Kogas Leben zu retten und per Funk Hilfe zu holen.

Seine Gedanken überschlugen sich. Max dachte an seinen Vater, die Explosion, die Flammen, an diesen letzten Blick, die gemeinsamen Momente in der Gefahr, die Freundschaft und Liebe seines Vaters. Tief im Innersten wusste er, dass es an der Liebe seines Vaters nichts zu deuteln gab, egal wie schroff und hart er sich manchmal gab. Noch nie hatte er sich ihm so nahe gefühlt wie in diesen letzten gemeinsamen Augenblicken. Aber sein Verstand schrie ihn an: Denk nicht daran! Konzentrier dich! Du hast nur eine einzige Chance! Wenn du die vermasselst, seid ihr tot! Konzentrier dich!

Als er kurz nach hinten blickte, sah er nur eine himmelhohe Sandwolke, die ihn verfolgte. Wenn die ihn einholte, würde er blind steuern müssen und seinen Orientierungssinn verlieren. Das Gewitter in den Bergen wurde stärker. Der Regen war noch zu weit entfernt, um eine nennenswerte Wirkung zu entfalten, doch sein Verfolger musste jetzt da mitten drinstecken. Dennoch bewegte er sich schnell vorwärts.

Bald hatte ihn der Verfolger eingeholt und überholte Max links mit rasender Geschwindigkeit, keine dreißig Meter von ihm entfernt. Schwenkte der Segler ab, oder würde der Sandwirbel in seine Bahn geraten und ihn ersticken?

Er hatte gar keine Zeit, über seine Möglichkeiten nachzudenken.

Der schwarze Verfolger schoss aus der Sandwolke, nur Kopf und Schulter des Fahrers waren über der Karosserie zu sehen. Er trug einen geschlossenen Helm, der sein Gesicht vor der grellen Sonne und vor dem nadelspitzen, alles durchdringenden Sand schützte.

Dann warf der Verfolger wie ein antiker Wagenlenker den Strandsegler seitlich herum und jagte auf die beiden Jungen zu. Max musste Kurs halten; vor ihm tauchten einzelne Felsblöcke auf. Hatte der andere die auch bemerkt? Sollte Max an den Felsen zerschmettern?

Max fuhr stur geradeaus.

Der Jäger kam näher. Zehn Meter, sechs, drei, zwei.

Jetzt waren sie Seite an Seite. Der Mann streckte einen Arm in Max’ Richtung. In der Hand hatte er etwas Schwarzes. Eine Automatikpistole. Doch bevor Max reagieren konnte, machte der Segler neben ihm einen kleinen Satz. Bei dem Tempo musste man mit beiden Händen steuern, um nicht die Kontrolle zu verlieren.

Max riskierte noch einen Blick. Der andere sah nicht mal zu ihm rüber. Er konzentrierte sich auf die Felsen. Und dann wusste Max, warum. Felsbrocken lagen in dem zerklüfteten Gelände nicht nur auf Max’ Seite herum. Der andere hatte das gleiche Problem. Und jetzt jagten beide auf eine schmale Lücke zu. Und nur einer konnte da durchkommen.

Max’ Verfolger sah scheinbar nervös zu Max herüber, zog einmal kurz an seinem Segel und brauste an ihm vorbei. Er hatte das Manöver so geschickt ausgeführt, dass Max nur noch seinen Staub schlucken konnte.

Und schon schossen die beiden Strandsegler dicht hintereinander durch die Lücke zwischen den Felsen. Der andere hatte instinktiv richtig reagiert und dafür gesorgt, dass er als Erster durchkam; vielleicht hatte er gehofft, Max werde, vom Staub geblendet, einfach an die Felsen krachen. Aber das war ein großer Denkfehler. Als Max durch die Lücke jagte, lenkte er den Segler nach Steuerbord, und damit nahm er dem anderen sprichwörtlich den Wind aus dem Segel.

Während Max weiterfuhr, sah er das Segel seines Angreifers plötzlich schlaff werden. Ganz damit beschäftigt, den Segler herumzureißen und wieder in den Wind zu bringen, hatte der Mann nun auch noch das Pech, dass ihn beim Wenden der Sandsturm voll von vorne erwischte. Max sah den Mast kippen und die Räder abheben. Das reichte aus: Der Segler überschlug sich.

Selbst wenn der andere seinen Segler wieder aufrichten konnte, hatte Max jetzt erst einmal wertvolle Zeit gewonnen. »Halt durch, ! Koga, wir werden es schaffen«, schrie er, obwohl er wusste, dass der bewusstlose Junge ihn nicht hören konnte.

Plötzlich kam ihm ein schlimmer Gedanke. Falls das Beweismaterial gar nicht bei seinem Freund Sayid angekommen war, war Max womöglich der einzige Lebende, der von Shaka Changs Plan wusste.

Und dann war dieser schwarze Strandsegler bestimmt nicht der letzte Versuch, den Shaka Chang unternehmen würde, um ihn aufzuhalten. Irgendwo da draußen in dem wilden Sturm suchten wahrscheinlich auch noch andere nach ihm.

Fantasie ist etwas Gefährliches, wenn man Angst hat. Man sollte sich nur mit dem beschäftigen, was man sicher weiß, und sich auch auf das Unerwartete einstellen, aber niemals darf man sich von seiner Angst blockieren lassen. Das musste er sich immer wieder sagen.

Max drückte ! Koga fester an sich und steuerte auf das Flugzeug seines Vaters zu. Er wusste, was er dort zu tun hatte, und das machte ihm schließlich schon Angst genug.

 

Der Anblick der Bäume gab Max etwas Mut zurück. Zwei Kilometer zuvor hatte er den Strandsegler liegen lassen müssen, als Strauchwerk und Gras das Gelände unbefahrbar machten. Er hatte vorsichtig den Wind aus dem Segel genommen und langsam gebremst, damit sie sich nicht überschlugen.

Behutsam hob er !Koga heraus und trug ihn, musste aber immer wieder stehen bleiben und Luft holen. Der Wind wurde stärker und schob ihn beharrlich von hinten an – das Gewitter kam näher und ließ den aufgestauten Regen bald niederprasseln. Wenn das geschah, bevor er das Flugzeug erreicht hatte, wurde der Boden so weich, dass die Reifen stecken blieben. Sein Herz schlug laut – nicht wegen der Anstrengung, sondern im Vorgefühl dessen, was er zu tun hatte. Er musste diesen Flug wagen.

Max versuchte sich ins Gedächtnis zurückzurufen, was Kallie getan hatte, als er mit ihr geflogen war, was sie ihm erklärt hatte – aber er bekam kein vollständiges Bild zustande. Bruchstücke von Erinnerungen, die nichts Ganzes ergaben.

Auf einmal hatte er das Flugzeug erreicht.

Max zog das Tarnnetz zur Seite, stieg in die Cessna, drehte sich um und machte sich daran, !Koga an Bord zu holen. Da er auf die Verletzung des Jungen zu achten hatte, brauchte er dafür länger als angenommen, aber er durfte jetzt nichts überstürzen.

Nachdem er ! Koga sicher angeschnallt hatte, kletterte Max auf den Pilotensitz. Als er das letzte Mal dort gesessen hatte, hatte er sich auf die Lücke zwischen den Bäumen konzentriert und war in gewandelter Gestalt hoch in die Luft aufgestiegen, sodass er die Landschaft überblicken und den Weg zum Atem des Teufels sehen konnte. Jetzt war es anders. Jetzt ruhten Max’ Hände auf den Kontrollhebeln, und er konnte kaum einen vernünftigen Gedanken fassen.

Vor ihm war alles frei. Tarnnetz und Zweige hatte er aus dem Weg geräumt. Er musste das Flugzeug starten, geradeaus rollen und dann auf das flache Gras lenken. Seine Augen wanderten über die Instrumente. Er trieb sich wütend an. Mach schon, tu den ersten Schritt, dann passiert etwas, und dann kommt der nächste Schritt, und so weiter. Du kannst das! Das geht. Fang einfach an!

Er zeigte auf ein Messinstrument und sprach leise mit sich selbst. »Das ist die Tank anzeige.«

»Dieses Teil zeigt die Fluggeschwindigkeit an.«

»Und der Rest? Höhenmesser, Licht, Hauptschalter, Zündung und Magnetzünder! Genau! Okay, verstanden!«

Die Erinnerung kam zurück. Er klappte die Sonnenblende herunter, und der Schlüssel mit dem abgewetzten Anhänger fiel ihm in den Schoß. Er steckte ihn ins Zündschloss. Eigentlich musste er jetzt einiges durchchecken. Kallie hatte ihr Flugzeug in Windhoek gründlich von außen inspiziert. Aber das brauchte Zeit, und die war kostbar; er hatte praktisch keine mehr. Ein Schild im Cockpit ermahnte ihn, sich zu vergewissern, dass kein Wasser in den Tank eingedrungen war – auch dieses Risiko musste er auf sich nehmen. Er hatte nur diese eine Chance. Den Rest musste er den Göttern überlassen. Er sah einen Kippschalter zum Vorpumpen des Motors. Logisch. Einen Rasenmäher musste man auch erst vorpumpen, bevor man ihn anwarf. Wie lange? Ein paar Sekunden, fünf, zehn? Die goldene Mitte. Fünf sollten reichen.

Tankwahlschalter. Er schob den kleinen Hebel auf Beide. Kallie war eine großartige Pilotin, und sie hatte ihn vor Fehlern gewarnt. Was hatte sie gesagt? Es schien ewig her, seit er sie gesehen hatte. Er spulte den Film noch einmal vor seinen Augen ab. Wie sie sich kennengelernt hatten, wie sympathisch sie ihm sofort gewesen war – nein, das doch nicht. Was dann? Der Flug. Start in Windhoek. Das alte Flugzeug. Dieser hilfreiche Spruch … Wie ging dieser Spruch?

Er rief sich das Innere ihres Flugzeugs ins Gedächtnis. Die Instrumente. Das kleine Schild. Er macht sich Sorgen. Er hat mir das Fliegen beigebracht. Das hatte sie über ihren Dad gesagt. Und dann war da noch die zerfledderte laminierte Postkarte an der Instrumententafel. Sie hatte nicht gewusst, wie man so einen Spruch nennt. Eselsbrücke, hatte er ihr erklärt. Genau, hatte Kallie erwidert.

Jetzt sah er es fast vor sich. Die Worte waren da, rückten vor seinem inneren Auge zusammen. Fliegen Hat Sehr Zahlreiche Tücken und Klippen, Luft Ist Gefährlich. Genau so war das. Seine Gedanken wirbelten in gespannter Erwartung, während seine Finger sich wie von selbst in Bewegung setzten.

Funkgerät anstellen.

Fahrwerk und Höhenrudertrimmung kontrollieren. Seitenruder und Schubregler auf Start – erledigt. Zündmagneten an.

Tankwahlschalter auf Beide – schon gemacht.

Kraftstoffgemisch, Klappen. Irgendwas mit Klappen. Nein, sie hatte gesagt, die braucht man nicht, wenn die Startbahn lang genug ist. Wie lang ist lang genug?

Und was noch?

Wofür die anderen Buchstaben L, I und G standen, wusste er nicht mehr, aber er hatte getan, was seine Erinnerung ihm eingeflüstert hatte, und alles schien zu funktionieren. Der Motor hustete und stotterte, aber plötzlich sprang der Propeller an, und als er die Feststellbremse löste, begann das Flugzeug zu rollen. Max stieß einen Triumphschrei aus. Er drückte den Gashebel langsam nach vorn, der Propeller dröhnte lauter, und sie fuhren aus der Deckung.

Das alles verlangte seine ganze Aufmerksamkeit. Der Flugsimulator auf dem Schulcomputer war eine Sache, aber das hier war eine ganz andere. Er war viel zu schnell, so als ob er beim Autofahren das Gaspedal bis zum Boden durchdrücken würde. Er versuchte zu bremsen und bewegte die Steuerhebel, denn er fuhr in die falsche Richtung. Beim Starten sollte der Wind von vorne kommen.

Seitenruder, Steuerung, dann langsam Gas wegnehmen. Das Flugzeug wendete.

Die Bremsen waren schwer zu bedienen; sie saßen unmittelbar über den Seitenruderpedalen und zogen dauernd zur Seite. Er hob den Fuß ein wenig an, fand die richtige Position und brachte das Flugzeug zum Stehen. Jetzt stand es genau im Gegenwind. Max spürte, wie es die Flügel zu heben versuchte – genau das, was er wollte –, aber der bleigraue Himmel, den er durch das Schwirren des Propellers hindurch vor sich sah, gefiel ihm gar nicht. Die ganze Landschaft darunter war grau, die Wolken schoben sich bedrohlich zusammen, das Gewitter konnte jeden Moment losbrechen. Max musste starten, und zwar schnell, aber wenn er einmal in der Luft war, würde er niemals den Kurs halten können. Die Turbulenzen würden ihn herumschleudern und zerschmettern.

Er zögerte. Mit dem Starten des Motors war auch das Funkgerät zum Leben erwacht. Die Batterien luden sich auf, er könnte jetzt Hilfe anfordern; er könnte einfach so lange seinen Hilferuf durchgeben, bis jemand ihn hörte, und dann würden sie kommen und sie beide retten. Vielleicht.

Die Entscheidung wurde ihm abgenommen.

Derselbe Pick-up, mit dem ! Koga gejagt worden war, kam auf ihn zugerast, genau von dort, wo er den Strandsegler verlassen hatte. Auf der Ladefläche saßen Männer, die von der holprigen Fahrt so herumgeworfen wurden, dass sie nicht auf ihn schießen konnten, auch wenn sie ihn schon längst entdeckt hatten.

Max überflog die Anzeigen und Regler. Was fehlte noch? Hatte er irgendetwas vergessen? Es war zu spät, sich jetzt deswegen Sorgen zu machen. Er löste die Bremse, gab Gas, und das Flugzeug machte einen Satz nach vorn. Es scherte aus und geriet ins Schlingern, wofür das Kreiselmoment des Propellers verantwortlich war, aber davon wusste Max natürlich nichts. Er tippte instinktiv mit dem Fuß auf die linke Bremse, was seinen Kurs ein wenig begradigte. Das Flugzeug schwankte immer noch hin und her, und das über den unebenen Boden springende Heckrad machte die Sache auch nicht besser. Da Max nicht wusste, was er tun sollte, fuhr er einfach weiter, und als die Luftströmung um die Tragflächen allmählich stabiler wurde, rollte er schon gleichmäßiger dahin.

Schneller werden und mit den Seitenruderpedalen die Richtung halten, geradewegs auf den schwarzen Himmel am Horizont zu, dachte Max. Noch schneller: fünfzig Knoten, viel zu wenig. Er schob den Gashebel bis ganz nach vorne durch: sechzig, siebzig. Die Steuerhebel vibrierten in seinen Händen, so heftig ratterte er jetzt über den unebenen Boden; das Ende der Grasfläche rückte immer näher – er musste hoch. Achtzig.

Max zog die Regler langsam zurück, und das Flugzeug hob die Nase. Wenn er zu steil aufstieg, würde er abschmieren – also immer ganz ruhig, keine hastigen Bewegungen mit einem Flugzeug. Lass es steigen, es tut das von ganz allein. Etwas prasselte auf den Rumpf, plötzlich waren in der linken Tragfläche drei Löcher – und das war bestimmt kein Hagel.

Los! Los! Abheben! Der Pick-up hatte ihn fast eingeholt. Er sah die wutverzerrten Gesichter der Männer. Das Flugzeug schwang sich in die Höhe.

Der Wind half kräftig mit beim Start, und schon bald stand die Nadel des Höhenmessers auf dreihundert Fuß. Max schob den Gashebel vor, bis der Fahrtmesser hundertzwanzig Knoten anzeigte. Er lenkte das Flugzeug in eine weitgezogene Kurve und achtete darauf, dass die Propellerspitze ein kleines bisschen über dem Horizont stand – er wusste, das war die ideale Fluglage. Jetzt hatte er das Gewitter im Rücken und konnte endlich Hilfe rufen.

Starten war halbwegs einfach. Landen war das viel größere Problem.