9

Nachts war es kalt in der Höhle. Max lag wach, starrte in die Dunkelheit und dachte darüber nach, dass sein Vater hier gewesen war und eine Botschaft für ihn hinterlassen hatte. Die quälende Ungewissheit über die Bedeutung dieser Nachricht zehrte an seinen Kräften bis er schließlich irgendwann erschöpft einschlief.

!Koga rüttelte ihn wach. Während Max sich noch den Schlaf aus den Augen rieb, bedeutete ihm der junge Buschmann, zum Eingang der Höhle zu kommen. ! Koga zeigte zum Himmel und lächelte zufrieden. » ! Ko-gnuing-tara – das Herz des Morgengrauens«, sagte er.

Tief über dem Horizont stand ein großer Lichtball. Max hatte diesen Stern schon früher einmal gesehen. Nur wo? Jetzt fiel es ihm wieder ein! Als sie vor vielen Jahren in Ägypten gewesen waren, hatte sein Vater ihn einmal sehr zeitig geweckt, hatte ihn in eine Decke gewickelt und war mit ihm in die kalte Wüste hinausgefahren. »Siehst du dieses Licht? Das ist die Venus«, hatte ihm sein Vater erklärt. Max begriff plötzlich, was die Zeichnung in der Höhle bedeutete. Es war der Morgenstern, der Planet Venus, auch das Herz des Morgengrauens genannt. Max sollte nach Osten gehen. Er lächelte. Das Morgengrauen hatte seine Zweifel fortgeblasen, wie der Sturm die dunklen Wolken.

Gestärkt rannte Max der aufgehenden Sonne entgegen. Wie Speere glitten die Lichtstrahlen zwischen den gezackten Berggipfeln hindurch. Mit seinen langen Beinen konnte er bequem mit !Koga mithalten, dessen Füße beim Laufen kaum den Boden zu berühren schienen. Das Gras wuchs nur spärlich, kaum knöchelhoch, doch der bewachsene Boden federte angenehm beim Laufen. Sie waren den Abhang, der von der Höhle hinabführte, hinuntergeklettert und hatten sich mühevoll zu der gegenüberliegenden Bergseite durchgeschlagen, aus deren grasbewachsenen Hängen massive, von den Elementen geformte Felsblöcke aufragten.

Die Paviane hatten während des Sturms Schutz zwischen den Felsen gesucht, deshalb verlangsamte ! Koga das Tempo, als sie näher kamen. Es war nicht ratsam, in eine Paviankolonie zu geraten, die gerade beim Frühstück war. Mit ihren rasiermesserscharfen Eckzähnen konnten diese Affen tödliche Wunden schlagen.

!Koga blieb stehen, als Max zu ihm aufgeschlossen hatte. Sie waren auf halber Höhe des Berges angelangt, etwa tausend Meter unterhalb des Gipfels, dessen spitze, zerklüftete Felsen eine Überquerung unmöglich machten. Sie befanden sich inzwischen auf einer Art Terrasse, die rings um den Berg führte. Wenn sie der Ebene folgten, konnten sie so den Bergkamm umgehen. Allerdings mussten sie dafür das Territorium der Paviane durchqueren.

Ein Durchgang zwischen zwei Felsblöcken führte sie zu einer Senke, die am Hang lag und zu einer Seite hin offen war. Es sah aus wie ein kleines, natürliches Amphitheater aus Grasland und Bäumen, das Schutz bot vor schweren Stürmen und zugleich ein Sammelbecken für Niederschläge war. Max und !Koga standen schweigend da. Um auf die andere Seite zu gelangen, mussten sie sich durch eine Horde von Hunderten von fressenden und sich lausenden Pavianen wagen. Noch waren die Jungen unentdeckt.

»Geh langsam und sei vorsichtig!«, sagte ! Koga.

»Darauf kannst du wetten«, antwortete Max nervös.

Überall saßen die Paviane in Familiengruppen, und an einigen Stellen standen ausgewachsene Männchen, die ihre Weibchen und die Nachkommen bewachten.

»Die großen Paviane …« ! Koga wies mit dem Kinn auf sie. »Sind das die Männchen?«, fragte Max.

»Ja. Wenn die auf dich zulaufen oder dich angreifen … dann bleibst du einfach ganz ruhig stehen. Die wollen sehen, ob du eine Gefahr bist. Okay?«

»Ja klar. Und wenn ich schon dabei bin, biete ich ihnen eine Tasse Tee an.«

!Koga wirkte durch die sarkastische Bemerkung verunsichert, deshalb sagte Max beruhigend: »Ich mach die Augen zu und denke an zu Hause. Ich rühr mich nicht von der Stelle.«

Von irgendwoher ertönte ein tiefes, kehliges Geräusch, wie Hundegebell, also hatte einer der Wächterpaviane Alarm geschlagen. Eine Welle der Angst erfasste die Gruppe, Jungtiere rannten zu ihren Müttern, doch es waren nicht die beiden Jungen, die sie erschreckt hatten. Die Paviane duckten sich und blickten himmelwärts. Ein Schatten zog über sie hinweg. Max suchte den Himmel ab. Ein angriffslustiger Adler hatte sich von einer hohen Felsklippe abgestoßen und nutzte den Aufwind. Die warme Morgenluft trug ihn leicht über die Affen hinweg, und er war noch zu weit entfernt, als dass er sich herabstürzen und ein schwaches Jungtier angreifen konnte. ! Koga zog Max am Arm. Dies war ein günstiger Moment, um die Pavianherde zu durchqueren – die Tiere waren abgelenkt. Ein paar Minuten später drehte der mächtige Adler, der abwechselnd seine braunschwarzen Federn und seine getüpfelte weiße Brust zeigte, ab und flog davon. Vielleicht hatte er weiter unten im Tal leichtere Beute entdeckt. Er war sicher groß genug, eine kleine Antilope zu schlagen, und ein Pavianjunges hätte für den geflügelten Jäger auch kein Problem dargestellt. Adler töteten ihr Opfer in Sekunden, indem sie ihre Klauen in die Schädelknochen bohrten und tief in den Hirnstamm hineinhackten. Dann trugen sie die Beute in den Horst, rupften die Eingeweide heraus und zerlegten den Kadaver. Offenbar wussten die Paviane, zu wem der Schatten gehörte.

Der Raubvogel war nicht mehr zu sehen, und Max und !Koga befanden sich nun mitten in der Herde. Eins der Männchen stand auf den Hinterbeinen und beobachtete sie aus einiger Entfernung, während die anderen sich wieder der Fellpflege zuwandten und sich die Jungtiere kreischend weiterbalgten. Riesige scharfkantige Steine blockierten ! Koga und Max den Weg. Die Paviane stoben auf, als sie sich näherten. Einige der Felsbrocken waren ausgehöhlt, durch die Jahrhunderte verwittert, und sahen jetzt aus wie die Trinktröge aus Granit, die Max aus Devon kannte. Eine ferne Erinnerung. Devon: das idyllische Devon, dessen gewundene Pfade den Reisenden über sanfte Hügel führten, zu Feldern, auf denen man höchstens eine Schleiereule zu sehen bekam, die nach Feldmäusen Ausschau hielt. Max riss sich von diesen Gedanken los und kehrte in die Gegenwart zurück. Die Paviane hatten ihre Beschäftigungen unterbrochen und beobachteten jetzt jede Bewegung der Jungen.

!Koga kniete an einem der Wasserlöcher. Er tauchte eine Hand ins Wasser und nahm einen Schluck. »Es ist Regenwasser. Schmeckt gut. «

Vorsichtig näherte sich Max einer anderen Tränke. Würden die Paviane ihren unschätzbaren Reichtum verteidigen oder würden sie ihnen etwas davon abgeben? Er zog sich seinen Hut vom Kopf und betrachtete sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche. Der Max, der ihm entgegensah, hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mehr mit dem Jungen, der erst vor ein paar Tagen zu seiner Reise aufgebrochen war. Sein helles Haar war verklebt und schmutzig – wer brauchte Haargel, wenn Staub und Hitze denselben Effekt erzeugten, und das sogar umsonst? Er hatte sich verändert, war schmaler, fast mager geworden, und der verkrustete Dreck ließ ihn älter aussehen. Seine Augen waren rot gerändert von der gleißenden Sonne, und die Tränen vom Vorabend hatten ein paar helle Spuren auf seinem Gesicht hinterlassen. Unter dem Schmutz starrte ihn ein gebräuntes, wettergegerbtes Gesicht an. Er sah aus wie ein Wilder. Und vielleicht war er jetzt auch einer.

Er verbot sich, weiter nachzudenken, tauchte die Hände ins kühle Wasser und trank durstig. Dann steckte er seinen Kopf hinein, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und wusch sich das Gesicht. Als er sich erhob, erschreckte seine hastige Bewegung einen Pavian, der schnatternd davonrannte. Vielleicht war Max als staubiges Wesen aus dem Busch annehmbarer gewesen. Sein Durst war gestillt, und er hatte den Pavianen wohl kaum etwas weggenommen, denn von anderen Felsen lief ebenfalls Wasser, das die Tiere trinken konnten. Ein Jungtier, das wie in einer Badewanne in einem ausgehöhlten Stein lag, sah ihn an, fuhr sich dann mit der Hand über den Kopf, sodass sein Fell einem Irokesenschnitt ähnelte. Max zog sein Fernglas unter dem Hemd hervor, damit es nicht gegen den Fels schlug, wenn er sich nach vorne beugte, legte es neben sich auf seinen Hut und tauchte seinen Kopf abermals unter. Welch ein Luxus!

Er würde Wasser niemals wieder für selbstverständlich halten. Es war erschreckend, wenn er daran dachte, wie viel er von dieser kostbaren Flüssigkeit zu Hause verschwendete. Max hob den Blick. Die Paviane lenkten ihn für eine Weile ab. Max spürte, dass sie in seiner Gegenwart vorsichtig waren, obwohl sie sich offenbar nicht bedroht fühlten. !Kogas glänzendes, tropfendes Gesicht tauchte aus einem anderen Wasserloch auf.

»Max«, sagte er leise.

Als Max !Kogas Blick folgte, sah er, dass der junge Pavian mit der Punkfrisur seinen Hut und sein Fernglas gestohlen hatte. Langsam streckte Max den Arm danach aus, doch der Pavian machte einen Satz nach hinten und flüchtete in die Arme eines anderen Tiers. Die beiden hielten sich aneinander fest und äugten vorsichtig zu ihm herüber.

Max brauchte das Fernglas. Vorsichtig machte er ein paar Schritte auf die Jungtiere zu. Ein warnender Schrei ließ ihn innehalten. Er drehte sich um. Ein großes, schweres Männchen, dessen muskulöse Schultern sehr beeindruckend waren, kam auf ihn zugelaufen. Durch seine wilde Mähne sah es noch gigantischer und bedrohlicher aus. Das Tier war etwa einen Meter groß und fletschte sein hundeartiges Gebiss, als es einen erneuten Warnlaut ausstieß. Max rührte sich nicht. Er spürte, wie sich die Spannung unter den Tieren ringsum ausbreitete. Der Pavian entblößte seine Fangzähne. Max sah, wie !Koga langsam einen Pfeil in seinen Bogen einlegte.

»Töte ihn nicht, ! Koga. Der beruhigt sich wieder.«

»Vielleicht«, erwiderte ! Koga. »Vielleicht auch nicht. Er ist der Anführer. Wenn er angreift, kommen ihm alle anderen zu Hilfe.«

Max schaute sich um. ! Koga hatte Recht. Das schrille Kreischen hatte andere Männchen alarmiert. Sobald der Anführer den Warnschrei ausgestoßen hatte, gebot die strenge Hierarchie den älteren Jungtieren, sofort zu ihm zu kommen. Sonst wurden diese Jungtiere als Späher für die Herde eingesetzt. Die anderen Männchen blieben bei ihren Familien, waren aber ebenfalls in erhöhter Alarmbereitschaft.

»Wir schleichen uns langsam weg …«, sagte Max.

Ab und zu hatte Max in der Schule mit Schlägern zu tun, gegen die man sich zur Wehr setzen musste. Manche Typen mussten ihre Überlegenheit beweisen, indem sie Schwächere verprügelten. Obwohl Max Gewalt eigentlich vollkommen verabscheute, war er auf diese Weise schon in einige Schlägereien verwickelt worden. Da waren zum Beispiel Baskins und Hoggart aus der Oberstufe, die manchmal total ausflippten, und ohne ein paar Schrammen kam man selten davon. Doch dieser Pavian mit seinen rasiermesserscharfen Zähnen spielte in einer anderen Liga als Baskins und Hoggart. Der Affenanführer wäre wohl eher ein schwer bewaffnetes, aggressives Gettokid. Falls man keine Waffe zur Verteidigung hatte, war es keine Schande, sich durch einen schnellen Sprint in Sicherheit zu bringen. Nur dass Max diesem Angreifer nicht davonlaufen konnte. Er zuckte zusammen, als der Pavian abermals bedrohliche Geräusche von sich gab und zähnebleckend immer näher kam. Er war jetzt etwa vier Meter von Max entfernt, der mit dem Rücken zu den Felsen stand. Die anderen Paviane rückten ebenfalls auf ihn zu, ihre Schreie klangen wie die von aufgebrachten Fußballfans.

»Das nächste Mal greift er an!«, rief ! Koga und lenkte damit die Aufmerksamkeit der anderen Männchen auf sich. Die Felsblöcke boten zwar Schutz, aber nicht lange, wenn die Affen zum Angriff übergingen. Ein Kampf schien unausweichlich – die Frage war nur, ob er früher oder später stattfand.

»Wir müssen versuchen, aus dem Territorium der Horde zu kommen, !Koga. Wir gehen erst langsam, dann rennen wir. Okay?«

!Koga sah den selbstsicheren Jungen an, der dem aufgeregten, aggressiven Männchen die Stirn bot ohne mit der Wimper zu zucken.

»Wir rennen wie die Teufel, sobald wir da drüben bei den Felsen sind. Bist du bereit?«

!Koga nickte und schob sich etwas näher an Max heran, behielt dabei die jungen Männchen jedoch fest im Blick. Diese würden ihrem Anführer zur Seite springen, sobald er angriff. Gleichzeitig wichen die Jungen zentimeterweise zurück. Plötzlich preschte ein junges Männchen vor, um sie anzugreifen. Das wütende Geschrei des Anführers der Herde konnte das Jungtier nicht aufhalten. Jetzt stand es vor Max. Der roch dessen stinkenden Atem und sah die Spuckefäden, die aus seinem Maul hingen. Es war ein Augenblick, den er nie vergessen würde. Als er sein Jagdmesser umklammerte, begriff Max, dass er, falls nötig, um sein Leben kämpfen würde.

Gemeinsam entfernten sich die Jungen in kleinen Rückwärtsschritten von den Pavianen. Die Armee der Affen war weiterhin um sie geschart. Bis zu den Felsen waren es noch über hundert Meter, aber immerhin konnten sie einen Teil der Strecke rennen. Bei den Steinen wären die Affen gezwungen, sich in Gruppen zu teilen, und vielleicht schafften sie es, die flachere, weite Ebene hinter dem Bergkamm zu erreichen.

Noch achtzig Meter: Die Weibchen und die jüngeren Männchen kreischten. Sie spürten die Gefahr, wussten aber nicht, woher sie kam … Siebzig Meter: Max und ! Koga schauten hinter sich. Der Boden war uneben. Wenn sie nicht stürzten, konnten sie die schützenden Felsen vielleicht noch vor dem Angriff erreichen. Sollten sie es riskieren und sich jetzt umdrehen und losrennen? Fünfzig Meter: Die Jungtiere bewegten sich angriffslustig auf die beiden zu, ein weiteres großes Männchen bezog eine Flankenposition. Die Paviane waren gut organisiert, und der Kampf würde von den erfahrenen Männchen angeführt werden. Dreißig Meter: Die Affen waren jetzt fast an sie herangekommen, und die Felsen waren noch immer zu weit weg. Max sah zu ! Koga hinüber. Der Junge schüttelte den Kopf. Sie würden es wohl doch nicht schaffen.

»Mach dich bereit, ! Koga, jetzt müssen wir! «

Max glaubte, die erwartungsvolle Anspannung in den Mienen der Paviane zu lesen, und er merkte, dass seine Nerven blank lagen. Doch da zog ein Schatten über sie alle hinweg.

Das Geschrei wurde schrill. Die befehlende Stimme des Leitmännchens war lauter als die aller anderen, und die Paviane waren nicht mehr zu halten. Sie stoben auf Max und ! Koga zu, die im ersten Moment wie erstarrt waren. Bruchstückhafte Erinnerungen an seine Eltern jagten Max durch den Kopf. !Koga senkte den Speer. Der Kampf um Tod oder Leben hatte begonnen. Max holte tief Luft. Er war bereit!

Doch die Horde fegte an ihnen vorüber, warf sie um. Die Jungtiere übernahmen jetzt die Führung, preschten vorwärts, brachten die große Gruppe in Sicherheit, heraus aus der Gefahrenzone.

Das war ihre Chance!

Max und ! Koga reagierten instinktiv und rannten, umgeben von hysterischen Pavianen. Inmitten der absolut panischen Herde drohte ihnen keine Gefahr. Ein schwarzer Schatten fiel über sie, aber diesmal war es kein jagender Adler. Er gehörte einem viel gefährlicheren Wesen.

Fünfhundert Meter über den verängstigten Pavianen ließ sich der stille Raubvogel von der Thermik weiter in die Höhe treiben. Auf riesigen, federlosen Flügeln bewegte sich der skelettartige Körper wie ein vorgeschichtlicher Pterodaktylos am blauen Himmel. In dem Plexiglas-Cockpit des Gleiters saß Shaka Chang. Das Fluggerät hatte ein Auge, das in alle Richtungen schauen konnte. Der Fliegeranzug schmiegte sich an seinen muskulösen Körper. Jeden Tag unternahm er diesen Kontrollflug. Slye hatte versucht, Kontakt zu den Männern aufzunehmen, die er zur Ermordung der Jungen ausgeschickt hatte, doch ihr Funkgerät gab nur ein dumpfes Knurren von sich. Es klang, als würde es über den Boden geschleift werden. Offenbar ließ ein Löwe es wie ein Spielzeug über die Erde kullern, und Slyes Rufe verhallten ungehört. Chang war das Schicksal der Männer gleichgültig. Er war losgeflogen, um die Gegend zu erkunden, in der der Junge, der mutmaßliche Feind, auftauchen konnte. Vielleicht hatte er hier auch den Tod gefunden. Chang wusste gern so viel wie möglich über diejenigen, die beabsichtigten, seine Pläne zu durchkreuzen, und traute letztlich nur seinen eigenen Augen. Er spähte hinunter zu der fliehenden Pavianhorde und glaubte einen Moment lang, eine menschliche Gestalt wahrzunehmen. Doch die warme Luft trug ihn nach oben und nahm ihm die klare Sicht. Er legte den Segler auf die Seite und flog so tief wie möglich über den breiten Berghang hinweg, immer dem Schatten seiner Maschine hinterher. Die Paviane erklommen ein paar Felsen, um sich in Sicherheit zu bringen. Chang drehte mal links und mal rechts bei, suchte nach der Gestalt, die er gesehen hatte. Nichts. Nur Affen, panisch vor Angst. Die meisten Vertreter der menschlichen Rasse waren nicht anders. Sie begnügten sich damit, die kurze Spanne ihres Lebens wie Herdentiere in geistlosem Gehorsam zu durchmessen.

Noch einmal nutzte Chang den Aufwind, spürte, wie die Natur ihn mit Macht in die Höhe trug, über den Bergkamm hinaus. Er beherrschte die Naturgewalten.

Am weit entfernten Horizont scharte Kumulonimbus, der König der Wolken, sein sturmbewehrtes Heer um sich. Sogar Chang hatte Respekt vor ihm. Er war ein Gott der Natur, und jeder Eindringling würde von der geballten Kraft dieser Wolken zerfetzt werden. Das aufziehende Gewitter würde gewaltig sein, denn die Wolken würden sich explosionsartig entladen und tonnenweise Regen ausschütten, der die Landschaft unter ihnen überflutete. Shaka Changs Damm würde die Kraft dieses Wassers sammeln. Und wenn er über diese Kraft herrschte, dann bestimmte er in der ganzen Region über Leben und Tod.

Alle brauchten Wasser. Diamanten und Gold waren schnöde Handelswaren, Kristalle und Metall waren völlig überbewertet durch die Eitelkeit des Menschen. Trotzdem würde er sie natürlich entgegennehmen als Gegenleistung für die Leben spendende Kraft, derer er sich bemächtigt hatte. Doch noch war es nicht so weit. Zunächst kam der erste Schritt zur Verwirklichung von Changs Plan. Der Regen würde den in den unterirdischen Höhlen und Spalten lagernden Tod auswaschen und über Tausende von Kilometern alles menschliche und tierische Leben vernichten. Dann würden die Regierungen für Changs unverdorbenes Wasser sogar noch mehr bezahlen. Und bei der Durchführung seines ehrgeizigen Plans standen bloß ein fünfzehnjähriger Junge und sein gefährliches Wissen im Weg. Einzig und allein die Existenz des Jungen ließ Shaka Chang kurz zweifeln.

Zufrieden damit, dass die schroffe Landschaft all denen, die töricht genug waren, sie herauszufordern, nur eine kleine Überlebenschance bot, ließ er das Flugzeug in den Himmel aufsteigen. Zweihundert Kilometer weiter würde er wie ein allmächtiger Gott zur Erde hinabgleiten, um nach Skeleton Rock zurückzukehren, ins irdische Heim eines Gotteskriegers, der Chaos und Zerstörung brachte, die Werkzeuge zum Erfolg.

Bald würde es regnen.

 

!Koga und Max hockten im Schatten der Felsen auf der Erde und hielten ihre Gesichter von dem stummen Jäger abgewandt. Wer flog hier draußen mit einem Segelflugzeug herum? War das ein wohlhabender Farmer, der seinem Hobby nachging, oder gab es für diesen Gleiter eine andere, Unheil bringende Erklärung? Sie wollten jedoch nicht riskieren, gesehen zu werden, und hofften inständig, dass dies auch noch nicht geschehen war. Als die zitternden Flügel den schlanken Leib des Seglers über die Berge getragen hatten, verließen die Jungen ihre Deckung und liefen los. Die noch immer verängstigten Paviane waren jetzt keine Bedrohung mehr. Und vorausgesetzt, dass das Flugzeug nicht wiederkam, konnten sie so weit und so schnell wie ihre Beine sie trugen, ins sichere, mit Bäumen bedeckte Buschland rennen.

Max und !Koga stolperten vorwärts. Wenn die Botschaft seines Vaters in der Höhle ein Wegweiser gewesen war, warteten noch mehr Hinweise auf sie, davon war Max überzeugt. Sie rannten durch die offene Savanne. Hier und da standen vereinzelte Dornenbüsche, aber nach einer Weile gelangten sie schließlich in eine Gegend mit stärkerem Baumbewuchs. Wiesen mit weichem Gras wogten vor ihnen, die fedrigen Halme hell von Staub und Sonnenlicht. Mit der Zeit wurde es zu heiß, um zu rennen, und Max drosselte sein Tempo, doch !Koga drängte ihn weiter. Ab und an ging !Koga in die Hocke und machte Max mit erhobenem Daumen auf Tierfährten aufmerksam. Der junge Buschmann erklärte ihm, dass die Raubtiere ebenfalls den Schatten gesucht hatten, aber zu weit entfernt waren, um eine echte Gefahr darzustellen. Schließlich kniete ! Koga nieder und legte die Hand auf einen dunklen Fleck im Sand. Es waren die Überreste eines alten Feuers.

»Sie sind in der Nähe.«

»Wer?«, fragte Max.

»Ich meine die Leute, die deinem Vater geholfen haben. Meine Familie.«

 

Als Mike Kapuo mit Kallie bei sich zu Hause eintraf, nahm seine Frau, die seit zweiunddreißig Jahren als Ehefrau eines Polizisten Kummer gewöhnt war, das Mädchen in die Arme. Sie steckte Kallie in die Badewanne und setzte ihr dann etwas von ihrem fantastischen Essen vor. Es hatten schon viele – zwei Söhne, eine Tochter und mittlerweile auch Enkel, die Heimatlosen und Streuner wie Kallie nicht mitgerechnet – an dem großen Küchentisch neben dem alten Herd Platz genommen, von dem sich Elizabeth Kapuo nicht trennen wollte, auch wenn sie in den Sommermonaten dort fast umkamen vor Hitze. Es war ein gemütliches Heim für eine Familie, wie aus dem Bilderbuch, befand Kallie neidisch. Sie hatte den Schmerz über die Scheidung ihrer Eltern immer noch nicht verwunden. Kallies Vater war ein moderner Freibeuter. Ein freier Geist, der sein Leben für seine Familie opfern würde, doch ihn zum Zuhausebleiben zu bewegen, war schier unmöglich. So war Kallie schnell selbst ständig geworden und durch das harte Leben auf der Farm auch ebenso eigensinnig und stark. Doch durch die echte Herzlichkeit der Kapuos entspannte sie sich etwas. Schließlich brachte sie keinen Bissen von dem köstlichen Essen mehr hinunter und fiel dankbar ins Bett.

Tags darauf wachte sie schon eine Stunde vor Morgengrauen auf. Die Geräusche der Vorstadt hatten sie aus wirren Träumen gerissen. Im Haus schliefen noch alle. Als sie zur Küche tapste, um Kaffee zu machen, kam sie an einem Zimmer vorbei, dessen Tür einen Spaltbreit offen stand. Ein Lichtstreifen fiel in den Flur. Aus dem Raum drang leises Rascheln, das sie nicht deuten konnte. Vorsichtig öffnete sie die Tür ein Stück weiter. Mike Kapuo benutzte dieses Zimmer offenbar als Büro. Er hatte wohl bis spätabends gearbeitet, denn die Schreibtischlampe brannte noch und überall stapelten sich Unterlagen und Akten. Eine Katze saß auf dem Schreibtisch und putzte sich, die Pfoten in die Blätter unter sich gekrallt. Durch die Katze auf dem Papier wurde das leise Rascheln verursacht. Das Tier hatte bestimmt eine angenehme Nacht unter der wärmenden Lampe verbracht. Als Kallie eintrat wurde das Tier aufgeschreckt und sprang vom Tisch. Dabei wurden die Papiere über den ganzen Boden verteilt.

Kallie schalt sich leise. Warum musste sie nur immer so neugierig sein? Sie schob die Blätter mit der Hand zusammen und schichtete sie ordentlich aufeinander, doch als sie den Packen wieder auf den Tisch legen wollte, las sie auf einem der Blätter einen maschinengeschriebenen Namen. Plötzlich wurde ihr heiß und kalt: Tom Gordon. Vermisst und verschollen. Es war ein polizeilicher Untersuchungsbericht, das Datum lag schon ein paar Wochen zurück. Kallie überflog die Seite flüchtig. Sie war gespickt mit Ausdrücken aus der Polizeisprache: Wörter von künstlicher Förmlichkeit, die Polizisten auf der ganzen Welt verwendeten, als verleihe die schwerfällige Sprache ihrer Arbeit größere Bedeutung. Doch das war ihr egal. Sie las weiter. Die Suche war offenbar nur mit begrenzten Mitteln durchgeführt worden, wodurch es buchstäblich unmöglich war, jemanden zu finden, der vermutlich verletzt irgendwo in der Kalahari lag. Kallie blätterte die restlichen Seiten durch. Mindestens ein Dutzend weitere hatten mit Max’ Vater zu tun. Kallie verstand schnell, dass die von der Katze auf dem Fußboden verstreuten Papiere zu einer Akte gehörten, die aufgeschlagen auf dem Tisch gelegen hatte. Sie ging rasch zur Tür, lauschte, ob sich im Haus irgendetwas rührte, schob die Tür sacht von innen zu und kniete sich hin. Sie breitete die Papiere auf dem Boden aus und drehte die Lampe so, dass der Lichtschein direkt darauffiel. Die Mappe sah aus wie ein Dossier: eine Beschreibung des Vermissten, Berichte der Suchtrupps, die kurze Zusammenfassung, die sie soeben gelesen hatte, sowie eine Fotokopie der Karte des abgesuchten Gebiets. Es gab nichts, was auf neue Informationen über Tom Gordon schließen ließ. Kallie schob die Blätter wieder zusammen und legte die Unterlagen auf den Schreibtisch. Dabei berührte sie eine andere Akte, die zwar zugeklappt war, aus der aber die Ecken von Fotografien herauslugten.

Kallie schlug die Mappe auf. Die Schwarz-Weiß-Fotos zeigten einen männlichen Leichnam, den man im Hafen aus dem Wasser gezogen hatte. Klick, klick, klick. Eine Aufnahme nach der anderen, von einem Polizeifotografen gemacht. Das letzte Bild zeigte das Opfer auf dem Rücken liegend, die Füße der Polizisten waren noch am Rand des Fotos zu sehen. Sie würden nach dieser letzten Aufnahme nach Hause gehen, denn ihre Arbeit war getan. Das alles machte einen kalten, abgeklärten Eindruck, vermittelte emotionale Teilnahmslosigkeit und Routine. Die sachliche Feststellung eines Todes.

Ein Zettel mit offiziellen Informationen klebte an der oberen linken Ecke des Bildes. Datum und Zeit, wann die jeweiligen Aufnahmen gemacht worden waren, der Name des Polizeifotografen, schließlich der Name des Toten – falls bekannt.

Er war bekannt.

Leopold. Anton Leopold.

Jemand hatte etwas auf den Notizzettel, der innen am Aktendeckel klebte, gekritzelt. Die Fotos des Toten waren schon schlimm genug, doch bei der Notiz auf dem Zettel wurde Kallie übel. Peterson Bescheid sagen.

 

Tausend Kilometer entfernt senkten sich die Nebel von Dartmoor herab und würden nicht weichen, bis die nächste Wetterfront sie mit heftigen Windböen vertrieb. Für Sayid ging das Leben wie gewohnt weiter, wenn man von seinem starken Frust darüber absah, dass er es immer noch nicht geschafft hatte, Petersons Telefon anzuzapfen. Ihm war es gelungen, sein eigenes Schloss aufzubrechen, doch Petersons Tür hatte ein ausgefeilteres Schloss, und das zu knacken war ihm nicht geglückt. Wenn alles elektronisch gesichert wäre, hätte er den Code durch Hacken in kürzester Zeit geknackt. Wozu sollte der Fortschritt eigentlich gut sein, wenn überall noch diese altmodischen Schließsysteme benutzt wurden? Sayid behielt den kleinen Transmitter in der Tasche für den Fall, dass er zufällig mal mitbekam, wie Peterson seine Zimmertür offen stehen ließ. Sayid würde keine halbe Minute brauchen, um die Wanze in das Gehäuse des Telefonapparats einzusetzen.

Nach Kallies Anruf hatte Sayid eine Mail an Farentino geschickt. Wie Max ihm aufgetragen hatte, hatte er als Adresse Magier verwendet und dafür gesorgt, dass seine eigene Identität nicht nachverfolgt und offengelegt werden konnte. Sayid berichtete Max’ Beschützer das wenige, was er wusste: die Information über den Flughafen Eros in Namibia, dass jemand namens Leopold Max dort abholen sollte, dass ein sehr Mächtiger dort draußen Chaos anrichten würde und dass Max wohl völlig auf sich gestellt war und er ihn nicht erreichen konnte. Er berichtete Farentino auch, dass ein Mädchen in Namibia Max dabei geholfen hatte, weiter nach Nordosten zu gelangen. Und das war schon alles. Sayid entschied sich dafür, Peter son vorerst nicht zu erwähnen, bis er selbst mehr über dessen Rolle herausgefunden hatte. Er musste diese Wanze unbedingt in das Telefon hineinbekommen.

Entschlossen ging Sayid ein weiteres Mal den Korridor entlang, um nachzusehen, ob Peterson aus seinem Zimmer gegangen war und er noch mal einen Blick auf das Schloss werfen konnte. In seiner Hand, die in der Hosentasche steckte, hielt er den Transmitter. Er machte sich große Sorgen um Max. Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Petersons Stimme hallte von den steinernen Mauern wider. »Sayid! Warte mal.« Sayid blieb wie angewurzelt stehen, völlig überrascht von Petersons unbemerktem Erscheinen. Von einem auf den anderen Moment war er aufgetaucht.

»Wo soll’s denn hingehen, Sayid?«

»Ich … äh … ich … ich wollte zu Mr Simpson und ihn was fragen wegen des Crosslaufs nächste Woche …«, log er schnell.

»Mr Simpson hat Hausaufgabendienst. Das weißt du.«

»Ja, Sir. Ich hab nicht daran gedacht, wie spät es ist. Er war nicht da. Offenbar wegen … weil er … Sie haben es ja gerade gesagt.« Das wurde langsam etwas fadenscheinig, doch Peterson schien es gar nicht zu merken.

»Ich möchte mich mit dir unterhalten. Vielleicht am besten in meinem Zimmer.« Mit diesen Worten ging Mr Peterson an Sayid vorbei und öffnete die Tür, die Sayid tagelang zu knacken versucht hatte.

Verglichen damit, wie nachlässig Mr Peterson in der Wahl seiner Kleidung war, so als zöge er jeden Tag einfach das an, was ihm gerade in die Hände fiel, war die strenge Ordnung in seinem Zimmer eine Überraschung. Die Bücher waren fein säuberlich gestapelt und nach Sachgebieten geordnet, wie Sayid auf den ersten Blick zu erkennen glaubte: Geschichte, Biografien, Höhlenkunde, Bergsteigen und englische Literatur. Der Schreibtisch bestand aus zwei Türblättern, die auf beiden Seiten auf Aktenschränken ruhten, sodass es viel Platz für die ordentlich gestapelten Papiere und die große Karte gab, die darauf ausgebreitet war.

Gewienerte Stiefel, Turnschuhe und Crosslauf-Sandalen standen auf einem Schuhregal. Das kleine Zimmer war peinlich aufgeräumt. Einen Fernseher besaß Peterson nicht, dafür ein digitales Radio mit CD-Player und ein Paar drahtlose Kopfhörer, die an einem Ständer hingen. Es gab zahllose CDs, von Pop bis Klassik.

»Was ist?«, fragte Peterson, als Sayid sich in dem Zimmer umsah.

»Das ist ja unglaublich aufgeräumt, Sir.«

»Ja, glaub schon. Fällt mir gar nicht auf. Für mich ist es … geordnet. Beim Klettern muss man schnell wissen, wo alles verstaut ist. Es ist weniger stressig, wenn alles seinen Platz hat, das hab ich bei der Armee gelernt.«

»Ich wusste nicht, dass Sie bei der Armee waren, Sir. Ich dachte, Sie waren Bergsteiger, bevor Sie Lehrer wurden.«

Sayids Gedanken rasten. Wenn Peterson bei der Armee gewesen war, hatte er dann noch Verbindungen dorthin? Sayid hatte mal gelesen, dass Veteranen manchmal in der Security-Branche oder als Söldner arbeiteten. Was, wenn jemand Peterson dafür bezahlt hatte, Max zu töten? Sayid musste seine Fantasie zügeln. Er war in Petersons Zimmer, und darauf kam es schließlich an. Jetzt musste er die Dinge am Laufen halten, bis er eine Möglichkeit gefunden hatte, den kleinen Transmitter in das Telefon zu stecken. Er ging kreuz und quer im Zimmer herum. Ein schnurloses Telefon stand auf dem Schreibtisch. Das Batteriefach am Hörer war vielleicht zu klein für das Abhörgerät, aber die Basisstation war genauso geeignet, eigentlich sogar noch besser, weil das Telefonsignal vom Hörer durch sie hindurchging.

Während er überlegte, wie er das bewerkstelligen könnte, betrachtete er einige Aquarelle an der Wand, die gar nicht schlecht waren. Eins der Bilder erregte Sayids Aufmerksamkeit. Es zeigte einen mächtigen, schneebedeckten Berggipfel. Die untergehende Sonne färbte den Himmel dunkelrot.

Peterson registrierte Sayids Interesse. »Der Mount McKinley«, sagte er.

»In Alaska«, erwiderte Sayid. Peterson lächelte und nickte. Sein Geografieunterricht war also nicht völlig umsonst gewesen. Er füllte Wasser in den Teekessel. Es gab zwei Becher, zwei Löffel, Zucker und Milch, alles stand griffbereit.

»Haben Sie ihn bestiegen?«

»Ja.«

»Wie hoch ist er?«, fragte Sayid, um Zeit zu schinden.

»20320 Fuß, aber der Nordgipfel ist etwas niedriger. Bei Bergen rechne ich immer noch in Fuß.« Peterson machte für sie beide Kaffee, ohne Sayid zu fragen, ob er welchen wollte.

»Warum machen Sie keine Fotos davon, Sir? Warum Aquarelle?«

»Ach, na ja, Fotos kann jeder machen. Fürs Malen braucht man ein gewisses Auge, eine bestimmte Einstellung. Das ist fast wie Meditation. Man sitzt da, vertieft sich in sein Thema … eine Gabe, die ich nicht besitze.«

»Sie haben die Bilder also nicht selbst gemalt?«

Peterson reichte Sayid den Becher mit dem Kaffee, schaute für einen Moment auf die Landkarte auf seinem Schreibtisch und drehte sie ein wenig, damit Sayid besser sehen konnte. Es war eine Karte von Namibia.

»Nein, hab ich nicht. Max’ Vater hat sie gemalt.«

Max’ Vater! Max hatte Sayid gegenüber nie erwähnt, dass Peterson seinen Vater kannte, und wenn das stimmte, wusste Max mit Sicherheit nichts davon. Aber wenn es so war, warum hatte Max’ Vater seinem Sohn nichts davon erzählt? Peterson log bestimmt, um Sayid dazu zu verleiten, Informationen preiszugeben. Wie hinterhältig! Peterson beobachtete ihn, und Sayid hatte das Gefühl, dass der Geografielehrer irgendetwas vor ihm verbarg.

»Max ist gar nicht nach Kanada geflogen.«

»Was? « Sayid hoffte, seine überraschte Miene war überzeugend.

»Hat er sich bei dir gemeldet?«

»Nein, ich dachte, er will einfach über das alles hinwegkommen. Sie wissen schon, der Überfall und dann sein Dad … « Sayid zuckte mit den Achseln, mehr gab es nicht zu sagen.

Peterson tippte auf die Landkarte. »Ich weiß, dass er in Namibia ist. «

Sayid betrachtete den Umriss. Das Land sah riesig aus – und wüst und leer. Max, wo steckst du nur? Sayid musste versuchen, das Gespräch künstlich in die Länge zu ziehen. »Namibia«, murmelte er, als wüsste er gar nicht genau, wo das eigentlich liegt.

Peterson lächelte. »Namibia. Das Land.«

»Oh ja, Sir. Ich kann nur nicht glauben, dass er dort sein soll. Ich meine, warum Namibia?«

Peterson sah ihn an. Sayid hatte das Gefühl, er werde von einem Magnetresonanztomografen gescannt. Petersons Augen gingen direkt durch ihn hindurch. In seinem Magen begann es zu flattern. Peterson machte ihm jetzt allmählich Angst, dabei hatte er nichts Bedrohliches gesagt.

»Ich möchte Max finden«, sagte Peterson schließlich. »Ich will ihm helfen. Ich glaube, er ist in großer Gefahr, und ich kenne Leute, die ihm vielleicht das Leben retten können. Er ist da draußen in der Wildnis, ohne jegliche Ausrüstung, die er zum Überleben braucht. Wenn du mir etwas sagen kannst, könnte ihm das vielleicht helfen. Der kleinste Hinweis kann nützlich sein. Verstehst du?«

Sayid nickte. Diese Leute waren vermutlich diejenigen, die Max jetzt jagten. Sayid dachte an die letzte SMS, die Max geschrieben hatte: Peterson nicht vertrauen. »Ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas sagen, Sir. Max ist mein Freund, aber … Tja, ich weiß wirklich nichts.«

Bevor Peterson weitere Fragen stellen konnte, ertönte lautes Poltern auf dem Korridor, und die Tür flog auf. Zwei Jungen rasten im Affentempo vorbei, stießen eine Bank um und rissen ein darüberhängendes Bild von der Wand. Baskins und Hoggart, die beiden, die sich dauernd prügelten, machten Krawall. Peterson rannte auf den Gang und rief: »Hey, ihr zwei! Schluss damit! Was soll das werden, wenn’s fertig ist?«

Baskins und Hoggart hatten Sayid die Gelegenheit verschafft, die er brauchte. Er griff nach dem Telefonapparat und drehte ihn um. Der Boden der Basisstation war mit vier Schrauben befestigt, und obwohl Sayid einen kleinen Uhrmacherschraubenzieher dabeihatte, fehlte ihm die Zeit, sie zu lösen und den Transmitter in den Hohlraum zu schieben. Er war so nervös, dass er das winzige Ding kaum zu fassen bekam und es ihm permanent durch die Finger rutschte, als er in seiner Hosentasche danach suchte. Das Geschrei im Korridor hatte aufgehört. Es folgte eine genuschelte Entschuldigung der beiden Krachmacher, und Peterson schickte sie in ihr Wohnhaus zurück. Seine Schritte kamen näher. Sayid sah einen schmalen Spalt in der Bodenabdeckung der Basisstation. Er befand sich unterhalb eines kleinen Plastikhakens, um den das dünne Kabel zur Aufbewahrung gewickelt werden konnte. Schließlich gelang es ihm, die Wanze aus seiner Hosentasche herauszufischen. Er schob sie in die Öffnung. Es musste auch so funktionieren.

Er hatte das Telefon kaum wieder herumgedreht und sich zum Schein über die Namibia-Karte gebeugt, als sein Handy piepste und er vor Schreck zusammenfuhr. Seine Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er klappte es auf, als Peterson gerade ins Zimmer zurückkam. Sayid konnte seine Augen kaum von den Worten auf dem blauen Display abwenden.

»Etwas Wichtiges?«, fragte Peterson. Er klang beiläufig, aber Sayid war klar, dass er wissen wollte, ob die Nachricht etwas mit ihrem Gespräch von eben zu tun hatte.

»Oh, äh … Bloß meine Mutter … Sie sucht mich. Ich muss jetzt zum Nachhilfeunterricht.«

Peterson akzeptierte das widerspruchslos. »Also gut, Sayid, dann geh jetzt. Aber wenn du was von Max hörst, möchte ich das gern wissen. Wir unterhalten uns später noch einmal.«

»Ja, Sir.«

Sayid machte sich so schnell wie möglich davon und rannte in sein Zimmer. Peterson hatte schon nach dem Telefon gegriffen und würde gleich einen Anruf tätigen. Jetzt, wo die Wanze an Ort und Stelle war, musste Sayid seinen Computer hochfahren und das Abhören einrichten.

Und es gab noch einen Grund, sich zu beeilen. Die SMS war von Kallie. Es waren nur sieben Worte, die besagten, dass Max sich in viel größerer Gefahr befand, als Sayid bisher vermutet hatte. Er musste die SMS unbedingt löschen, falls das Handy in falsche Hände geraten sollte. Sayid las den Text noch einmal. Leopold tot. Peterson weiß es. Max vermisst.

Drei Punkte auf der Landkarte – Max, Sayid und Kallie. Und niemand ahnte, dass Max nur noch Stunden von seinem Tod trennten.