13

Der Tod war ein Vakuum. Für eine Nanosekunde herrschte drückende Stille. Es war so still und ruhig wie in einer Krypta, tief unter der größten und ältesten Kirche vergraben, die man sich vorstellen konnte. Ein Ort, so abgeschieden, dass man nicht einmal eine Million Menschen, die gleichzeitig losschrien, hören würde. Nicht die kleinste Luftbewegung. Gedanken existierten nicht. Empfindungen hatten sich zu solcher Flüchtigkeit verkürzt, dass man sie nicht mehr wahrnahm.

Und dann schleuderte ihn ein Donner ins Leere, jäh wie eine wütende Woge, die sich an einem flachen Felsriff brach.

Als Max’ Herz stehen blieb, hallte sein Geist in seinem Bewusstsein nach, wanderte jenseits von Licht und Schall, als suchte er nach einer Öffnung im unendlichen Raum, einer Verbindung zu dem – was auch immer in dem großen Unbekannten wartete.

Stellare Lichtexplosionen, als ob das herrlichste Feuerwerk, das man an einem matten Himmel sehen kann, mit einem Mal in sich zusammenfiel und zu narbigen schwarzen Pünktchen wurde, die dann auch ganz plötzlich verschwanden, bis … nichts mehr war.

Sein Gehirn teilte Max mit, dass er unterging, dass er gestürzt war, denn jetzt glaubte er, durch ein unsichtbares Kraftfeld zu sinken. Keine Zeit zu überlegen, keine Gelegenheit, sich daran zu erinnern, dass er einmal gelesen hatte, beim Sterben treffe der Mensch auf Seelen, die ihn willkommen heißen, die himmlische Melodien singen, ihre Hände ausstrecken und ihn vorwärts und hinauf geleiten. Für ihn war dies hier eine Wildwasserfahrt in einem schwarzen Meer der Angst.

Sein Überlebenstrieb kämpfte gegen diese überwältigende Empfindung, doch wie beim Ertrinken kam der Moment, wo er sich nicht mehr wehren konnte, und so gab er schließlich auf. Es war ein Moment, in dem er schlagartig die Angst verlor, unglaublich ruhig wurde. Er schwebte, und eine wunderbare Wärme hüllte ihn ein. Er spürte keinen Schmerz mehr, keine Angst, er hatte nur den einfachen Wunsch, im Trost und in der Sicherheit dessen zu baden, was ihn so beruhigte. In diesem Moment des Aufgebens berührte ihn das Gesicht seiner Mutter, ihre Hand streichelte ihm die Wange, ihre Lippen küssten seine Augenlider, er roch ihr Haar, und ein Flüstern teilte ihm mit, dass er geliebt wurde. Dass sein Schmerz vorbei war. Dass er schlafen konnte. Dass sie immer bei ihm sein würde. Immer bei ihm war.

Der Nachhall einer Erinnerung an das, was seine eigene Stimme gewesen war, rief sie leise an: Mum, du hast mir so gefehlt … Ich hab dich lieb, Mum … Ich wusste, dass du gar nicht tot bist … Ich wusste es … Können wir jetzt nach Hause gehen?

Es gab keine Antwort. Die sanfte Nacht trug alles davon, und ließ Max still und reglos zurück wie ein tiefes unterirdisches Wasserloch.

Zeit gab es im Tod nicht. Max verweilte in der Dunkelheit, bis irgendetwas flackerte. Feuerfetzen, dann helleres Licht, eine Flammenpyramide. Schatten durchbrachen die glühende Hitze. Gedämpfte Laute, ein Gesang, der anschwoll und wieder abebbte.

 

Der Schamane tauchte die Finger in einen Beutel mit zerriebenen Kräutern, deren Herkunft nur ihm bekannt war. Dann schob er sie Max mit Gewalt in den Mund, wo die klebrige Masse sich an seinen Gaumen legte, ihm unter die Zunge und durch die Speicheldrüsen drang, Eingang in seinen Organismus fand. Alle traten zurück, als der Schamane eine Hand auf Max’ Herz und die andere auf seinen Bauch legte. Als Max’ Herz zu schlagen aufhörte, zog der Schamane eine große Antilopenhaut über sie beide, und glitt mit Max in die Dunkelheit darunter.

Binnen zwei Minuten kam Max’ Herz, mühsam stotternd wie ein alter Motor, wieder in Gang. Bakoko, der Schamane, der Gestaltwandler, zwängte Max ein flüssiges Gebräu durch die Kehle. Max würgte heftig, erbrach sich und schlief schließlich ein, wie ein Kind von den Armen des weisen Greisen vorsichtig gehalten.

Über zwölf Stunden später öffneten sich Max’ Augen. Das Sternenzelt begrüßte ihn, und hagere Schatten sangen und schlurften im Kreis um ein großes Feuer. Zwei Männer hielten Max bei den Schultern, zwei andere seine Arme und Beine, darunter auch !Koga. Dann ballte der Schamane die Faust und setzte sie auf Max’ Unterbauch. Drückend und bohrend arbeitete er sich bis unter das Brustbein hinauf, und Max spürte einen Knoten, der zu einem kompakten Ball aus Kraft wurde. Der stieg aufwärts, durch seinen Bauch und in seine Lungen und sein Herz, und Blut floss ihm aus der Nase. Die Männer stellten ihn auf die Beine, schleppten ihn zum Feuer und trugen ihn um das Feuer herum, während der Gesang anschwoll und das Blut weiterfloss. Max war Teil eines Trance-Tanzes, der zum Herzstück der Buschmann-Kultur gehörte – der Tanz des Blutes.

Eine andere Reise begann.

Max’ Schattengestalt raste durch die Nacht, über Fels und Sand, seine Augen sahen alles. Der Mond stand hoch, das blasse Abbild des Tages hob die Erde gut hervor. Schnell wie ein Tier lief Max über ein Plateau, dessen Rand in den unendlichen Raum reichte. Max achtete nicht darauf und sprang von einem Felsen ab. Welche Gestalt er auch auf dem Grund gehabt haben mochte – hier wandelte sie sich, und jetzt konnte er fliegen. Er schwang sich hinaus, glitt über eine Schlucht hinweg, über ausgedorrte Flussbetten, Bäume und Hügel. Der Traum war Wirklichkeit. Eine übernatürliche Kraft hatte von ihm Besitz ergriffen, ein animalischer Instinkt durchströmte ihn. Aus Armen wurden Flügel, aus seinen Füßen gekrümmte Krallen. Er spürte den Nachtwind und ließ sich von einem unbekannten Führer leiten.

Ein gesprenkelter Baldachin bedeckte den Boden, filterte die Gestalt der Bäume, verhüllte ihr verborgenes Geheimnis. Es war die Taube. Die Taube unter den Bäumen, die Max in der Höhle gesehen hatte.

Er schrie auf.

Ein gellender Schrei, wie der eines Adlers, hallte durch die Leere.

 

Max tanzte allein um das Feuer, den Kopf in den Nacken gelegt, den Mund geöffnet, obwohl dieser erste Schrei stumm gewesen war. Die anderen sahen ihm zu. Seine Augen fixierten ihre verschwommenen Gestalten. Auf einmal erschöpft, sank er auf die Knie. Hände hoben ihn hoch, legten ihn auf eine Grasmatte, bedeckten ihn mit Stoff und Häuten, um ihn zu wärmen. Schüttelfrost hatte eingesetzt. Es würde Stunden dauern, bis er das Bewusstsein wiedererlangte.

!Koga saß bei ihm, badete seinen Kopf und sein Gesicht mit kostbarem Wasser und hätte gerne gewusst, wohin der Geist seines Freundes gereist war.

 

Max flog durch ein Schattenland der Träume, übersprang die Zeit, glitt über unglaubliche Landschaften hinweg und blieb dann schlafend liegen, während Wellen aus Farbe an seinen Körper schwappten. Bei alledem anwesend, wenngleich in unterschiedlicher Gestalt, war der Schakal. Der Anubis der Ägypter wog sein Herz auf der Waage himmlischer Gerechtigkeit und legte fest, wohin sein Geist geschickt werden sollte. Dann begleitete er Max als neben ihm herlaufender Hund bei jedem Schritt, verwandelte sich wieder in ein wachsames Tier, das an einem lodernden Feuer in der Nacht saß. Niemals ein Feind, immer ein Wegbegleiter, hielt die Hundegestalt Wacht, unbeirrt von der Verwirrung in Max’ Unterbewusstsein. Doch tief in der Höhle seines eigenen Geistes wusste Max instinktiv, dass der Schakal ihm vorauslaufen würde.

Zwei Tage lang saß! Koga neben seinem vom Fieber geschüttelten Freund. Der junge Buschmann hatte einen Ast des Greviabaums ausgewählt, aus dem sie ihre Bogen fertigten, und hatte geduldig die Krümmung geformt, die ihm vorschwebte. Er befestigte gerade die Sehne und testete ihren Zug, als Max aufstöhnte und sich auf den Ellbogen stützte. Sein Mund war klebrig. Das angetrocknete Blut hatte man ihm vom Gesicht gewaschen, der metallische Geschmack lag ihm aber immer noch auf der Zunge.

Max schüttelte die Steifheit aus den Muskeln. Seine Arme waren mit trockenem Schlamm bedeckt, seine Brust und sein Haar waren ebenfalls dreckverklebt. Noch wacklig auf den Beinen stand er auf.

»Deine Haut. Sie hat gebrannt«, erklärte !Koga. »Ich hab Schlamm auf dich getan. Das ist gut, das schützt dich.«

Max griff nach dem wassergefüllten Straußenei, das ! Koga ihm hinhielt. Zuerst einen kleinen Schluck, mit dem er sich die Zähne und die Kehle spülte und den er anschließend ausspuckte. Es fühlte sich an, als hätte er sich von Tonnen von Dreck befreit, und dann trank er gierig. Der verkrustete, angetrocknete Schlamm wirkte wie eine zweite Haut, seine kurze Hose war ziemlich zerfetzt und seine Fingernägel waren abgebrochen. Die Muskeln taten ihm noch weh von den Fieberkrämpfen und den Verrenkungen während des Bluttanzes. Doch er fühlte sich stark. Stärker als je zuvor. Die Buschmänner sahen ihn an, und er sah sie an, betrachtete eingehend jedes Gesicht, blickte den Menschen in die Augen. Dies war ein stiller Dank an sie alle, und sie schienen ihn zu verstehen. Anfangs nickten sie nur, dann erschien ein Lächeln und Lachen auf den Gesichtern. Bakoko, der Schamane, bedeutete ihm, in den Baumschatten zu treten.

»Bakoko hat das Gift aufgehalten«, sagte ! Koga zu Max, als sie durch die Siedlung gingen. »Er hat dir Medizin gegeben. Er war es, der das Blut aus dir herausgebracht hat. «

»Ich glaube, er hat mir irgendein halluzinogenes Kraut gegeben. Zu Hause sperren die einen ein, wenn man so etwas nimmt«, sagte Max.

!Koga ließ sich nicht anmerken, ob er Max verstanden hatte, und so lächelte Max nur und legte den Arm um seinen Freund. Das brauchte nicht erklärt zu werden.

Nachdem sie sich zu den anderen Männern gesetzt hatten, die respektvoll Abstand zu dem Schamanen wahrten, aßen sie die von den Frauen zubereitete Mahlzeit. Kräftig schmeckendes Antilopenfleisch, einige Wurzelknollen, tief in der Glut gegart, und eine Mischung aus einer Art Maismehl, die Max nicht identifizieren konnte. Es war ihm auch egal, denn er war vollkommen ausgehungert, und das Essen war schnell verschlungen. Die ganze Zeit, während er aß, strömten Bakokos Worte wie der Dampf aus einem Topf, ein stetiges murmelndes Erzählen, das ! Koga nur bruchstückhaft übersetzen konnte. Die Buschmänner glaubten immer noch, dass ihnen Max’ Ankunft vorhergesagt war, dass seine Reise Tapferkeit verlangte und dass er zu ihnen geführt worden war, sodass die Schlange angriff, er hin fiel, der Skorpion ihn stach und die große Dunkelheit über ihn kam. Es hatte so kommen sollen. Er musste begreifen, dass die Welt, in der sie lebten, eine Art Traum war, dass es nur wenige Gestaltwandler gab, und dass er, jetzt da er mehr von dem verstand, was in ihm schlummerte, das Tier frei wählen konnte, das ihn durch Gefahren geleitete. Wenn Max sich mit diesem Gedanken anfreundete, konnte er das Wesen jedes Tiers in sich erspüren. Das war ein seltenes Privileg und brachte die Verpflichtung mit sich, klugen Gebrauch davon zu machen – denn wenn er das nicht tat, würde die Kraft, die jetzt in ihm freigesetzt war, ihn verschlingen.

Dies alles erklärte der weise Greis, bis die Sonne die obersten Zweige der Bäume streifte und die Schatten größer wurden. Schließlich nickte der Alte !Koga zu. Der Junge überreichte Max den Jagdbogen, den er angefertigt hatte, während Max bewusstlos gewesen war. Dazu einen Köcher voller Pfeile und einen kleinen Beutel mit tödlichem Gift für die Pfeilspitzen.

Sie hatten ihn zum Jäger gemacht. Geehrt durch diese Geste und beschämt durch ihre Sorge um ihn, nahm Max das Geschenk ehrfurchtsvoll an. Die Sonne zog sich über dem flachen Land zurück. Die Schatten brachen herein wie eine Flutwelle, bedeckten alles, was vor ihnen lag. Max nahm den Hauch einer Bewegung zwischen den Bäumen, am Rande der Dunkelheit, wahr und glaubte, die auf ihn gerichteten Augen eines Schakals zu erkennen.

 

Max und !Koga liefen mit gleichmäßigen, weiten Schritten durch die Nacht. In der ersten Stunde brannte ihnen die Lunge, und ihre Beinmuskeln verkrampften, doch dann hatten sie alle schwächenden Gedanken an Schmerz oder Unbequemlichkeit beiseitegeschoben und zu einem angenehmen Tempo gefunden. Nachdem ihr Atem leicht geworden war, liefen sie fast lautlos, nur das rhythmische Geräusch ihrer Schritte im Sand war zu hören. An den schwarz umrandeten Bergen, so weit entfernt, dass sie aussahen wie eine unruhige, vom Meeresgrund aufsteigende Welle, verfing sich eine dunkle Decke aus Sturmwolken, und peitschende Blitze durchschnitten die Nacht.

Max war nicht sicher, wohin er lief. Sein Instinkt und noch etwas anderes, was er nicht zu fassen bekam, leitete ihn. Es war, als habe sein Geist einen Plan für die Reise entworfen. Dieser war jedoch nicht ganz klar, denn er hatte weder Form noch Gestalt. Vielleicht ist es so etwas wie ein mentales Radar, sagte er sich. Jedenfalls vertraute er darauf. Die ganze Nacht hindurch behielten sie ein gleichmäßiges Tempo bei, doch es war jetzt Max, der den Weg wies, und ! Koga hatte Mühe, ihm zu folgen. Das Morgengrauen verlieh ihnen frische Kraft, der Sonnenschein milderte die Müdigkeit. Max schaute zu den Bergen hinüber. Das Plateau, zu dem er blickte, war dasselbe, das er im Traum gesehen hatte – oder in seiner Vision, denn er war noch nicht sicher, wie er es nennen sollte, und doch lief es vor ihm ab wie ein Film. Er war von der Felsklippe aus geflogen, war über die Schluchten und die Flussbetten zu den Bäumen gesegelt. Er zögerte für einen Moment, die Erinnerung kam unvermittelt, der Drang zu fliegen war beinahe unwiderstehlich. Max’ Unermüdlichkeit brachte es mit sich, dass die Jungen kaum etwas sprachen – beide benötigten ihre Kraft und ihre Konzentration, um zu dem Ort aus dem Traum zu gelangen. Sie liefen zwei Tage lang in nordöstliche Richtung, ließen die Berge hinter sich, näherten sich der Stelle, an der Max’ Vater mit angesehen hatte, wie mehrere Buschmänner starben. Dem letzten Ort, an dem er selbst lebend gesehen worden war.

Abends aßen sie das getrocknete Fleisch, das ! Kogas Leute ihnen mitgegeben hatten; Max ließ nicht zu, dass !Koga jagte und Feuer machte. Sie näherten sich der großen Gefahr, und Max wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Wenn er auf dem harten Boden schlief, ohne sich groß um Bequemlichkeit zu kümmern, war sein Schlaf unruhig und sein Geist nicht mehr fähig, zwischen Traumfetzen und den Bildern des Gestaltwandels zu unterscheiden, die getrübt wie hinter Rauchglas vor seinem geistigen Auge erschienen. Er drehte und wälzte sich, während sein Geist Ruhe suchte.

Am dritten Tag merkte er, dass er weniger Schlaf brauchte als sonst. Die Müdigkeit ließ sich zwar nicht leugnen, doch die Ruhephasen nahmen die Form eines zweistündigen Tiefschlafs an, und die übrigen Stunden verbrachte er in einer Art benommener Meditation. Du weißt, dass du nicht ganz wach bist, sagte er sich selbst. Ein Bild jedoch stellte sich immer wieder ein; eines, dem er keinen Sinn abgewinnen konnte und das ihn ängstigte. Es war die Mähne eines riesigen Tiers, dessen abgewetzte Zähne mit fahlem Schleim bedeckt waren. Es war taub und blind und stieß einen ekelerregenden Dampf aus. In einer seiner Visionen stand Max auf dem Rand des Mauls dieses Viehs, sah die Galle des Untiers aus seinem Magen in die Kehle heraufschießen und hörte, wie es pfeifend keuchte, während dieser Sprühnebel aus der Tiefe aufstieg. Max wusste zweifelsfrei, dass das der klaffende Schlund der Hölle war – ein Abgrund, in den Menschen gesaugt und in dem sie verschlungen wurden. Und das Bild, das er nicht aus dem Kopf bekam, war das vom Sturz in diesen brodelnden Kessel.

 

Als die Buschmänner an dem Ort starben, den !Kogas Vater Wo die Erde blutet genannt hatte, hoben die Jäger für ihre Freunde und Verwandte Gräber aus, bestrichen die Toten mit Tierfett, bedeckten sie mit rotem Puder und betteten sie dann in einer zusammengerollten Position seitlich zum Schlafen, wie ungeborene Kinder. Die flachen Gräber zeigten in Richtung der aufgehenden Sonne, und den Toten wurden ihre Jagdbogen und Speere mitgegeben.

Die beiden Jungen standen auf der Lichtung. Der Wind trieb Staubwolken vor sich her, die die Grabstätte kurzzeitig verdeckten. Als der Wind dann umschlug, legte sich der Staub und die geschändeten Gräber kamen zum Vorschein. Die Toten waren verschwunden, nur ihre verstreut liegen gelassenen Waffen waren noch da. Manche waren zerbrochen, andere achtlos beiseitegeworfen. Das war nicht das Werk wilder Tiere.

!Koga wanderte zum Rand der Lichtung – wer sollte an einem so abgelegenen Ort die Toten seines Volkes ausgraben und stehlen? Max schaute in jedes Grab. Es gab keine Hinweise darauf, wer das getan haben konnte, und so sammelte er die Waffen ein, legte sie ordentlich aufeinander und wartete auf !Koga. Während Max im Schatten eines verdorrten Baumes hockte, entfernte sich !Koga noch weiter von der Grabstätte und suchte den Boden ab. Schließlich kniete er sich mit einem Bein hin, berührte die Erde mit der Hand und kam dann zu Max zurück.

»Das waren zwei Autos.« !Koga wies mit dem Kopf auf eine Seite der Lichtung. »Die, die zuerst kamen, sind von hier zu den Regenbergen gefahren.«

Max folgte ihm zur anderen Seite der Lichtung. Er sah überhaupt nichts, was Aufschluss darüber gegeben hätte, wer vor ihnen hier gewesen war. Es gab keine Fährten, keine Spuren von Hufen oder Klauen, doch !Koga hatte ganz feine Abdrücke entdeckt.

»Die andern«, sagte er, »sind zur Salzpfanne gefahren.« Das bedeutete sengende unliebsame Hitze, aber ein Fahrzeug würde Spuren hinterlassen.

Max lief das Gelände ab. Es dauerte eine Weile, doch dann sah er die Spuren auch. Flache Steine waren ein wenig verschoben, sie ruhten nicht mehr wie vorher in der harten Erde. Max war ziemlich zufrieden mit sich, weil er wenigstens das erkannt hatte. Er ging ein paar Hundert Meter über die Lichtung hinaus, wo feuchte Linien in den Boden eingeprägt waren. Diese feinen Äderchen entstanden durch Feuchtigkeit, die von unten aus dem Boden aufstieg, sie durchzogen das gesamte Gebiet und erinnerten durch den roten Staub an Blutspuren.

Max durchforstete sein Gedächtnis. Was hatte sein Vater in den Aufzeichnungen vermerkt, die er in Angelo Farentinos Büro gelesen hatte? Anzeichen für Bohrungsgerät, hatte sein Vater notiert, aber die sollte es in dem Gebiet, in dem er sich befand, als er dies notiert hatte, nicht geben. Es gab hier keine Indizien für Ausgrabungen oder Tunnelbohrungen. Aber die Buschmänner hatten die Aufzeichnungen von Max’ Vater an sich genommen, und dann ging Tom Gordon weg. Wohin? In welche Richtung? Die natürliche Schlussfolgerung war, dass er von einem unterirdischen Wasserlauf gewusst hatte, einem Aquifer, der tief in dieses Gebiet eindrang; dann war es auch wahrscheinlich, dass er diesem gefolgt war. !Koga aber hatte gesagt, dass die Wagen in zwei verschiedene Richtungen gefahren waren.

Das war verwirrend. Jetzt, da er seinem Vater endlich näher kam, wäre es unerträglich, die falsche Richtung einzuschlagen. Auf einmal kam ihm das ganze Unterfangen völlig lächerlich vor. Ein Junge aus dem Westen, ohne Kompass, nur mit einer Armbanduhr ausgerüstet, mit eingetrocknetem Schlamm bedeckt und einem primitiven Bogen über der Schulter, hier mitten im Nichts, ohne einen Hinweis auf die Gegenwart eines anderen Lebewesens, nur von einem jungen Buschmann begleitet, der im Schatten hockend darauf wartete, dass er eine Entscheidung traf. Sein Vater war verschollen, Tote waren aus ihren Gräbern geraubt worden; er steckte irgendwo in der Wildnis fest, hatte einen Angriff überlebt und eine tödliche Vergiftung überstanden, hatte Bilder gesehen, die er nicht beschreiben konnte – und als wäre all das nie geschehen, hinterließ gerade vierzigtausend Fuß über seinem Kopf ein Flugzeug einen weißen Kondensstreifen am Himmel. Vierhundert Menschen saßen dort oben, während er hier unten in diesem Staubbecken stand, ein nutzloses Handy in der Tasche seiner zerschlissenen Shorts.

Er winkte dem silbernen Flieger nach. »Hallo! Schönen Urlaub! Vergesst nicht, eine Ansichtskarte zu schicken!« Er musste selbst lachen über seine Albernheit, besann sich aber schnell wieder, als er !Koga sah, der ihn verunsichert anschaute. »Entschuldige. Es ist so verrückt, dass ich es nicht erklären kann. Verstehst du?«

Der Junge schüttelte den Kopf.

»Nein, natürlich nicht«, sagte Max. Er schämte sich ein bisschen für seinen Ausbruch und wusste nicht, ob er den geschändeten Gräbern seine Ehrerbietung bezeugen sollte, hatte aber auch keine Idee wie.

Als er seine Gedanken geordnet hatte, wusste er plötzlich, was zu tun war. Er machte kehrt und lief los, auf die dunklen Berge zu, die wie Schatten am Horizont standen.

»Wir gehen dorthin?«, fragte !Koga.

»Ja.«

»Woher weißt du … ?«

»Einfach so«, erwiderte Max. Irgendetwas zog ihn an, er wusste nicht, was, doch es war derselbe Instinkt, der ihn bis hierhin geführt hatte. Und noch etwas gab ihm Trost. !Koga war mehr als nur ein Führer und Kamerad. Er und Max hatten kulturelle Grenzen überschritten. Diese Freundschaft war aus den Gefahren heraus gewachsen, denen sie sich gemeinsam gestellt, und den Prüfungen, die sie zusammen gemeistert hatten. Max wollte nicht nur seinen Vater finden, sondern auch den Buschmännern helfen. Er würde dafür sorgen, dass die Welt von ihrer Not erfuhr.

!Koga hatte ihm erzählt, dass man sie von dem Land vertrieben hatte, auf dem sie immer gelebt und gejagt hatten, das jetzt riesige Flächen Nationalparks für geschützte Tiere waren, die die Buschmänner jedoch als Nahrungsgrundlage und für ihre Kleidung brauchten, und dass Viehzüchter den größten Teil des übrigen Landes in Besitz genommen hatten. ! Kogas Volk wurde immer weiter zurückgedrängt. Und das war einfach nicht richtig. Sein Volk und deren Lebensweise waren bereits beinahe ausgestorben.

Max verwarf den Gedanken und rief sich innerlich zur Ordnung – er machte sich nur wichtig! Die Höhlenzeichnungen enthielten keine Prophezeiungen, nichts, was darauf hindeutete, dass er den Buschmännern helfen würde. Es war eine Wunschvorstellung, auf die die Buschmänner durch die Zeichnungen seines Vaters gekommen waren.

Er wollte das hier einfach nur erfolgreich zu Ende bringen, aber vielleicht hatten ihn die Buschmänner ja wegen der Höhlenzeichnungen gepflegt und wieder aufgepäppelt und ihm irgendeine Macht verliehen. Dieselbe Erinnerung blitzte noch einmal vor seinen Augen auf. Der Adler in seinem Geist hatte sich in die Lüfte geschwungen und die versteckte Taube gefunden. Max wusste, dass er auf dem richtigen Weg war.