10

Mit der Nacht kamen die Spukgestalten.

Silbrige Schatten huschten durch die knochigen Äste der Bäume und ließen das trockene Gras flackern wie Irrlichter. Das Mondlicht spielte mit der Brise und beflügelte Max’ Fantasie, während er Wache hielt. Die Jungen waren leichte Beute für nächtliche Räuber, und deshalb schliefen sie abwechselnd. Max gähnte und reckte sich, um die Müdigkeit abzuschütteln, die ihn gepackt hatte. Die vielen umherhuschenden Schatten erschreckten ihn, sodass er für eine Weile wach blieb, doch die Angst wich nach einer Weile der Erschöpfung. Er riss seine schläfrigen Lider auf, wenn irgendwo in der Nähe das Jaulen eines Schakals ertönte. Die leichte Brise trug die aufgeregten Schreie eines Rudels jagender Wildhunde heran. Vielleicht hatten sie irgendwo ein Tier erbeutet.

Die Tage in der Wildnis hatten Max’ Sinne geschärft. Ihm fielen jetzt auch Kleinigkeiten auf, das Drehen des Windes, Plätze, an denen Schatten ein Versteck boten und es vielleicht ein Wasserloch gab, um seinen Durst zu stillen. Die Luft trug Tiergerüche heran, und Max hatte gelernt, die verschiedenen Spuren von Antilope, Hyäne, Mungo und Wildhund auseinanderzuhalten. Zwar hatte ihm ! Koga bei jeder Gelegenheit die Fährten und Kratzspuren gezeigt, die die Tiere hinterließen, doch Max wusste, dass er es nie so weit wie sein Kamerad bringen würde, der sogar unzählige Vogelarten an ihren Abdrücken im Sand unterscheiden konnte. Die Jäger der Buschmänner erkannten sogar eine Ameisenfährte. So etwas lernt man nicht aus einem Schulbuch. ! Koga wusste diese Dinge, weil er sie gesehen, angefasst, gerochen und geschmeckt hatte, genauso, wie Max gelernt hatte, auf Berge zu steigen und im Wildwasser ein Kajak zu steuern. So wie er gelernt hatte, tödliche Gefahren zu erkennen und schwindelerregende Furcht vor einem Absturz oder vor der Gewalt des Wassers zu empfinden, das ihn nach unten zog, wenn es sein Kajak zum Kentern brachte, so hatte !Koga jeden einzelnen Tag seines Lebens in der rauen Wildnis verbracht.

Wie ! Koga hatte Max jetzt Tag und Nacht bloß sein Überleben im Sinn. Auf der ganzen Welt existierten nur sie beide. Die Gedanken an seinen Vater ähnelten Fata Morganen in der Hitze. Wirklichkeit würden sie erst werden, wenn Max seinen Vater sehen und in die Arme schließen könnte. »Im Heute leben«, dieser Ausdruck bekam eine vollkommen neue Bedeutung, wenn das Leben so auf der Kippe stand.

»!Koga!«

Das Stampfen war wie aus dem Nichts gekommen. Panik. Wilde Tiere in Aufruhr. Dann hatte er einen herben Geruch in der Nase und war unsicher, woher er kam. In dem trügerischen Licht des Mondes war die Richtung nicht auszumachen, doch !Koga wusste es auf Anhieb. Die kleine Büffelherde, etwa zwanzig oder dreißig Tiere, war verwirrt und rannte erst in die eine Richtung und Sekunden später in die andere. Staub wirbelte auf.

»Löwen!«, rief !Koga und zog Max mit sich. Sie rannten mit den heranpreschenden Büffeln um die Wette. »Sie haben die Herde geteilt!«

Es war der reine Wahnsinn. Die keuchenden, schnaubenden Tiere, die Menschen tödlich verwunden konnten, waren jetzt selbst völlig verängstigt. Max und ! Koga rasten durch den wirbelnden Staub, der ihnen fast den Atem nahm. Büffel kreuzten ihren Weg, hätten sie beinahe niedergetrampelt. Sie wichen aus, stolperten und schlugen Haken. !Kogas Stimme wurde vom Donnern der Hufe übertönt. Max verlor seinen Freund aus den Augen. Dann sah er ihn wieder, er lief ganz rechts außen um die wogende Menge herum. Max wollte zu ihm. Der Buschmann-Junge hatte sich beim Rennen umgedreht und hielt nach ihm Ausschau. Max hob die Hand, bezweifelte aber, dass !Koga ihn sehen konnte. »Ich bin hier – lauf weiter! Lauf!« Max’ Stimme war kraftlos, seine Kehle trocken.

Plötzlich war ein Büffel direkt neben Max und rempelte ihn an, und seine raue Haut streifte seinen Arm für den Bruchteil einer Sekunde. Das Tier rannte so schnell, dass es an Max vorüber war, noch ehe er dem Stoß ausweichen konnte. Er wurde zur Seite geschleudert, fiel in den Sand, rollte instinktiv weiter und betete, dass er keinem anderen Tier in die Quere kam. Desorientiert und verzweifelt spähte er in die Dunkelheit. Der Mond schwebte jetzt direkt über der Staubwolke, ein gespenstisches, fahles Zwielicht, das Himmel und Erde trennte. Etwa fünfzehn Meter entfernt sah Max eine Löwin, die auf der silbernen Wölbung des Mondes zu reiten schien, während sie sich in Wirklichkeit in dem Rücken ihres Opfers verbissen hatte. Der verwundete Büffel schleifte das Raubtier noch eine Weile mit. Die Herde fand wieder zusammen und schlug eine andere Richtung ein. Die Schreie des sterbenden Tieres verloren sich, und nach einer Weile stieg Max der Gestank nach Innereien in die Nase. Die Löwen befanden sich jetzt irgendwo hinter ihm im Dunkel, während sich die Hyänen keuchend näherten, um auf ihren Anteil der Beute zu warten.

Max stand auf und rannte, so schnell er konnte, weiter, bis er !Koga endlich erblickte. Der Junge saß am Boden und versorgte seine verletzte Wade. Er sah aus, als sei er von einem Betonmischer ausgespuckt worden.

»Oje, wie geht es dir?«, fragte Max, als er seinen Freund erreicht hatte.

»Ich bin gestürzt.«

»Ich auch. Ist dein Bein gebrochen?«

!Koga schüttelte den Kopf. »Ein Büffel hat mich erwischt.«

»Verdammt«, sagte Max, als er !Koga beim Aufstehen half. Vorsichtig probierte der Junge, ob er schon auftreten konnte. Es schien nichts gebrochen zu sein, aber dennoch war es sehr schmerzhaft, von einem siebenhundert Kilo schweren Büffel getreten zu werden, selbst auf sandigem Untergrund. Es würde eine ganze Weile wehtun. Mehr Sorge bereitete ! Koga sein zerbrochener Bogen. Das Ledertäschchen, der Köcher, alles war zertrampelt. Nur der Speer war noch heil und ! Koga benutzte ihn als Krücke.

Max legte sich den Arm seines Freundes um die Schultern und stützte ihn. Er suchte die Dunkelheit ab, hielt Ausschau, ob sich vielleicht irgendwelche Schatten als etwas Gefährliches entpuppten.

»Ich hoffe, deine Familie ist nicht gerade in Urlaub oder so. Ich könnte mal ein Schinken-Sandwich vertragen oder Bohnen auf Toast, sogar ein Big Mac wär jetzt keine schlechte Idee …«

»Warum redest du so einen Unsinn?«, sagte ! Koga lächelnd.

»Weil ich die Nase voll davon hab, dauernd Todesangst zu haben und Eidechsen zu futtern.«

!Koga sagte nichts. Sie gingen weiter und ließen das Geräusch von knackenden Knochen, das die Löwen beim Fressen erzeugten, immer weiter hinter sich.

Max hatte wieder einen Tag überstanden. Immer einen nach dem anderen. Jeder Schritt, jeder Gedanke brachte ihn dem Ziel, seinem Vater und dessen Geheimnis auf die Spur zu kommen, ein Stück näher. Max war zuversichtlich, dass er es schaffen würde. Wenn es auf der Welt gerecht zuginge, hätte er eine faire Chance gehabt. Aber der Natur war Gerechtigkeit genauso unbekannt wie !Koga ein Big Mac.

Ganz egal, wie geschickt Max bisher gewesen war oder wie viel Glück er gehabt hatte, die Natur schlug immer dann zu, wenn man am wenigsten damit rechnete. Es war kein stampfender Büffel, und es waren auch nicht die stählernen Klauen eines Löwen, die Max’ Herz zum Stillstand bringen sollten.

Die Natur war hinterhältiger.

 

Als der Morgen anbrach, konnte !Koga schon wieder etwas besser gehen, und obwohl sich ihr Tempo insgesamt verlangsamt hatte, kamen sie gut voran und ließen die in der Hitze flirrenden Berge hinter sich.

»Ich kenne ein Wasserloch. Es ist zwar klein, aber bestimmt ausreichend für uns. Ich finde den Weg dorthin. Wir müssen unbedingt etwas trinken.«

Sie hatten ihre kleine Feldflasche am Pavianberg, wie Max ihn nun nannte, gefüllt, aber die war schon fast wieder leer. !Koga hatte Recht, sie mussten dringend Wasser finden.

Ein paar Dutzend Meerkatzen verfolgten ihr Näherkommen aus sicherer Distanz. Sie wussten nicht, was sie von den beiden aufrecht gehenden Affen halten sollten, die da durch den Staub schlurften. Sie beschlossen offenbar, lieber auf Nummer sicher zu gehen, und so löste die Meerkatze, deren Aufgabe es war, vor Gefahren zu warnen, kreischend Alarm aus. Daraufhin reckten alle Tiere die Schwänze in die Luft, kehrten den Eindringlingen ihre Rückseiten zu und flüchteten in ihren Bau im Sand. Max hatte schon erlebt, dass man ihm den Hintern zugekehrt hatte, aber noch nicht so viele auf einmal. Unweigerlich dachte er, dass das eine coole Story wäre, um die Jungs an der Dartmoor High zu beeindrucken.

Er hatte Mühe, sich vorzustellen, wie es jetzt wohl zu Hause sein mochte. Er konnte sich jedoch nicht erlauben, die Gedanken schweifen zu lassen, durfte nicht darüber nachdenken, ob Sayid Kontakt mit ihm aufzunehmen versuchte oder ob das Team für den Triathlon bereits ausgewählt war. Er konnte nicht darüber nachdenken, ob Mr Peterson noch an der Schule war oder ob er, nachdem Max ihm und seinen Leuten entwischt war, die Fliege gemacht hatte. Er musste sich auf das Jetzt und Hier konzentrieren. Unaufmerksamkeit konnte fatale Folgen haben.

Ein paar Stunden später murmelte ! Koga etwas und wies in Richtung Horizont. Max schaute in die Ferne, doch was immer sein Freund auch erspäht hatte, entging ihm. »Ich sehe nichts, !Koga.«

»Hinter den Bäumen da, neben den Felsen. Siehst du?«

Max kniff die Augen zusammen zum Schutz vor dem grellen Licht. Während eines Bergaufstiegs in den Alpen hatte sein Vater ihm beigebracht, wie man sich im Wald und im Gelände orientiert. Man sucht sich einen Punkt in naher Entfernung und fixiert diesen, danach sucht man sich einen Punkt, der weiter weg liegt, und dann einen, der noch weiter weg liegt, und nach einiger Übung kann das Auge Gegenstände in größerer Entfernung leichter erkennen. Max ließ seinen Blick auf einer etwa dreihundert Meter entfernten Wasserrinne ruhen, dann auf einer Anhöhe, die dicht mit Dornenbäumen bewachsen war und etwa fünfhundert Meter entfernt lag, und schließlich auf einer Schlucht, die von einer zerklüfteten Felsformation überragt wurde.

Geier.

Reglos hockten sie auf den Felsen und warteten.

Fast zweihundert Meter weiter hinten nahm Max eine Bewegung wahr. Zwei lange, symmetrische, nach oben spitz zulaufende Hörner kamen schaukelnd auf sie zu. Darunter war deutlich das schwarz-weiße Gesicht eines Tiers erkennbar.

»Gämsbock«, sagte !Koga.

Es war eine große Antilopenart, so viel wusste Max, aber dieses Ding da wirkte riesig. Der Kopf dieses Tiers musste mindestens zwei Meter über dem Boden sein. ! Koga lächelte, sagte aber nichts, sondern humpelte auf das Wesen zu. Max starrte das seltsame Tier an, schützte mit der Hand seine Augen vor der gleißenden Sonne. Er wartete geduldig, wie er es von !Koga gelernt hatte, und dann begriff er, dass es Männer waren, die Fleisch und ein Antilopenfell über der Schulter trugen. Ein Trupp von Jägern, der nach Hause zurückkehrte. Es war !Kogas Familie.

Nach einer Stunde gelangten Max und !Koga an einen Siedlungsplatz. Frauen waren gerade dabei, Bienenstockhütten zu errichten, und Kinder spielten auf der grasbewachsenen Lichtung, die von riesigen Kameldornbäumen beschattet wurde. Ringsherum standen Weißrindenbäume mit knorrigen weißen Stämmen und dicht belaubtem Geäst. Das halbe Dutzend Hütten diente den Buschmännern als Behausung, solange sie an diesem Ort bleiben wollten.

Die Jäger waren bereits eingetroffen, und das zerlegte Wild wurde in Brocken und Streifen zum Trocknen auf Pfähle gespießt. Als ! Koga und Max in Sicht kamen, hielten alle mit dem inne, womit sie gerade beschäftigt waren. Eine alte Frau mit einem wind- und wettergegerbten Gesicht, das ganz runzlig und zerfurcht war, rief ! Koga beim Namen, so als kündige sie ihn allen anderen an. Max blieb, wo er war, während ! Koga vortrat und begrüßt wurde, zuerst von den Männern, dann von den Frauen. Doch alle hatten nur Augen für Max. !Koga nickte und lächelte, während er sprach, schließlich drehte er sich um und sah Max an. Alle verstummten. Max fand es furchtbar, der Neue zu sein.

»Ich bin Max Gordon«, sagte er. Doch niemand rührte sich oder sagte etwas. Kein noch so winziges Lächeln. Dann hob ein alter, sehr dünner Mann, der soeben noch an einer geschnitzten Holzpfeife gepafft hatte, die Hand, fuhr sich damit über den stoppeligen Kopf und sagte etwas. Ein Raunen ging durch die Runde. Ein paar Kinder wollten wieder spielen gehen, doch die Frauen nahmen sie auf den Arm. Irgendetwas Wichtiges war gerade geschehen, aber Max war nicht sicher, was. Der Mann trat vor Max hin, nickte ihm zu, so, als wäre er ein alter Freund, legte seine faltige Hand auf Max’ Schulter, sah ihm in die Augen und sprach leise. Max war verlegen, doch der alte Mann setzte seine Rede fort und ließ auch seine Hand, wo sie war. Eine halbe Minute später merkte Max, wie er ruhiger wurde, fast so, als würde sein Verstand die beruhigenden Worten aufsaugen, ohne zu wissen, was sie genau bedeuteten. Schließlich fasste der Greis Max bei der Hand und führte ihn wie ein Kind zu der Gruppe.

»Du hast ja die Traumbilder gesehen«, sagte ! Koga. »Der alte Mann ist …«, er suchte nach den richtigen Worten, »… Bakoko … Er kann Kranke heilen.«

»Ein Medizinmann?«

»Nein … Ich kann es nicht erklären.«

»Du meinst, ein Schamane?«, fragte Max.

»Das Wort kenne ich nicht. Bakoko. Er kann die Träume sehen. Er kann sich in Tiere verwandeln. In einen Leoparden. Einen Adler.«

»Ein Gestaltwandler«, sagte Max. Er war abgeklärt und erwachsen genug, um zu wissen, dass Menschen sich nicht in Tiere verwandelten. Das hatte etwas mit Einbildungskraft zu tun. »Okay«, sagte er. »Er ist ein Schamane. Er wird respektiert. Ich verstehe.« Max fand, Diplomatie sei hier eher angebracht als Skepsis.

»Er kennt die Höhle. Er hat den Traum gesehen«, sagte !Koga.

Beinahe hätte Max laut aufgestöhnt. Wie konnte er ihnen sagen, dass sein Dad die Höhlenzeichnungen angefertigt hatte, um ihm zu zeigen, welche Richtung er einschlagen sollte? Es waren Hinweise, um seinem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Max brachte es nicht übers Herz, ihre Illusion zu zerstören. Es war vermutlich die einzige Hoffnungen, die diesen Leuten blieb.

Sie boten Max einen Platz an einem kleinen Feuer an, als ihr Ehrengast. Die Flammen waren erloschen, nur die Glut glomm noch nach. Eine Gruppe von Männern ließ sich in der Nähe nieder, und !Koga setzte sich ihm gegenüber. Die Anspannung ebbte ab, die Kinder rannten zurück zur Lichtung, und die Frauen nahmen den Hüttenbau wieder auf. Eine Frau brachte ein Straußenei. Sie kniete sich auf den Boden und kratzte die oberste Schicht Asche von der Glut. Dann schob sie ein dünnes Stück Ried durch ein kleines Loch oben am Ei, drückte am unteren Ende eine Klinge in die Schale und schnitt durch Drehen ein Loch hinein. Zuletzt blies die Frau das Eigelb aus und fing es in einem verbeulten Blechnapf auf, den sie darunterhielt. Danach ließ sie das glibberige Eigelb in die Glut des Feuers gleiten. Kurz darauf wendete sie es und briet es von der anderen Seite. Es sah aus wie ein dickes, rundes Naan-Brot, das Max immer zu Hause beim Inder bestellte, und war ungefähr so groß wie ein Teller. Auf einmal verspürte er einen Riesenhunger. Die Frau riss das feste Omelette entzwei und reichte ihm die eine Hälfte, !Koga die andere. Max zögerte. Zwar lief ihm schon das Wasser im Mund zusammen, doch er wollte den anderen nicht das Essen wegnehmen. Das war sicher eine ganz besondere Delikatesse. !Koga jedoch aß, so schnell er konnte. Nun zögerte auch Max nicht länger. Der Ehrengast zu sein, hatte auch seine angenehmen Seiten. Von den Höhlenzeichnungen würde er ihnen später erzählen.

Wieder kam eine Gruppe von Jägern in das Lager. Diese Männer hatten nur kleinere Tiere erlegt, die sie mithilfe von Fallen erbeutet hatten.

Der ältere Mann an der Spitze der Gruppe wurde sehr herzlich von ! Koga begrüßt. Max bemerkte, dass er in seine Richtung sah. Eine Frau gab dem Jäger etwas zu trinken, doch der Mann wandte seinen Blick nicht von Max ab.

Eine kleine Delegation formierte sich: der Schamane, der neu angekommene Jäger, !Koga und ein paar andere. Sie kamen auf Max zu, der sich respektvoll erhob und abwartete. Förmlich reichten ihm die Männer die Hand.

»Ich bin der Vater dieses Jungen«, sagte der Jäger und berührte !Koga an der Schulter. »Ich habe ihn geschickt, damit er dich zu uns bringt.«

»Sie haben meinem Vater geholfen.« Max begann innerlich vor Aufregung zu beben: Endlich stand er vor dem Mann, der seinen Vater vermutlich zuletzt gesehen hatte und der ihm vielleicht weiterhelfen konnte.

»Er ist weggegangen«, sagte der Jäger.

»Wohin?«

»Es war ein Ort des Todes.«

Max fürchtete, sein Herz würde zerspringen. Wollte der Jäger damit sagen, dass sein Vater tot war?

Max wartete und bemühte sich krampfhaft, Ruhe zu bewahren. Der Jäger sagte etwas zu !Koga und den anderen, und es hatte den Anschein, als stimmten sie ihm zu. !Kogas Vater berührte Max am Arm, bedeutete ihm, im Schatten Platz zu nehmen. Die Männer hockten sich hin, und Max machte es sich im Sand bequem. Der Jäger fragte ! Koga etwas, legte die linke Hand unter den Ellbogen des rechten Arms und ließ die Finger wie baumelnde Beine herabhängen – es sah aus wie ein Tier. Wie lautete der Name dieses Tiers?

»Giraffe«, sagte ! Koga.

Sein Vater nickte. »Wir haben eine Giraffe aufgespürt und sie an dem Ort, wo die Erde blutet, getötet. Es war eine schwierige Jagd, unser Gift hat nur langsam gewirkt, und dann hat !Gam, einer unserer besten Jäger, ihr den Speer ins Herz gebohrt.«

»Ist das der Ort des Todes?«

!Kogas Vater schüttelte den Kopf und deutete auf das Lager der Gruppe. »Vier Tage von hier sind unsere Leute …«, er hielt sechs Finger hoch, »gestorben.« Er legte die Fingerspitzen an die Lippen. »Sie trinken. Und sie sterben.«

»War mein Vater bei ihnen?«

»Nein. Er hat unsere Leute sterben sehen. Hat die Männer gesehen.«

»Welche Männer?«, fragte Max, der die Gefahr spürte, die sich in der Geschichte des Jägers verbarg. Sie musste den anderen der Gruppe unbedingt in ihre Sprache übersetzt werden.

»Weiße Männer … schwarze … weit weg. Dein Vater ist ihnen gefolgt, aber er gab mir das Buch mit Papier. Ich hab es in Haut gewickelt. Wir bringen es zu einem weißen Mann, dem wir vertrauen. Viele Tage. Viele.«

»War das van Reenen?«, fragte Max ungeduldig.

»Man nennt ihn van Reenen.«

»Und wo ist mein Vater?«

Der Mann verstummte, entweder weil er die Antwort nicht wusste oder weil er sie nicht zu sagen wagte. Max zog die zusammengefaltete Karte heraus. Sie war inzwischen noch zerschlissener als auf Kallies Farm, wo er sie eingesteckt hatte. Max zeigte darauf in der Hoffnung, dass sie verstanden, worauf er hinauswollte.

»Wo war das? Können Sie es mir zeigen?«

Die Buschmänner kannten jedoch keine Landkarten. Früher hatte es unter ihnen welche gegeben, die im Tausch gegen Schnaps und Essen den weißen Männern bei ihrem Krieg geholfen hatten. Das war viele, viele Jahre her. Sie hatten geholfen, Feinde aufzuspüren und zu töten, die die Buschmänner nicht kannten. Diese Männer hätten die Karte lesen können, aber sie waren lange tot.

!Kogas Vater schüttelte den Kopf. Er fuhr mit der Hand durch die Luft und zeigte in eine Richtung. »Vier Tage von hier. Die Erde blutet.«

Max begriff nicht.

»Es ist ein Ort, an dem man Wasser finden kann, wenn man gräbt«, erklärte ! Koga. Es musste also eine Art Wasserstelle oder ein unterirdischer Wasserspeicher sein, überlegte Max.

»Dein Vater ist ein guter Mann. Er hatte Angst.«

»Angst? Mein Vater? Das glaub ich nicht.«

»Er war ein mutiger Mann, aber er hatte Angst, als er unsere Leute sterben sah.«

Dad war also Männern auf der Spur gewesen, die Buschmänner umgebracht hatten?, überlegte Max. Hatte er Dinge herausgefunden, die ihm Angst gemacht hatten?

»War mein Vater zu Fuß unterwegs? Ist er gelaufen?« »Nein. Er ist in einem Truck gefahren, mit dem anderen weißen Mann.«

»Es war noch jemand bei meinem Vater?«

»Ja. Ich kenne ihn nicht.«

Die letzten Male als sein Vater im südlichen Teil Afrikas zu tun gehabt hatte, war Anton Leopold immer dabei gewesen, das wusste Max. Vermutlich war er der Begleiter seines Vaters gewesen, überlegte er.

Der alte Mann redete eine ganze Weile, und !Koga hörte lange zu, bevor er übersetzte und dabei die Stimme seines Vaters imitierte. »Dein Vater hatte eine Wunde am Bein. Aber er war stark. Er und der andere Mann, sie sind zusammen weggefahren, nachdem er mir die Papiere gab, die ich meinem Sohn brachte. Mein Sohn war jung und stark und machte sich auf den Weg, um mit den Weißen zu sprechen. Er brachte die Papiere zu van Reenen. Das ist alles, was ich weiß. Aber man hat uns gesagt, dass du kommst.«

Max sah auf die Landkarte hinunter. Das Einzige, worauf er hoffen konnte, war herauszubekommen, wo er sich befand und aus welcher Richtung er gekommen war. Er war von Kallies Farm aus nach Norden aufgebrochen, war dann von den bewaffneten Verfolgern in östliche Richtung gedrängt worden. Danach waren sie nach Nordnordost weitergegangen, zur Höhle, und Dads Zeichnungen folgend wieder in östliche Richtung. Auch wenn er berücksichtigte, dass er und !Koga nicht direkt geradeaus gegangen waren, konnte er seine Route auf der Karte ungefähr nachvollziehen. Noch vier Tagesmärsche weiter und sie würden die Stelle erreichen, an der die Buschmänner gestorben waren. Auf der Karte fand er keinen Hinweis darauf, wo das sein konnte. Die Buschmänner hatten jedoch ihre eigenen Namen für bestimmte Orte. Wenn er ihren Tipps folgte, kam er vielleicht schließlich zu seinem Vater. Oder er fand neue Hinweise.

!Kogas Vater streckte die Hand aus und berührte Max’ Gesicht. Max zuckte nicht zusammen. Die Hand des Jägers streichelte seine Wange und der Mann sah ihn an. Er flüsterte etwas, kaum hörbar, und trotzdem hatten es alle verstanden und murmelten zustimmend.

Jetzt geht das schon wieder los, dachte Max. Bestimmt hatte das etwas mit den Höhlenzeichnungen zu tun.

»Geht es um die Höhle?«, fragte er !Koga. Der nickte. »Schau … vielleicht ist es nicht so, wie es aussieht«, sagte Max vorsichtig.

!Koga verstand ihn nicht. »Ich meine«, sagte Max, »vielleicht hat jemand anders die Zeichnungen gemacht. Mein Vater … vielleicht.«

»Dein Vater?«

»Ja, als Nachricht für mich.«

»Dein Vater kann diese Sachen nicht gemacht haben.«

Max sah den Jäger an. »Aber sicher«, sagte er, und seine Stimme hatte einen gereizten Unterton. »Mein Vater hat diese Zeichnungen angefertigt, um mir zu zeigen, wohin ich gehen soll.«

Von den Buschmännern kam keine Reaktion. Dann ergriff der Jäger Max’ Hand und nahm sie in seine. Er schien sehr traurig, so als verabschiede er sich. Die Gruppe wandte sich ab, doch ! Koga reagierte auf eine Geste seines Vaters und sagte etwas, was zornig klang. Während der letzten beschwerlichen Tage hindurch hatte Max !Koga nie so verärgert gesehen. Die Männer blieben stehen, sprachen mit ! Koga und versuchten, ihn zu beruhigen.

Was zum Teufel war los? Max konnte nur zusehen, auf ihre Körpersprache achten und versuchen, ihre Worte zu deuten. Abermals erhob !Koga die Stimme, doch die alten Männer schüttelten nur den Kopf und gingen mit einem letzten, fast mitleidigen Blick auf Max zu den anderen.

!Koga stand da und trat wütend in den Staub. Dann wandte er sich ebenfalls ab.

»Hey, wart doch mal«, sagte Max.

!Koga drehte sich wieder zu ihm um, und Max sah, dass der Junge Tränen in den Augen hatte. Er ging zu ihm.

» ! Koga, was ist denn los? Hab ich etwas gesagt, das alle verärgert hat? Wenn ja, dann bitte ich um Entschuldigung.« !Koga schüttelte den Kopf.

»Was ist dann?«

»Es hat keinen Sinn, darüber zu reden«, antwortete !Koga fast flüsternd, so als seien unausgesprochene Worte wie wilde Tiere, die in einen Käfig gehörten.

Max hatte inzwischen verstanden, dass er in ein riesiges Fettnäpfchen getreten sein musste. » ! Koga, du solltest mir lieber sagen, was geschehen ist, denn ich werde Hilfe brauchen. Dein Vater muss mich doch da hinführen, an diesen … diesen Ort, wo die Erde blutet

!Koga schüttelte den Kopf und drehte sich um.

Max packte ihn am Arm. »Erzähl’s mir! « Er lockerte seinen Griff. Die beiden Jungen sahen sich für einen Moment schweigend an.

»Sie sagen, es wurde prophezeit, dass du kommen würdest«, murmelte ! Koga und wandte den Blick ab, bevor er fortfuhr, »und sie sagen auch, es wurde prophezeit, dass du, wenn du zu uns kommst, sterben würdest.«

Es dauerte eine Weile, bis die Worte zu Max durchgedrungen waren.

»Ich werde sterben? Also … wir müssen alle mal sterben. Und in den letzten Tagen waren wir ein paarmal dicht dran … Ach, komm schon, !Koga. Du kannst doch diesen Humbug nicht glauben.«

!Koga unterbrach ihn, berührte seinen Arm und wies auf das Lager der Gruppe. »Hier. Dort wirst du sterben.«

Max sah sich um. Es war momentan einer der sichersten Orte, die er sich vorstellen konnte. Eine Ansammlung von Wohnhütten, es wurde gekocht, Kinder spielten, Lachen erklang. Er befand sich inmitten der sanftesten und glücklichsten Menschen, die er je kennengelernt hatte. Er war hier doch in Sicherheit.

»Sie irren sich«, versicherte er seinem Freund.

»Nein. Sie haben gesagt, du wirst hier sterben.«

In ! Kogas Augen trat jetzt ein anderer Ausdruck. »Und ich werde dich töten.«