15

Kallie van Reenen war von Natur aus misstrauisch. Daran gab sie ihrem Vater die Schuld. Er mochte ein Kriegsheld gewesen sein, aber der Krieg in Angola, so erklärte er ihr immer wieder, war ein schlechter Krieg, den man aus keinem vernünftigen Grund, sondern nur aus purer Habgier geführt hatte. Nachdem Kallies Dad die Regierung offen kritisiert hatte, wurde er von den Behörden dermaßen schikaniert, dass er schließlich nach Namibia zog, ein Land außerhalb des Machtbereichs der damals unversöhnlichen südafrikanischen Regierung. Jetzt war das alles vorbei, aber sein Misstrauen gegenüber der Bürokratie war geblieben.

Seit Kallie dahintergekommen war, dass Mike Kapuo etwas mit diesem Peterson in England zu tun hatte, galt ihr Misstrauen nun auch der Polizei – genau den Leuten, bei denen sie Hilfe gesucht hatte.

Als man sie zu ihrem Flugzeug zurückbrachte und der Mechaniker der Polizei die Probleme behoben hatte, gab sie als Flugziel »nach Hause« an, flog jedoch zu einer Landepiste südlich von Walvis Bay. Das vermittelte immerhin den Eindruck, als flöge sie tatsächlich zur Farm zurück. Als sie fünf Stunden später bei einer Wüstenstation zum Nachtanken landete und alles noch einmal ganz genau absuchte, bestätigte sich ihr Verdacht. Sie fand den GPS-Sender.

Eine halbe Stunde später hob ein Flugzeug, das von einer Safari kam und die nächsten Tage auf einem Vorfeld in Windhoek stehen würde, mit der elektronischen Wanze an Bord ab.

Kurz nachdem sie den kleinen Sender dort angebracht hatte, war der Pilot dieser Maschine aufgetaucht. »Sind Sie nicht van Reenens Tochter?«, fragte er.

»Ja, bin ich«, sagte sie und konnte ihre Verlegenheit kaum verbergen. Wäre er nur Sekunden früher gekommen, hätte er sie an seinem Flieger herumhantieren gesehen.

»Falls Sie jetzt zu Ihrem Vater fliegen, seien Sie besser vorsichtig«, sagte er und warf seine kakifarbene Reisetasche ins Cockpit. »Die IATA hat den namibischen Luftraum gesperrt, die Funkstation in Outjo ist abgeschaltet. Es gibt keine Flugsicherung mehr.«

»Oh. Aha. Danke. Das wusste ich noch nicht.«

»Wurde heute Früh gemeldet. Ich fliege jetzt nach Hause. Wenn die Tourismusindustrie erst mal davon erfährt, sind wir alle arbeitslos. Aber nur keine Hektik.« Er begann mit den Vorflugkontrollen, und als sie ging, konnte sie ihre Erleichterung über die gute Nachricht, die er ihr mitgeteilt hatte, kaum verbergen.

Die IATA, also der Internationale Luftverkehrsverband, der weltweit den gesamten Luftverkehr überwachte, hatte das Flugsicherungssystem der namibischen Regierung abgeschaltet. Wenn die wichtigste Funkstation nicht mehr in Betrieb war, hatten Flugzeuge keinen Überblick mehr über den Verkehr in ihrem Luftraum und konnten nicht sicher landen. Und wenn die Luftraumüberwachung abgeschaltet war, war sie auf den Radarschirmen nicht zu sehen.

Von jetzt an würde sie nur noch in geringer Höhe fliegen und ihr Flugziel nicht mehr angeben.

 

Kallie musste sich mit Sayid in Verbindung setzen. Am besten ging das über Tobias, und um ihn zur Mitarbeit zu bewegen, gab es nur eine Möglichkeit – sie musste an sein schlechtes Gewissen appellieren.

Die kleinen Landestreifen in der Wüste und in der Nähe von Farmen hatten keine Kontrolltürme. Da ging es ebenso locker zu wie an Tankstellen. In der Regel gab es dort eine Treibstoffpumpe, ein paar Mechaniker und einen Laden, manchmal auch eine Bar. Als sie dort landete, war nur ein anderes Flugzeug zum Tanken da und keine Spur von dem falschen Mechaniker, der ihr Flugzeug manipuliert hatte. Sie trat in die Bar und schritt auf Tobias zu, der gerade ein Bierfass an die Zapfanlage anschloss.

Sobald er sie sah, griff er in die Kasse und zog ein Blatt Papier heraus. »Du hast mich angeschmiert! Weißt du, was dieser Anruf in England gekostet hat? Dein Vater zieht mir bei lebendigem Leib die Haut ab, wenn ich ihm das hier gebe!«

Sie setzte sich auf einen Barhocker, außer ihr war niemand da. »Tobias, du hast mich fast umgebracht«, sagte sie, ohne eine Miene zu verziehen. Tobias starrte sie mit offenem Mund an, verunsichert und verwirrt. »Erinnerst du dich noch an den Eiskalten Wüstenschreck, den du mir gemixt hast?«, fragte sie.

»Klar. Aber da war kein Schnaps drin. Ehrlich.«

»Ich weiß.« Sie wartete. Sie wollte ihn noch ein wenig länger auf die Folter spannen.

»Ich habe die Früchte und Zutaten selbst gemixt. Ist dir davon etwa schlecht geworden? Lebensmittelvergiftung? Vielleicht hast du ja noch was anderes gegessen?«

»Ich rede von der alten Flasche, Tobias. In deinem Wüstenschreck müssen vergorene Früchte gewesen sein. Die Flasche ist explodiert.«

»Explodiert?« Er versuchte, sich den Augenblick vorzustellen, als sein Gebräu aus der Flasche herausgeschossen war. »Hat die Flasche dich getroffen?«

Kallie nahm Eiswürfel aus einem Kübel, warf sie in ein Glas, griff nach einer Karaffe mit Limonade und schenkte sich ein. »Ich darf mir doch was zu trinken nehmen, oder?«, fragte sie.

Er nickte, rätselte aber immer noch, womit er ihr wohl geschadet haben mochte.

»Das Zeug ist explodiert und hat mich vollgespritzt, mich und natürlich das ganze Cockpit, die ganze Elektronik, alles war nass, und die Zylinderspule der Hydrauliksteuerung hat einen Kurzschluss bekommen.« Sie sagte einfach das Erste, was ihr einfiel. Tobias konnte zwar jeden Drink der Welt mixen, aber von Flugzeugen hatte er keine Ahnung.

»Ist das was Schlimmes?«, fragte er.

»Schlimmer als schlimm. Hab’s gerade noch so geschafft. Ich musste das melden, habe aber nichts von dir oder dem Wüstenschreck erwähnt.«

»Danke, Kallie, tut mir leid, ich hab nicht geahnt, dass ein Fruchtsaft so viel Ärger machen kann.«

»Ein explodierender Fruchtsaft, Tobias.«

»Stimmt.«

»In einem Behälter, der für diesen Zweck nicht geeignet war.« Die Formulierung hatte sie einmal in einem Zeitungsartikel über Verbraucherrechte gelesen.

»Sicher, die Flasche war alt, aber immerhin war es doch eine Flasche, und deswegen muss sie geeignet gewesen sein, denn dafür sind Flaschen doch da«, sagte er.

Kallie spürte, dass sie bei dem Versuch, Tobias mit ihrer Geschichte hinters Licht zu führen, ein wenig zu weit gegangen war. Sie musste ihn wieder in die Realität zurückholen.

»Ich hätte sterben können, Tobias.«

Er nickte ernst.

»Aber ich hab’s überlebt. Und da dachte ich, ich besuch dich mal und sag dir Bescheid. Damit du dir keine Sorgen machst.«

Tobias dachte kurz darüber nach. »Aber ich hätte mir keine Sorgen gemacht, weil ich nichts davon gewusst hätte, wenn du nicht gekommen wärst und es mir erzählt hättest.«

»Jetzt pass mal auf. Willst du, dass mein Dad von dieser Sache erfährt?«

Er schüttelte den Kopf. So etwas konnte sich nun wirklich niemand wünschen, der noch alle Tassen im Schrank hatte.

»Nein. Natürlich nicht. Und glaub mir, ich hab auch nicht die Absicht, es ihm zu erzählen.«

»Ich danke dir, Kallie.«

»Schon gut. Du bist doch mein Freund.«

»Das freut mich.«

»Nicht wahr? Und Freunde helfen sich gegenseitig.«

»Das finde ich auch.« Tobias nickte ernst, denn damit war ihre Freundschaft aufs Neue besiegelt. Aber ihm war schon klar, dass in dieser speziellen Freundschaft eine Geste der Wiedergutmachung fällig war. »Also, was habe ich dafür zu tun?«

»Es kränkt und schockiert mich, dass du denkst, ich würde jetzt etwas von dir verlangen«, sagte sie und füllte ihr Glas wieder auf. Sie nahm einen Schluck Limonade. Er wartete. Sie zuckte mit den Schultern. »Du brauchst mich nur noch mal telefonieren zu lassen.«

 

Sayid hatte Putzdienst im Waschtrakt. Die Jungen wurden zu dieser Arbeit eingeteilt, schrubbten die Duschen, säuberten die Toiletten, wischten die Fliesen, polierten die Spiegel und sorgten dafür, dass immer ausreichend Klopapier da war. Niemand tat das gern, und manche Jungen schlossen untereinander Abkommen, um sich vor ihrem wöchentlichen Dienst zu drücken – der fiel nicht in die Unterrichtszeit, denn dann hätte es Scharen von Freiwilligen gegeben, sondern auf ihren freien Nachmittag. Jeden Mittwoch brachte der Schulbus die Jungen nämlich in die Stadt, wo Kinos und Cafés, Plattenläden und Buchhandlungen lockten, und wo einige der älteren Jungen unerklärlicherweise ihre Zeit damit verbrachten, Mädchen anzuquatschen.

Sayid hatte freiwillig mit einem seiner Freunde getauscht, angeblich, weil er für Ende des Jahres ein paar freie Mittwochnachmittage ansammeln wollte. Tatsächlich brauchte Sayid die Stunden, um sich ungestört mit der rätselhaften Telefonnummer zu beschäftigen, die Peterson angerufen hatte und die sich einfach nicht lokalisieren ließ.

Sayid hatte noch nie so große Schwierigkeiten beim Hacken gehabt, wie jetzt bei dem Versuch, die Codes des Datenspeichersystems der Telefongesellschaft zu knacken. Im Prinzip ging es um die einfache Ermittlung einer verschlüsselten Telefonnummer. Eine Rückwärtssuche hatte nichts ergeben, weil die Nummer nicht eingetragen war. Auf seinem Monitor war kurz eine Londoner Adresse erschienen, aber gleich wieder verschwunden. Dort, wo in einem großen Fenster mit orangefarbenem Hintergrund die Zwischenstationen der Telefonverbindungen angezeigt werden sollten, war der Monitor einfach schwarz geblieben. Wie die meisten Hacker war Sayid Autodidakt, aber fähig und zäh genug, lange an einem Problem zu arbeiten. Am Anfang hatte er mit Python programmiert, dann mit Java und war schließlich zu C gekommen, aber die ewige Fehlersucherei war ihm zu lästig, und so hatte er seine Hardware aufgerüstet und wieder mit Python weitergemacht. Er wusste, eines Tages würde er auch LISP lernen müssen, die älteste Programmiersprache, aber um damit vernünftig umzugehen, brauchte man Zeit und Erfahrung; trotzdem war sie immer noch die erste Wahl, wenn es um elektronische Recherchen ging. Allmählich machte Sayid sich in der Netzgemeinde einen Namen. Was die Hacker miteinander verband und zusammenhielt, war ihre Freude am Programmieren. In Amerika gab es Leute, die ihr Leben in Kellern verbrachten, umgeben von Computern, vertieft in die unendlichen Möglichkeiten, die vor ihnen lagen. Sayid kannte einige, die in den Forschungsabteilungen großer Computerhersteller arbeiteten, und obwohl ihre Namen natürlich alle verschlüsselt waren, hatte er an einen von ihnen ein dringendes Hilfegesuch geschickt. Das war gestern gewesen.

Er fuhr ein letztes Mal mit dem Gummischrubber über den Kachelboden: alles blitzsauber. Er hatte in kurzer Zeit gute Arbeit geleistet. Jetzt musste er auf sein Zimmer zurück. Er stellte das Warnschild auf – Achtung! Nasser Boden! – und baute Mopp, Eimer, Schrubber und Putzmittelflaschen zu einem kleinen Hindernisparcours auf, für den Fall, dass ein Lehrer neugierig wurde. Sollte etwas davon umgestoßen werden, konnte er rechtzeitig aus seinem Zimmer zurückeilen und so tun, als sei er nie fort gewesen.

Über seinen Monitor tanzte gerade ein kleiner Derwisch. Eine Nachricht aus Amerika. Um die Nachricht zu empfangen, musste er den Derwisch doppelklicken. Kaum hatte er das getan, füllte sich der Bildschirm mit Buchstabengewirr, und er gab eine zuvor vereinbarte Zugangskennung ein. Die Ziffern schossen wie Harpunen vom unteren Bildschirmrand nach oben, rissen einzelne Buchstaben und Wörter heraus und setzten sie neu zusammen, bis die ganze Nachricht dekodiert war.

 

hey, hier ist dein Code King Buddy. wie geht’s? das ist eine große sache, mann. diese nummer. die telefonzentrale kannst du vergessen, da kommst du sowieso nicht weiter. absolut zwecklos. der kann überall sein und die rufumleitung benutzen. cool, diese nummer. keine zeit für ratespielchen. dein mann ist außer reichweite. verschlüsselung durch spionageabwehr. den namen kriegst du nie. der ist beim MI6. sei vorsichtig, freund. friede und viel glück, bloß nicht den bösen.

 

Der britische Geheimdienst. Mit so einem mächtigen Gegner hatte Sayid nicht gerechnet. Er starrte den Bildschirm noch einige Sekunden lang an, dann löschte er alles. Wenn der MI6 hinter Max’ Vater her war, musste er etwas Ernstes angerichtet haben. Peterson hatte demnach Verbindungen zu viel höheren Stellen als irgendein stinknormaler Erdkundelehrer. Sayid versuchte, aus all dem schlau zu werden. Max’ Vater war verschwunden; jemand hatte Max töten wollen. Und Peterson war Max zum Flughafen gefolgt. Die Polizei in Namibia hatte Kontakt zu Peterson, und Peterson bat den MI6 um Hilfe. Was immer Max’ Vater herausgefunden hatte, es versetzte viele in Panik, und alle versuchten, Max daran zu hindern, seinen Vater und dessen Geheimnis aufzuspüren. Sayid unterbrach seine Grübeleien, er war auf dem falschen Weg. Das war keine MI6-Operation. Der Staat hatte damit nichts zu tun. Peterson hatte einen gut platzierten Kontaktmann, an den man nicht herankam, um Hilfe gebeten. Das heißt, man schuldete Peterson einen Gefallen, also hatte Peterson in der Vergangenheit vielleicht mal irgendeine Drecksarbeit für den MI6 erledigt. Das war schon logischer. Und noch beängstigender. Wie war Peterson als Lehrer an die Dartmoor High gekommen? Über welche Macht verfügte er, dass er von einer ausländischen Polizeieinheit Hilfe erhielt?

Sein Handy klingelte, das Display zeigte einen unbekannten Anrufer an, aber die Nummer war ihm vertraut.

»Sayid, ich bin’s.«

»Kallie. Hast du Max gefunden?«

»Nein, er wird immer noch vermisst. Ich weiß nicht, ob in diesem Fall keine Nachricht eine gute Nachricht ist. Aber allmählich wird es ziemlich verrückt.« Sie erzählte ihm, was ihr passiert war und wie sie sich bemühte, möglichst unbemerkt zu bleiben. Sie sei felsenfest überzeugt davon, dass der Hafen von Walvis Bay, Shaka Changs Reederei und sein Lagerhaus etwas mit Tom Gordons Verschwinden und Anton Leopolds Tod zu tun hatten. Und dass das alles sie irgendwie zu Max führen werde.

»Hör zu, Kallie, Max ist mein bester Freund, aber ich glaube, du solltest dich da raushalten«, sagte Sayid, dem allmählich klar wurde, dass sie alle total den Boden unter den Füßen verloren hatten.

»Ausgeschlossen. Man hat versucht, mich umzubringen. Ich stecke da mit drin, und die ganze Sache mit der Polizei und deinem Mr Peterson stinkt zum Himmel. Da soll etwas vertuscht werden, und ich werde herausfinden, was das ist – und wenn ich das geschafft habe, musst du die britischen Behörden informieren, das Außenministerium oder wen auch immer, weil ich nicht weiß, wem ich hier draußen trauen kann.«

»Ich weiß auch nicht, wem ich hier trauen kann. Ich habe ein bisschen herumgeschnüffelt. Mr Peterson bekommt Unterstützung vom MI6.«

»Wie bitte? Vom Geheimdienst?«

»Genau. Hier geht es um etwas viel Größeres, als wir gedacht haben, Kallie.«

Kallie verstummte, und Sayid nahm an, dass sie wie er darüber nachdachte, wie es weitergehen sollte.

»Ist mir egal, Sayid. Ich lasse mich nicht von meinem Plan abbringen.«

»Und wie sieht der aus?«

»Ich überfliege die Strecke von Walvis Bay zu den Bergen. Shaka Changs Lastwagen transportieren schweres Gerät aus dem Hafen. Anton Leopold wurde im Hafen umgebracht. Ich komme da nicht rein, aber sie bringen bestimmt was raus. Und dann folge ich ihnen.«

»Das ist gefährlich, Kallie. Wahrscheinlich sind die bewaffnet. Wenn sie dich entdecken, könnten sie dich wie eine Tontaube vom Himmel schießen.«

»Ich fliege hoch genug«, log sie, denn ihr war klar, dass sie ab einer gewissen Flughöhe von den militärischen Kontrolltürmen erfasst würde.

»Es gefällt mir gar nicht, dass wir nicht ständig in Verbindung sein können«, sagte Sayid.

»Daran lässt sich leider nichts ändern. Ich habe nun mal kein Satellitentelefon.«

»Und ich auch nicht.«

»Also. Was soll’s.«

Das klang so endgültig, dass sich sein Gewissen regte. »Ich muss aber mehr tun können, als einfach nur hier herumzusitzen«, sagte er, obwohl er wusste, wie sinnlos das war. Denn jenseits ihrer schlimmen Befürchtungen blieb eine Tatsache be stehen: Ein Vater und sein Sohn waren in einer feindlichen Umgebung verschollen. Beide waren britische Staatsbürger, und Sayid dachte daran, wie ihm selbst die Staatsbürgerschaft verliehen worden war, nachdem Max’ Vater sich für ihn und seine Mutter eingesetzt hatte. Man hatte ihnen ein neues Leben geschenkt, sie durften an einem Ort leben, an dem sie vor den Schrecken des Krieges sicher waren, deshalb würde er jetzt nicht stumm bleiben. »Ich gehe zur Polizei, Kallie. Was da vorgeht, ist nicht richtig. Es ist einfach nicht richtig. Ich werde denen alles erzählen, was ich herausgefunden habe. Dann kann die Polizei selbst Alarm schlagen, und wenn die das nicht tut, wende ich mich an die Zeitungen.«

»Das ist doch total gefährlich. Die Polizei könnte den Spieß umdrehen und dich festnehmen. Und die Spione könnten dich mit Leichtigkeit irgendwo verschwinden lassen. Sayid, mach keine Dummheiten.«

»Und du? Was machst du? Auf die Weise kommt vielleicht wenigstens einer von uns an Leute heran, die was unternehmen können. Von dir werde ich kein Wort sagen, egal mit wem ich rede.«

»Ich werde dich auch nicht verraten, wenn sie mich schnappen.« Sie überlegte eine Weile. »Hey, ich hoffe, wir treffen uns irgendwann mal.«

»Ich auch.«

»Und Max.«

»Klar. Ganz bestimmt.«

»Fürs Erste sind wir zwei auf uns allein gestellt«, sagte sie.

»Nein. Genau genommen sind wir zu dritt, und Max ist stark, und er ist sehr konsequent in allem, was er tut. Er würde auch noch mit zwei gebrochenen Beinen versuchen, kriechend sein Ziel zu erreichen. Wir müssen so mutig sein wie er, Kallie. Ich muss was unternehmen.«

Bei diesen letzten Worten wurde ihm klar, dass er alles aufs Spiel setzte, was er hatte. Und nicht nur er selbst. Womöglich wurde am Ende auch seine Mutter ausgewiesen, und sie beide würden in das Land zurückgeschickt werden, in dem sein Vater ermordet worden war.

»Wir sollten bald wieder miteinander sprechen«, sagte er. »Sicher. Viel Glück, Sayid.«

»Wünsch ich dir auch.« Sayid schaltete das Handy aus. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Einige Minuten später stand er vor dem Zimmer seiner Mutter. Er klopfte an, und sie rief: »Herein!«

Er öffnete die Tür. Seine Mutter korrigierte Klassenarbeiten. Sayid blieb stehen. Sie sah ihn kurz an und bemerkte, wie nervös er war.

»Was gibt’s denn?«, fragte sie freundlich.

 

Kallie sah auf den in der Hitze flimmernden Landestreifen hinaus und legte ihre Route fest. Sie hatte noch einen weiten Weg vor sich, dabei war sie nach dem langen Flug jetzt schon müde.

Tobias stellte sich neben sie. Er trank einen Schluck Bier und sagte leise: »Sprich mit deinem Vater. Der wird wissen, was zu tun ist.«

Sie schüttelte den Kopf. Wenn es nur so einfach wäre, aber sie wusste, das durfte sie nicht riskieren. Ihr Vater liebte sie, daran hatte sie keinen Zweifel, aber seine Reaktion konnte einen kleinen Krieg auslösen, und sie wollte nicht zwischen die Fronten geraten.

Jemand hatte ein Dartmoor-Fohlen überfahren. Die Hochmoorstraße war nicht nur eine Touristenattraktion, sondern wurde von den Einheimischen auch als Abkürzung durch das Moorgebiet zu einer der Hauptstraßen genutzt. Üblicherweise hielten die Leute nicht an, wenn sie ein Tier überfahren hatten, sei es ein Schaf oder ein Pony, und auch diesmal war es nicht anders.

Hilfspolizistin Debbie Shilton hatte veranlasst, dass der Bauer sein verendetes Tier von der Straße holte, und nachdem sie ihren Bericht geschrieben hatte, schloss sie jetzt die Tür der kleinen Dorfpolizeiwache hinter sich. Die Teilzeitpolizistin hatte einen anstrengenden Tag gehabt; erst hatte sie zwei Nachbarn beruhigen müssen, die sich wegen der Höhe der Hecke zwischen ihren Grundstücken in die Haare geraten waren, und dann hatte sie vor dem Frauenklub des Dorfs im Gemeindesaal einen Vortrag über Sicherheit in den eigenen vier Wänden gehalten, auch wenn in diesem Teil der Welt keine allzu großen Gefahren lauerten. Ein Polizist wurde hier eigentlich kaum gebraucht, und im Etat der Polizei war kein Geld für jemanden vorgesehen, der Formulare wegen vermisster Hunde oder Vorfahrtsvergehen ausfüllte, aber der Tod des Fohlens bekümmerte sie. Sie begriff einfach nicht, wie manche Leute so gefühllos sein konnten. Ein Tier überfahren und dann verletzt liegen lassen – das ging entschieden zu weit, und sie wollte, dass die Schuldigen, falls sie jemals ermittelt wurden, die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekamen. Aber das geschah leider nur selten, selbst dann, wenn sich Missetäter auf frischer Tat ertappen ließen. Manchmal machte es sie richtig krank, wie sich die Leute verhielten. Vielleicht war sie nicht einmal für den Job als Hilfspolizistin geeignet.

Ein Auto fuhr langsam vor und hielt schließlich an. Neben der Fahrerin mittleren Alters saß ein Junge. Der Junge wirkte nervös, die Frau verängstigt.

»Bitte, können Sie uns helfen?«, fragte die Frau.

Und schon hatte Shilton ihre Selbstzweifel vergessen – anderen Leuten zu helfen, dafür war sie da. Obwohl sie beim Anblick des Jungen annahm, dass es wahrscheinlich bloß um ein entlaufenes Haustier ging. Sie schenkte Sayid ein mitfühlendes Lächeln.