7

Die zweimotorige Beechcraft Baron hob elegant von der Rollbahn ab. Der Nebel hatte sich gelichtet, und Ferdie van Reenen war wieder ein glücklicher Mann. Die Sonne schien, er saß im Cockpit seiner Maschine und hatte zahlende Gäste an Bord. Er wedelte zum Abschied mit den Tragflächen, und Kallie winkte vom Flugfeld zurück. Das Einzige, was ihm Sorgen machte, während er jetzt die Maschine in die Kurve legte und einer seiner Passagiere ängstlich nach Luft schnappte, war die Tatsache, dass seine Tochter nicht auf ihn hören würde.

»Hör zu, wenn auch nur der leiseste Hauch von Ärger in der Luft liegt oder wenn irgendwelche windigen Typen auftauchen, holst du Mike Kapuo zu Hilfe. Das ist ein guter Mann. Der lässt nicht zu, dass in seinem Revier irgendwas aus dem Ruder läuft.«

Natürlich hatte Kallie genickt. Kapuo war in der Tat ein guter Polizist, allerdings umfasste sein Revier immerhin eine Fläche von mehreren Hunderttausend Quadratkilometern. Kapuo hatte unter den Wildtierschmugglern ordentlich aufgeräumt und die Polizeistation in Walvis Bay mit einer fähigen, von ihm persönlich ausgebildeten Mannschaft besetzt; schließlich hatten sie es mit Kriminellen aus aller Herren Länder zu tun.

Aber egal, wie tüchtig Mike Kapuo auch war, im Moment trennten ihn vierhundert Kilometer von Kallie, die zuschaute, wie die Maschine ihres Vaters in den blauen Himmel aufstieg.

Kallie hatte eigentlich auf direktem Weg nach Hause fliegen sollen, aber die Benzinleitung machte noch immer Probleme, und so hatte ihr Vater entschieden, dass sie dableiben und warten sollte, bis die Mechaniker ihrer alten Cessna grünes Licht erteilten. Allzu traurig war Kallie deswegen nicht. So blieb ihr wenigstens etwas Zeit, erneut Max anzufunken, außerdem wollte sie diesen Sayid in England erreichen. Vielleicht wäre es auch nicht verkehrt, bei Mike Kapuo anzurufen, denn jeder schwere Unfall würde früher oder später bei der Polizei gemeldet werden. Es sei denn, die Opfer waren bereits von wilden Tieren gefressen worden. Warum nur ging Max nicht ans Funkgerät?

In dem kleinen Gebäude, das den Flugsafaris als Zwischenstation diente, bestellte Kallie an der Bar etwas Kaltes zu trinken und zog das altmodische Telefon zu sich heran, den einzigen Apparat weit und breit mit Festnetzanschluss. Von hier aus würde sie versuchen, England anzuwählen. Tobias, der Mann hinter dem Tresen, lächelte ständig. Ein Lächeln, das genauso fröhlich wirkte wie die knallbunten T-Shirts, die er immer trug. Er lebte nach der afrikanischen Philosophie ubuntu, die besagte, dass genug für alle da war und Teilen die einzige zivilisierte Lebensform darstellte. Aber kostenlose Anrufe nach England zählten nicht dazu. Er zog den Apparat vorsichtig über den Tresen zurück.

»Tobias, komm schon, Alter. Ein Anruf.«

»Und wie soll ich das erklären? Nein.«

»Du kannst es meinem Vater auf die Rechnung setzen.« »Ich? Ich soll das deinem Vater in Rechnung stellen? Wohl kaum.«

»Er prüft die Rechnungen doch ohnehin nie nach, das mach immer ich.«

»Aber ich wäre derjenige, der deinen Vater betrügt. Nein.« Tobias wischte die Theke mit einem feuchten Lappen ab, obwohl das gar nicht nötig war. Er hatte es gern, wenn alles vor Sauberkeit blitzte. Kallie versuchte, nicht auf die feuchten Stellen zu fassen.

»Tobias, das wäre doch kein Betrug. Jedenfalls kein richtiger. Höchstens ein klitzekleiner. Oder wir lassen den Anruf einfach über die Vermittlung laufen. Die rufen zurück und sagen dir, wie viel der Anruf gekostet hat. Ich bezahl das dann, und du gibst mir eine Rechnung. Na, wie klingt das? Es ist wirklich wichtig, ehrlich.«

Irgendetwas erschien ihm faul an der Sache, aber Tobias kam nicht drauf, was es war. Nur zögerlich nickte er. Kallie nahm den Hörer ab und gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass dies eine Privatangelegenheit war und er gefälligst abschwirren sollte. Tobias verzog sich ans andere Ende der Bar.

 

In der Abgeschiedenheit seines Zimmers öffnete Sayid den großen gepolsterten Umschlag, holte eine kleine Schachtel heraus und balancierte kurz darauf ein knopfähnliches Stück Metall auf seiner Fingerspitze. Es war nicht größer als die Batterie seiner Armbanduhr, aber wenn er es schaffen sollte, das Ding in Mr Petersons Telefon zu platzieren, konnte er sämtliche Gespräche mithören. Aus seinem Handy plärrte die Erkennungsmelodie von Mission Impossible. Das Display zeigte Anrufer unbekannt.

»Hallo?«

Die Leitung knackte und rauschte. »Sayid?«

»Ja«, antwortete Sayid zögerlich.

»Mein Name ist Kallie van Reenen.«

Sie erklärte ihm schnell, wer sie war.

»Kallie! Moment!«, sagte Sayid, als ihm die Bedeutung des Anrufs bewusst wurde. Schnell stöpselte er das Handy in den Laptop ein und ließ die Finger über die Tastatur sausen, um ihre Stimme zu verzerren für den Fall, dass jemand mithörte. »Okay. Die Leitung ist jetzt sicher. Hast du was von Max gehört?«

»Nein. Du?«

»Nichts. Wo ist er?«

»Keine Ahnung. Ich werde die Polizei einschalten müssen, ich hätte ihm erst gar nicht helfen dürfen.«

Sayid wusste, dass es keinen Sinn hatte, sich Vorwürfe zu machen. »Er wäre auch so gefahren.«

»Genau das hab ich meinem Dad gesagt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.«

»Kallie, die Polizei konnte Max’ Dad nicht finden, und sie wird auch Max nicht finden. Zu viel Aufsehen würde nur schaden und die falschen Leute auf den Plan rufen. Aber ich hab was herausgefunden, was Max vermutlich noch nicht weiß.«

Während er sprach, zog Sayid seine Schreibtischschublade auf, fasste mit der Hand darunter und entfernte den Brief, der mit Klebeband am Holz befestigt war. Er ging zur Tür, spähte nach draußen, ob auch niemand da war, und zog sie wieder zu.

»Bist du noch dran?«, fragte er mit gedämpfter Stimme.

»Ja klar«, sagte Kallie.

»Gestern ist ein Brief angekommen, von Max’ Dad. Der wurde direkt an mich geschickt. Das hat er schon mal so gemacht. Als ob er niemandem sonst trauen würde. Ich hab mir den Poststempel angesehen. Der Brief ist fast eine ganze Woche früher abgeschickt worden als der letzte, den Max noch gekriegt hat. Er hat also nur die Hälfte gewusst, als er nach Afrika aufgebrochen ist.«

»Wo wurde der Brief aufgegeben?«

»Walvis Bay, Namibia.«

»Walvis Bay.« Kallie klang nachdenklich.

»Ist das wichtig?«

»Ich weiß es nicht. Das ist der größte Hafen hier, und da herrscht reger Schiffsverkehr. Was steht denn drin?« Kallie hörte das leise Rascheln von Papier in der Leitung.

Sayid ging immer wieder zur Tür und warf einen prüfenden Blick in den Korridor. Er wollte nicht belauscht oder gestört werden, vor allem nicht von Mr Peterson. Wenn es Leute gab, die Max daran hindern wollten, seinen Vater zu finden, würden sie sicher die Leitungen überwachen. Sayid konnte also nicht lange sprechen, denn ganz gleich, wie schlau auch seine Idee gewesen war, den Stimmabdruck zu verzerren, früher oder später würde diese Leute seine Codes knacken.

»Wir haben nicht viel Zeit. Kann sein, dass die mein Telefon abhören.« Sayid las Kallie den Brief vor, den Max nie erhalten hatte.

 

»Max, weißt du noch, in Ägypten? Seth macht hier Probleme. Ich hab sein Geheimnis entdeckt. Leopold trifft sich mit dir in Eros. Fahr sofort los. Viel Zeit bleibt nicht. Hab dich lieb. Dad. «

 

»Fast wie ein Telegramm«, sagte Sayid. »Die Erosstatue steht am Piccadilly Circus. Dieser Leopold wollte Max anscheinend an einen sicheren Ort bringen. Aber er ist nie aufgetaucht.«

Kallie hatte aufmerksam zugehört. »Wissen wir, wer dieser Leopold ist?«, fragte sie.

»Nicht mit Gewissheit. Ich weiß, dass sein Dad einen Mitarbeiter hat, einen Deutschen oder Österreicher, der sich in Namibia auskennt. Die Chancen stehen gut, dass es Leopold ist.«

»Und wer ist Seth?«

»Hab ich schon recherchiert. Max und sein Dad sind in den Sommerferien immer in der Weltgeschichte rumgegondelt, und Ägypten war eins ihrer Lieblingsländer. Seth ist der Gott des Chaos. Mehr weiß ich nicht. Ach und noch was, hier gibt’s einen Lehrer, Peterson, und ich weiß, dass er Max verfolgt hat. Der steckt bis zum Hals da mit drin. Der Brief ist übrigens mit der Hand geschrieben worden, mit Bleistift … so wie der andere.«

»Sein Vater hat ihn also warnen wollen. Und weil kein Telefon in der Nähe war, musste er schreiben. Jemand anders muss den Brief für ihn aufgegeben haben, denn er ist in Walvis Bay abgestempelt und da gibt’s massenhaft Telefone. Er muss gewusst haben, dass jemand versuchen würde, Max was anzutun. Vielleicht ist das der Seth, den Max’ Dad meint.«

Kallie überlegte. Das Einzige, was sie mit ziemlicher Sicherheit sagen konnten, war, dass Max’ Vater seinen Sohn vor irgend etwas gewarnt hatte. Alles andere blieb ein Rätsel. Jedenfalls ging es nicht mehr nur um einen Jungen, der seinen verschollenen Vater in der Wildnis von Namibia suchte.

»Er sollte hierherkommen, Sayid. London hat nichts damit zu tun. Es war nicht die Erosstatue gemeint, sondern der Eros Airport in Namibia. Und dieser Leopold sollte ihn hier abholen, aber das hat er nicht getan.«

»Kallie, ich muss Schluss machen«, unterbrach Sayid sie. »Ruf wieder an, ja? Ich schätze, wir sind die Einzigen, die Max helfen können, da heil wieder rauszukommen. Schick mir eine SMS, sobald du kannst.«

»Das wird schwierig, Sayid. Bei uns gibt’s kaum Funkmasten, außer, man ist in der Nähe einer Stadt. Auch Telefone gibt’s so gut wie keine. Aber ich werde hier vor Ort aktiv werden. Und wenn’s was wirklich Wichtiges gibt, kannst du bei einem Typ namens Tobias eine Nachricht hinterlassen. Der kann die Leute von der Flugüberwachung bitten, dass sie mich anfunken. Und du, nimm dich vor diesem Peterson in Acht!« Sie gab ihm Tobias’ Telefonnummer und legte den Hörer auf.

Tobias stand am anderen Ende des Tresens und polierte mit andächtiger Sorgfalt Gläser. Er warf einen Seitenblick auf Kallie, die still auf ihrem Hocker saß. »Gibt’s Ärger?«

»Vielleicht. Wenn hier ein Junge aus England anruft, gib mir Bescheid, ja?«

»Klar, mach ich.« Er reichte ihr eine alte Thermoskanne. »Ist ein langer, heißer Flug, bis du zu Hause bist. Ich hab dir meinen Eiskalten Wüstenschreck gemacht. Geht aufs Haus.«

Aber Kallie hörte nur mit halbem Ohr zu.

»Bloß nicht zu doll schütteln, ja? Die Thermoskanne ist schon alt. «

»Was? Oh ja … danke, Tobias.« Kallie kletterte vom Barhocker und ging mit der Thermoskanne unter dem Arm in Richtung Tür. Das Telefon läutete und Tobias hob ab.

»Hallo? Ja.« Es war die Dame von der Vermittlung. »Ja, der Anruf kam von hier. Wie viel hat das Gespräch gekostet? Auf ein Handy? … Bitte, wie viel?« Kallie war schon am anderen Ende des Raums angelangt.

»Kallie! «, schrie Tobias.

»Setz es meinem Vater auf die Rechnung! Ich hab kein Geld dabei!«, rief Kallie noch, bevor sie durch die Tür marschierte.

Stimmt, Kallie trug nie Bargeld bei sich. Da wusste Tobias auch wieder, was ihm vorhin nicht hatte einfallen wollen.

Sie hatte einen anstrengenden Flug vor sich, über dreihundert Kilometer gegen starken Wind bis nach Walvis Bay. Sie musste Mike Kapuo persönlich sprechen. Ganz gleich, was ihr Vater darüber dachte, sie musste jetzt mit dafür sorgen, dass Max nichts passierte. Da draußen gab es offenbar ein paar üble Gestalten, die unbedingt verhindern wollten, dass er seinen Vater fand.

Hätte sie das alles doch bloß schon etwas früher gewusst! Dann hätte sie … was? Ihn aufgehalten? Max würde tun, was immer er für richtig hielt. Kallie lief zu dem Hangar, in dem ihre alte Cessna stand. Einer der Mechaniker schlug gerade die Motorhaube zu, und als er Kallie sah, winkte er und lächelte. Alles wieder paletti.

Kallie van Reenen verfluchte sich, dass sie Max auf eigene Faust hatte losziehen lassen. Ihr einziger Trost war, dass !Koga ihn begleitete.

 

Max wollte schreien. Die Löwin hatte den bereits leblosen Körper heftig geschüttelt. Sie drehte sich um und schleifte die Beute mit sich, dorthin, wo diese letztendlich gefressen werden würde.

Max hatte mit seinem eigenen Schmerz zu kämpfen. Er war hinter ! Koga hergelaufen, und war dann, völlig entkräftet, gestrauchelt und auf einen Stein gestürzt. Sein Bein tat höllisch weh. Er konnte nicht mehr aufstehen, war vollkommen hilflos. Max versuchte, den Schmerz nicht gewinnen zu lassen, und erstickte den aufsteigenden Schrei in seiner Kehle.

Plötzlich war ! Koga bei ihm. Der Buschmann-Junge fasste unter seine Achseln und schleifte ihn unsanft hinter einen der Felsen.

Am Fuß des Hanges, an der Stelle, wo sie den Kadaver des Springbocks abgelegt hatten, waren auf einmal zwei Männer mit Gewehren aufgetaucht. Sie bewegten sich flink und geschickt durchs Gelände. Wie hatten sie sie so schnell aufspüren können? Max fiel ein, dass der Landrover Öl verloren hatte. Dieser Spur mussten die Männer gefolgt sein. Von der Stelle aus, an der das kaputte Fahrzeug zurückgelassen worden war, hätte jeder gute Fährtenleser sie finden können.

Die Männer blieben kurz stehen und schauten in die Richtung von Max und !Koga, ohne jedoch die Jungen zu entdecken. Einer der Kerle setzte seinen Hut ab und fächelte sich Luft zu. In diesem Moment war die sandfarbene Löwin schon auf zehn Meter herangekommen, und mit einem lautlosen Sprung griff sie an.

Der zweite Mann, der keine fünfzehn Meter entfernt nach Fußspuren suchte, fuhr herum, als er den dumpfen Knall hörte, mit dem sein Freund zu Boden schlug.

Sein gellender Schrei hallte durchs ganze Tal. Vergebens tastete er nach seinem Gewehr, und dann kam bereits die zweite Löwin heran und machte sich bereit. Der Mann drehte sich um, brüllte und versuchte, auf dem ansteigenden Grund zu rennen, um dem Tier zu entkommen.

Hätte der Mann nicht so laut geschrien, wäre er vielleicht am Leben geblieben. Der tote Springbock lag zwischen ihm und der Löwin, und der blutverschmierte Kadaver war für sie interessanter als der Mann. Doch seine Panik weckte ihre natürlichen Instinkte, und sie konnte nicht widerstehen. Sie setzte ihm nach, um mit ihm zu spielen wie die Katze mit der Maus.

Max vergaß sein schmerzendes Bein und kam hinter dem Felsen hervor. Er sah alles mit an – ein unwirklicher Moment, als würde die Zeit stillstehen.

Der Mann hob den Blick und erkannte den Jungen, den er hatte töten sollen. Mit seinem letzten Atemzug flehte er ihn an: »Hilf mir, Junge, hilf mir doch!«

Max schrie aus Leibeskräften und warf einen Stein nach der angreifenden Löwin – ein hilfloser Versuch, denn er landete viel zu weit weg, sodass sie ihn nicht einmal bemerkte. Der Mann stolperte und fiel rücklings hin. Die Großkatze hatte, als Max in ihre Richtung brüllte, für einen Moment zu ihm gesehen, doch der Junge interessierte sie nicht. Ihre Beute lag bereits vor ihr am Boden.

Es war schnell vorbei.

Max spürte, wie sich sein Magen hob. Mit ansehen zu müssen, wie ein wehrloser Mensch zerfleischt wurde, war einfach zu viel für ihn. Er würgte und musste sich übergeben. !Koga schwieg. Die Löwinnen fraßen. Geier ließen sich neben dem Kadaver des Springbocks nieder, und Hyänen schnappten in wilder Gier nach Knochen und rissen am Fleisch.

Die Jungen kehrten den fressenden Tieren den Rücken zu und kletterten weiter. Sie wollten jetzt schnell zum Gipfel hinauf, nur weg aus dem Tal der Toten.

 

Max verfolgte jede von ! Kogas Bewegungen, während sie sich durch das unwegsame Gelände kämpften. Sie hatten seit dem Löwenangriff kein Wort miteinander gesprochen. Der schroffe Fels schnitt in Max’ Finger, während er mühsam nach Halt tastete, doch das nahm er kaum wahr.

In ihm gärte ein seltsames Gefühl, das schwer in Worte zu fassen war, aber wäre sein Vater hier gewesen, hätte er ihn ohne große Erklärungen verstanden. Die Ereignisse der letzten Tage hatten in ihm eine Erkenntnis reifen lassen. Er war von Anfang an fest entschlossen gewesen, die Sache durchzuziehen und alles dranzusetzen, seinen Vater zu finden. Doch jetzt wusste er, dass er es mit allem aufnehmen konnte, was sich ihm in den Weg stellen würde. Irgendwo tief in seinem Inneren war eine Kraftquelle verborgen, aus der er schöpfen konnte.

Die Höhle vor ihnen war der perfekte Zufluchtsort vor der brütenden Tageshitze, die den Felsen fest im Griff hatte. Die Jungen hangelten sich schon mehrere Stunden den Berg hinauf, kämpften sich auf schmalen, von Tieren ausgetretenen Pfaden vorwärts, während sich das Tal, das unter ihnen immer weiter in die Ferne rückte, in das Trugbild eines glitzernden Sees verwandelte.

!Koga erreichte die Höhlenöffnung als Erster und streckte Max die Hand hin, um ihn über den felsigen Rand des kleinen Plateaus zu ziehen, auf dem die Höhle lag. Es war an der Zeit auszuruhen, und sie belohnten sich mit einem Schluck von dem kostbaren Wasser. Über ihren Köpfen prangte ein Überhang aus dem Fels, der Schutz bot vor der heißen Sonne. Max war, als blickte er aus einem schwebenden Heißluftballon über die sanft hügelige Landschaft, die sich vor ihm ausbreitete, so weit das Auge reichte. Dieses Land war unerbittlich und rau.

Er zog sein Fernglas unter dem Hemd hervor. Die Linsen waren verstaubt und schweißverschmiert, und er wischte sie mit etwas Spucke sauber. Dann hielt er es sich vor die Augen und schaute umher. Kleine Staubwirbel zogen durch die Ebene, der Horizont verschwamm im Hitzedunst, und dunkle Wolkengrüppchen trieben langsam über der Linie dahin, die Himmel und Land trennte. Sie waren noch zu weit weg, um bald Regenfälle zu bringen.

Die untergehende Sonne tauchte die scharf gezackten Berggipfel im Osten in ein tiefes Rot. Max fand, dass sie wie blutverschmierte Krokodilzähne aussahen. Er wusste, dass er damit aufhören musste, andauernd diese grausigen Gedankenbilder zu entwerfen, doch es war nicht von der Hand zu weisen, dass diese Berge etwas Ungezähmtes, Wildes hatten, ganz anders als die sanften Granitriesen zu Hause in Dartmoor. Er starrte auf das bunte Farbenspiel, mit dem die Sonne am Horizont versank, bis nur noch eine blutrote Linie blieb.

!Koga stand da und schaute zu, wie die Sonne schließlich ganz verschwand. Und Max ertappte sich dabei, wie er den jungen Jäger eingehend musterte. Sein magerer Körper war von Staub bedeckt, seine Augen waren rot gerändert und wund. Ein leichter Windstoß könnte den Buschmann von der Klippe reißen, dachte Max, so federleicht kam er ihm vor. Aber !Koga war unermüdlich gewesen. Er hatte nicht ein einziges Mal geklagt. Er hatte für Max sein Leben aufs Spiel gesetzt, hatte für ihn gejagt und getötet. Mit viel Geduld hatte er Max gezeigt, dass das Land eine Stimme hatte, dass es atmete und Schmerzen litt.

!Koga lebte im Einklang mit diesem erbarmungslosen Flecken Erde, und das hatte ihnen das Leben gerettet, so viel hatte Max begriffen. Die Buschmänner verstanden die Welt auf ganz ursprüngliche Weise und lebten danach. Das verlieh ihnen eine besondere Kraft. Auch Max meinte mittlerweile, sie in sich spüren zu können.

!Koga gehörte zu einem vom Aussterben bedrohten Volk, und Max wusste, dass es ein Privileg war, mit dem jungen Buschmann zusammen zu sein, der ihm inzwischen so nah stand wie ein Bruder.

Er berührte !Koga an der Schulter, und der Junge sah ihn mit traurigen Augen an.

»Das war ein harter Tag, aber wir haben uns echt gut geschlagen«, sagte Max.

!Koga nickte und schaute wieder auf den immer dunkler werdenden Himmel. Er sagte etwas, was Max nicht verstand. Ein Klicklaut. »Gauwa.«

Max zuckte mit den Achseln. »Ich versteh dich nicht.«

»Das ist der Gott, der das Licht des großen Vaters wegnimmt. Das ist Gauwa. Es ist die Zeit, wenn der Geist der Toten kommt.«

»Meinst du damit die Dunkelheit? Die Nacht?«

!Koga wirkte unsagbar traurig, und Max begriff, dass der Buschmann-Junge das Verschwinden der Sonne als schmerzlichen Verlust empfand. Er zeigte gen Osten, hinter die Berge, die jetzt in verschiedene Schattierungen von Schwarz gehüllt waren.

»Morgen, ja? Von dort kommt sie morgen wieder.«

!Koga nickte ernst, er wusste das. Trotzdem fühlte er sich verlassen.

Die Temperatur fiel unter den Gefrierpunkt, Max spürte das deutlich. Das dünne Baumwollhemd und die Hose boten nur wenig Schutz vor der Kälte, zumal beides so aussah, als hätte sich jemand mit einer Rasierklinge darüber hergemacht. ! Koga, der nur einen Lendenschurz trug, schien die Kälte nichts auszumachen.

Sie brauchten ein Feuer, und zwar schnell. Max’ Plastikfeuerzeug war bei seinem Sturz auf den Felsen zersplittert. Er zeigte ! Koga die kaputten Einzelteile, aber der schien davon gänzlich unbeeindruckt. ! Koga zog ein kleines Holzkreuz mit einer Kerbe in der Mitte und ein dünnes Stöckchen aus seinem Beutel. Er legte das Kreuz auf den Boden, wo er es mit dem Fuß festhielt. Dann führte er das Stöckchen in die Einkerbung und drehte es so lange zwischen beiden Händen hin und her, bis es anfing zu schwelen.

Max hatte das in ähnlicher Weise schon ein- oder zweimal beim Camping ausprobiert. Um einen Funken zu erzeugen, brauchte man trockenes Moos oder Flechten, und das war in der feuchten Region von Dartmoor schwer aufzutreiben.

!Koga griff noch einmal in den Beutel und holte etwas Zunder heraus. Es sah aus wie Überreste eines Vogelnests – dürres Laub und Gras. Er hielt es ans untere Ende des Stöckchens und fing so die Hitze ein. Sanft blies er darüber, bis weißer Qualm aufstieg. Kurz darauf knisterte ein Feuer, das wieder ein Lächeln auf ! Kogas Gesicht zauberte.

Erst als das Feuer richtig brannte und ! Koga ein paar Brocken Springbockfleisch unter die heiße Glut geschoben hatte, ging Max auf, wo er sich befand. Er stand in einer hoch gewölbten Höhle, die sich noch gut zwanzig Meter in die Dunkelheit erstreckte.

!Koga sah Max an und nickte. Hierher hatte der Buschmann-Junge ihn also von Anfang an bringen wollen, so viel wusste Max jetzt. ! Koga las eine Handvoll brennender Zweige auf, hielt sie in die Höhe, und das Licht kroch in die hinteren Nischen der Höhle.

Der Widerschein der Fackel tanzte über die Wände. Nun waren Bilder auf dem Fels zu erkennen: Andeutungen von Tieren, in Ocker gemalt; Jäger und ihre Geschichten. Es war der Ort der Vorfahren, der Ort, wo die Geister der Toten wohnten.

Die Prophezeiung.