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Trotz ihres Namens war die Dartmoor High keine normale Oberschule. Das Gebäude thronte, in den Felsen gebaut wie eine kleine mittelalterliche Festung, oberhalb der Schneegrenze am nördlichen Rand des Dartmoor National Parks. An dieser Stelle hatte sich angeblich einst ein Außenposten der zwanzigsten Legion Roms befunden, die Britannien in der Antike eine Zeit lang besetzt hatte.

Ursprünglich war Dartmoor High zu Zeiten von Königin Viktoria als Gefängnis für straffällig gewordene Geisteskranke gebaut worden, um die Gefangenen an einem möglichst entlegenen Ort wegzusperren. Doch nach ein paar Nächten in dem düsteren Gemäuer, in dem die Fantasie jedes Heulen des Windes in ein böses, unheilvolles Stöhnen verwandelte, allein mit den Gefangenen, hatten sich sogar hartgesottene Gefängniswärter geweigert, dort weiter Dienst zu tun. Schließlich wurden die Insassen unter etwas menschlicheren Bedingungen in einer anderen Gegend untergebracht.

Am Ende einer abwechslungsreichen Geschichte wurde aus dem Gebäude eine Privatschule, die ihre Schwerpunkte auf Sport und anspruchsvolle Bildungsinhalte legte.

 

Hundert Jahre später war Dartmoor High immer noch eine reine Jungenschule. Einige der früheren Absolventen waren Forschungsreisende geworden, Soldaten, Piloten, Beamte beim MI6, erfolgreiche Geschäftsleute oder leisteten Bahnbrechendes als Ärzte; sogar ein sehr bekannter Rockmusiker hatte hier die Schulbank gedrückt. Sie alle profitierten von dem Selbstvertrauen, das Dartmoor High ihnen vermittelt hatte. Die Schüler kamen aus der ganzen Welt, und die Schule galt heute als exklusive Einrichtung für Zwölf- bis Sechzehnjährige. Sie stand zwar in dem Ruf, äußerst streng zu sein, was viele Neuankömmlinge verschreckte, doch bald schon stellten die meisten Jungen fest, dass die Lehrer zwar hart, aber fair waren, und sie entdeckten, dass eine so bemerkenswerte Schule viel Abwechslung bot. Es wurde Wert darauf gelegt, dass die Jungen selbst herausfanden, ob sie das Zeug für diese Schule hatten. Wenn nicht, konnten sie jederzeit auf eine andere wechseln. Allerdings wollten die meisten Jungen nach einer kurzen Eingewöhnungszeit Dartmoor High nicht mehr verlassen, trotz des heulenden Windes, der strengen, kalten Winter und des angrenzenden militärischen Übungsgeländes.

Wie Wild gejagt und zur Strecke gebracht zu werden, gehörte jedoch nicht zum Lehrplan.

 

Max’ Schnittwunden und Prellungen wurden von Matron versorgt. Obwohl Dartmoor High eine Jungenschule war, legte der Direktor großen Wert darauf, dass es auch weibliche Vorbilder gab. Aus diesem Grund zählten ein paar Frauen zu den Mitarbeitern. Im Moment sehnte sich Max vor allem danach, von seiner Mutter in den Arm genommen zu werden. Tränen brannten in seinen Augen, doch er gab sich Mühe, tapfer zu sein und so zu tun, als schmerzte bloß das Desinfektionsmittel, das Matron auf die Wunde auftrug. Matron murmelte ein paar tröstende Worte, dass man sich fürs Weinen nicht zu schämen brauchte und sie niemandem davon erzählen würde. Aber Max kümmerte es nicht, ob jemand dies erfahren würde. Er hatte eine Ewigkeit geweint, als seine Mum vor vier Jahren gestorben war, und er verdrückte unweigerlich auch jetzt ein paar Tränen. Max atmete ein paarmal tief durch, und kurz darauf ging es ihm schon wieder besser. Er war am Leben. Note: zehn von zehn möglichen Punkten.

 

Nachdem Max vom Schularzt untersucht worden war und bei der Polizei ausgesagt hatte, erfuhr er, dass es ein Fallschirmjäger gewesen war, der ihn mit einem beherzten Sprung aus der Schusslinie des Maschinengewehrfeuers gebracht und ihm so das Leben gerettet hatte. Sein Angreifer war im Kugelhagel umgekommen. Die Armee übte schon seit zwei Wochen auf dem Gelände, wo sie ein Schießtraining mit scharfer Munition durchführte. Nur zufällig hatte der scharfsichtige Soldat bemerkt, dass Max verfolgt wurde, und war ihm zu Hilfe geeilt.

»Ich habe mit der Polizei gesprochen, Max, sie wissen nicht, wer der Tote ist. Noch nicht jedenfalls«, berichtete sein Schuldirektor. Fergus Jackson sah nicht wie ein gewöhnlicher Rektor aus. Er trug stets Cordhosen, Wanderstiefel und wollene Rollkragenpullover.

Max nippte an der heißen Schokolade, die ihm irgendjemand auf dem Weg zu Jacksons Arbeitszimmer in die Hand gedrückt hatte. In dem großen Raum, in dem er jetzt stand, prasselte ein behagliches Feuer im Kamin, um den abgenutzte, rissige Ledersessel und Sofas angeordnet waren. Bunte Teppiche bedeckten den Dielenboden.

Mr Peterson, Max’ Vertrauenslehrer, war ebenfalls mitgekommen und machte ein besorgteres Gesicht als sonst. Seine Erscheinung ähnelte der eines schussligen Buchhalters. Er hatte zottlige Haare, trug eine Brille und schien stets tiefschürfenden Gedanken nachzuhängen. Doch dieser Eindruck täuschte, denn Mr Peterson führte ein sehr aktives Leben und erklomm die höchsten Berge der Welt, wenn er nicht gerade Geografie- oder Wildwasserkanu-Unterricht gab.

Der Anschlag auf Max war allen ein Rätsel. Es war einfach schleierhaft, warum irgendjemand die Absicht haben sollte, ihn zu töten.

»Glauben Sie, der Angriff könnte ein Zufall gewesen sein?«, fragte Max. »Sie wissen schon, irgendein Verrückter, der aus seiner Höhle gekrochen kommt, weil er nun mal den Drang dazu verspürt?«

»Nach dem, was du berichtet hast, war er fest entschlossen, dich zu töten. Ansonsten hätte er sich ja einfach wieder aus dem Staub machen können, als du weggerannt bist«, erwiderte Mr Jackson. »Wie hast du den Hinterhalt eigentlich bemerkt?«

Max erinnerte sich an das Geräusch, als die Pistole entsichert wurde. Dieser Moment hatte sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt.

In den Ferien stand es den Jungen frei, an der Dartmoor High zu bleiben, um an den zahlreich zur Auswahl stehenden Aktivitäten teilzunehmen: Bergexpeditionen, Kajakfahrten und sogar Bärenbeobachtungen in Kanada. Wer wollte, fuhr allerdings nach Hause zu seinen Eltern. Eine unumstößliche Schulregel war jedoch, dass alle Schüler mindestens einmal pro Jahr ihre Familien besuchten, damit Mr Jackson und seine Kollegen die Chance bekamen zu verschnaufen.

Max verbrachte die Ferien immer mit seinem Dad. Für ihn gab es nichts Schöneres! Tom Gordon war ein … na ja, Max war sich nicht hundertprozentig sicher, was sein Dad war, aber wohl so etwas wie ein Hydrologe-Geologe-Archäologe, der um die ganze Welt reiste. Er spürte unterirdische Quellen in Wüsten auf und half Dorfbewohnern in Entwicklungsländern, an sauberes Wasser zu kommen. Er legte verschüttete Städte frei, identifizierte untergegangene Zivilisationen und tauchte nach gesunkenen Schiffen. Kein Wunder, dass sein Dad ihn gedrängt hatte, an die Dartmoor High zu gehen – er wollte, dass sein Sohn genauso belastbar und leistungsfähig wurde wie er selbst. Das Leben soll ein Abenteuer sein, sagte er Max immer wieder, aber dafür muss man gut gerüstet sein. Geistige und körperliche Fitness war absolut notwendig.

Es war jetzt anderthalb Jahre her, dass Max das metallische Klicken gehört hatte, als sein Dad eine 9-mm-Pistole entsichert hatte. Max hatte nie zuvor solche Angst gehabt und auch zum ersten Mal diesen Blick seines Vaters gesehen. Er hatte damals begriffen, dass sein lächelnder, herzlicher, liebevoller Vater, den er so sehr verehrte, auch eine abgründige Seite hatte und kalt wie Eis sein konnte.

In den besagten Sommerferien hatte Max seinen Vater in Sansibar getroffen, und von dort aus waren sie auf einer Dau die Ostküste Afrikas entlanggesegelt. Sein Dad hatte sich Urlaub genommen und Max ein spektakuläres Riff gezeigt, an dem es von Haien nur so wimmelte. Unter der sanften Dünung des Indischen Ozeans war das Meer voll davon. Am achten Tag jedoch waren Piraten in einem unverwüstlichen Sturmboot an ihr Segelschiff herangebraust. Mit ihren leistungsstarken Außenbordmotoren war es ein Kinderspiel gewesen, die aus Holz gebaute Dau einzuholen. Diese modernen Freibeuter verfügten auch über ein gutes Nachrichtennetz, dank dessen sie in den Häfen erfuhren, wer gerade wo segelte. Es war bekannt, dass sie Jachten überfielen und die Besatzungen töteten. Die Mannschaft auf der Dau war entsetzt über das halbe Dutzend Männer, jeder mit einer AK-47 ausgerüstet, diesem nahezu unverwüstlichen Arbeitspferd aus der Welt der Waffen. Max’ Vater war beim Anmarsch der Piraten in die Kabine gehuscht und kurz darauf zurückgekommen, genau in dem Augenblick, als der erste Pirat an Bord kletterte. Höhnisch lachte er die verängstigte Crew aus und zeigte dabei seine goldüberkronten Zähne. Da hatte Max’ Vater einen flinken Schritt nach vorn gemacht, den Hals des Mannes mit der linken Hand gepackt und an einer bestimmten Stelle fest zugedrückt. Der Pirat konnte sich nicht mehr rühren und sein Gewehr fiel klappernd aufs Deck. Schnell feuerte Tom Gordon zweimal in die Benzintanks des Piratenboots – die Druckwelle der gewaltigen Explosion hatte Max um ein Haar umgerissen. Die Piraten suchten das Weite, und Max’ Vater stieß den verängstigten Piraten von Bord. Das alles hatte sich innerhalb weniger Sekunden abgespielt. Tom Gordon schrie auf Arabisch ein Kommando, die Dau drehte bei, und die Piraten klammerten sich schreiend an das, was von ihrem Boot noch übrig war.

»Aber Dad! Hier gibt’s doch Haie!«, stieß Max hervor.

»Daran hätten sie denken sollen, bevor sie losfuhren, um unschuldige Menschen umzubringen«, erwiderte sein Dad, der zwar ein finsteres Gesicht zog, aber anders als die anderen an Bord nicht sonderlich erschüttert schien. Dann hatte er gelächelt und war wieder der gute alte Dad, den Max so gernhatte. In diesem Moment dämmerte ihm, dass sein Vater viele Facetten hatte, die er wohl nie alle kennenlernen würde.

»Sie haben die Möglichkeit, ihren Kameraden an Land ein Signal zu senden, aber bis die hier sind, haben wir uns schon aus dem Staub gemacht und sind für sie außer Reichweite. Und in der Zwischenzeit können sie sich ans Schiffswrack klammern.«

Die Erinnerung klang noch eine Weile nach, bis Max schließlich merkte, dass Mr Jackson und Mr Peterson auf seine Antwort warteten.

»Oh … Entschuldigung. Ich hab gehört, wie der Mann, der mich töten wollte, seine Waffe entsichert hat, so etwas hab ich schon gesehen und gehört, als ich mit meinem Vater unterwegs war. «

Jackson und Peterson blickten sich für einen Augenblick an.

»Max«, sagte Jackson zögernd, »wir haben versucht, deinen Vater zu erreichen, aber … wir sind nicht sicher, wo er ist. «

»Er könnte überall sein«, sagte Max. »Vielleicht sollten Sie es mal bei der Organisation versuchen, für die er arbeitet.«

Jackson zögerte wieder, überlegte, ob er Max mitteilen sollte, was er wusste. Doch dann brach Peterson das Schweigen. »Das haben wir. Anscheinend … wird er vermisst.« Max nahm den tadelnden Blick nicht wahr, den Jackson dem Geografielehrer für dessen Taktlosigkeit zuwarf. »Das solltest du wissen«, sagte Peterson noch.

Wird vermisst. Das klang irgendwie bedrohlich. Unter anderen Umständen wäre Max nicht allzu beunruhigt gewesen – es kam öfter vor, dass sein Vater per Funk oder Handy nicht zu erreichen war. Aber jetzt?

»Es ist über eine Woche her, dass er sich das letzte Mal bei jemandem gemeldet hat«, sagte Jackson.

Max nickte, verschiedene Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, als er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und sich vorzustellen, was mit seinem Dad passiert sein konnte.

»Wo war er unterwegs?«

»In Namibia.«

Das Diamantenland. Seine Küste erstreckte sich über Tausende Kilometer entlang des südlichen Atlantiks. Große Teile des Lands waren Sperrzone, weil es dort Diamanten gab, die nur darauf warteten, aufgesammelt zu werden. Von Namibia hatte Max’ Dad schon früher erzählt: Das Land bildete ein riesiges Dreieck, mit einer Fläche, die größer war als Frankreich und Großbritannien zusammen. Abgesehen von seiner nebelverhangenen Küste gab es dort vorwiegend unfruchtbare, heiße Wüste und Buschland. Die Okawangosümpfe mit ihren Krokodilen lagen weiter östlich in Botswana. Angola lag nördlich in Richtung des Kunene, und im Süden grenzte Namibia an Südafrika.

Es gab jede Menge Tiere, die man jagen konnte – Löwen, Elefanten … Aber was sonst? Max brachte keinen vernünftigen Gedanken zustande. Sein Dad war womöglich verletzt oder noch Schlimmeres. Jemand hatte vorgehabt, ihn zu ermorden. Hatte derjenige vorher seinen Vater gefangen genommen oder gar getötet? Aber warum?

Die Stimme von Jackson unterbrach seinen Gedankengang. »Falls das kein zufälliger Angriff auf dich war, müssen wir natürlich davon ausgehen, dass es hier einen Zusammenhang gibt.« Max nickte. Was würde sein Dad in dieser Situation von ihm erwarten? »Unter diesen Umständen«, sprach Jackson weiter, »sollten wir ins Gewölbe gehen, finde ich.«

Das Gewölbe. Da hörte man die Stimmen der Toten. Max kannte ein paar der Jungen, deren Eltern gestorben waren – und mit allen war man ins Gewölbe hinuntergegangen. Jeder Schüler hatte seinen eigenen Schlüssel, verwahrt in Jacksons Safe, mit dem man eins der Schließfächer in den unterirdischen Kammern der Dartmoor High öffnen konnte. Das Gewölbe war sicher gegen Feuer, Bomben und Sonstiges, weil es in den Granitfelsen gehauen war, auf dem das Schulgebäude stand. Starben die Eltern eines Schülers, musste laut Gesetz ein Vormund bestellt werden, der sich um den Jungen kümmerte, und ein Dokument mit dem entsprechenden Namen befand sich im Schließfach eines jeden Jungen. Manchmal enthielt es auch persönliche Briefe und Erinnerungsstücke und in der Regel ein rechtsverbindliches Papier, auf dem der Name des im Erbfall zuständigen Notars stand. Außerdem bestand an der Dartmoor High für alle Eltern die Pflicht, eine digitale Aufnahme für ihr Kind zu hinterlegen. Sollte sich ein Unglück ereignen, war die tröstliche Stimme des Vaters oder der Mutter so ziemlich das Einzige, was dem hinterbliebenen Jungen half, sein Trauma zu verarbeiten. Davon war Jackson überzeugt.

Stimmen von Toten. Ins Gewölbe gehen, das hatte so etwas Endgültiges.

Matron klopfte an die angelehnte Tür des Arbeitszimmers und Jackson bedeutete ihr mit einem Nicken hereinzukommen. »Wir dachten uns, wir gehen morgen dorthin, Max«, sagte Jackson. Matron hatte ein Glas Wasser und eine Pillendose dabei. »Der Doktor meinte, du solltest die Nacht erst mal schlafen. Das wird dir helfen, mit dem Ganzen zurechtzukommen.« Matron hielt ihm die Schlaftablette entgegen. »Es ist nur ein leichtes Beruhigungsmittel. Okay?«, versicherte ihm Jackson. Max nickte, legte sich die Tablette in den Mund, trank einen großen Schluck Wasser und lächelte Jackson, Peterson und Matron zu.

»Guter Junge«, sagte Matron.

»Wir wollen hier keine Unruhe verbreiten, Max, darum lautet die offizielle Version, dass du aus Versehen ins Sperrgebiet geraten und dort unglücklich gestolpert bist. Einverstanden?«

Max nickte.

Kaum hatte er das Arbeitszimmer des Rektors verlassen, spuckte Max die Tablette aus. Er hatte sie sich unter die Zunge geschoben und nur so getan, als hätte er sie hinuntergeschluckt. Nicht, weil er seinen Lehrern misstraut hätte, nein, er wollte nur einfach einen klaren Kopf behalten und alles durchdenken. Genau das hätte sein Dad von ihm erwartet. Deswegen hatte er ihn in erster Linie in diese Schule gesteckt.

 

Max’ Zimmer war groß genug für ein Einzelbett, einen kleinen Tisch, den er als Schreibtisch benutzte, einen Stuhl, einen Bücherschrank, eine Truhe für seine persönlichen Sachen und einen eintürigen Kleiderschrank. Auch wenn der Raum ursprünglich mal eine Gefängniszelle gewesen war, bot er jetzt doch genug Platz für alles Wesentliche – außer für einen Fernseher, aber den gab es im Gemeinschaftsraum jedes Internatshauses. An der Dartmoor High gab es insgesamt vier Häuser: das Haus Adler, zu dem Max gehörte, und die Häuser Wolf, Otter und Dachs.

Max streckte sich auf seinem Bett aus. Ihm war klar, dass ihm womöglich die schwierigste Zeit seines Lebens bevorstand. Falls sein Vater umgebracht worden war, war er jetzt Waise. Nein, das glaubte er einfach nicht. Sein Vater war doch mit allen Wassern gewaschen. Kaum stellte sich dieser positive Gedanke ein, kam ihm gleich ein anderer in die Quere. Niemand ist unsterblich, und wenn die – wer immer die auch waren – seinen Vater getötet hatten, mussten sie ihn aus dem Hinterhalt überfallen haben. So wie sie es bei Max versucht hatten.

Max stieß einen tiefen, bekümmerten Seufzer aus. Er war entkommen, sein Vater vielleicht auch.

Er drehte den Kopf auf dem Kissen zur Seite und ließ den Blick träge zum Schreibtisch und zum Bücherregal wandern. Irgendetwas stimmte da nicht. Er sah noch einmal genauer hin. Die Sachen waren anders angeordnet als sonst. Ein kleiner Stapel Schulbücher lag quer auf dem Tisch. Er legte sie aber immer an eine ganz bestimmte Stelle, weil er gern den linken Ellbogen daraufstützte, während er seine Hausarbeiten machte. Und die kleine Figur eines Kriegsgottes von den Cookinseln stand jetzt ein Stück vom Fenster abgewandt, dabei sollte sie doch direkt aufs Moor blicken. Was war sonst noch angerührt worden? Ein paar kleine Steine aus den Ruinen von Aglasun in der Türkei, die Alexander der Große auf seinem Weg nach Persien erobert hatte; ein Bergkristall aus dem Himalaja, in dem ein magisches Licht schimmerte, das angeblich aus der Höhle eines alten Mystikers stammte; der tropfenförmige Bernstein aus Russland, in dessen Harz sich vor hundert Millionen Jahren ein Insekt verfangen hatte. Alles Dinge, die sein Vater ihm geschenkt hatte. Nun schärften sich Max’ Sinne. Während er seinen Blick durchs Zimmer wandern ließ, fiel ihm auf, dass irgendjemand Bücher aus dem Wandregal herausgezogen, sie durchgesehen und dann ein bisschen zu ordentlich wieder zurückgestellt hatte. Auch die Artefakte standen nicht genau da, wo sie vorher gestanden hatten. Die Jungen hatten ihre Zimmer schon länger nicht mehr putzen müssen, deshalb waren alle Oberflächen von einer feinen Staubschicht überzogen, in der sich nun verräterische Umrisse abzeichneten. Max fragte sich, was um alles in der Welt der Eindringling in seinem Zimmer gesucht haben konnte.

Es klopfte an der Tür. »Max?« Es war Sayid, dessen Mutter an der Schule Arabisch unterrichtete. Max ließ ihn herein und zog dann schnell wieder die Tür ins Schloss. Sayid war sein bester Freund. Als Max’ Vater im Nahen Osten gearbeitet hatte, war Sayids Vater von Terroristen getötet worden. Max’ Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und dafür gesorgt, dass Sayid und seine Mutter Leila nach Großbritannien auswandern durften. Max hatte nie erfahren, welche Verbindung zwischen den beiden Männern bestanden hatte. Er wusste nur, dass sie Kollegen gewesen waren und dass Tom Gordon irgendwie in der Schuld der Familie Khalif stand. Tom Gordon hatte seinem Sohn erklärt, Sayid und seine Mutter brauchten einen sicheren Ort zum Leben, wo sie außer Gefahr wären, und hatte Max gebeten, sich ein bisschen um den Neuen zu kümmern. Und das hatte Max auch gemacht, aber inzwischen war Sayid schon so lange an der Schule, dass er niemanden mehr brauchte, der ihm das Händchen hielt.

»Hier geht’s zu wie in ’nem Bienenstock, Max. Armee und Polizei gehen ein und aus. Was ist denn los?«, flüsterte Sayid.

»Ich bin joggen gewesen und dachte mir, ich schau mir mal die Waffen an«, erwiderte Max achselzuckend.

»Dafür kannst du Ausgangsverbot kriegen! Dann kannst du dir die Samstage in der Stadt für ein paar Monate in die Haare schmieren.«

»Ja, ich weiß, das war blöd. Das Geballere war trotzdem irre. Die ganze Erde hat gebebt.«

Sayid schaute sich unwillkürlich zur geschlossenen Tür um, und Max merkte, dass sein Freund etwas auf dem Herzen hatte.

»Max, sag’s mir lieber, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich bin schließlich dein Freund.«

»Ja, klar. Es war aber nichts weiter. Ich hab eine Schulregel verletzt, na und?«

Sayid warf Max einen zweifelnden Blick zu und zog dann einen zerknitterten Briefumschlag aus der Gesäßtasche.

»Sorry, der hat ein bisschen gelitten, aber ich wollte nicht, dass ihn jemand sieht. Er ist an mich adressiert.«

Sayid reichte Max den Brief. Der Umschlag war offen, doch darin steckte ein zweites Kuvert, auf dem nur ein einziges Wort stand: MAX.

Achselzuckend sagte Sayid: »Offenbar wollte dein Dad, dass dieser Brief nicht die üblichen Wege nimmt. Er ist heute Nachmittag mit der Post gekommen – ich habe dich überall gesucht.«

Max nickte. Sein Vater hatte sich an die Person in der Schule gewandt, auf die Max sich immer verlassen konnte, auch wenn es mal brenzlig wurde. Er riss den Umschlag auf – und auf dem gefalteten Blatt Papier stand wieder nur ein einziger Name: FARENTINO.

Max wusste jetzt, was sein Vater von ihm wollte.

Sayid wartete geduldig.

Max holte tief Luft. »Sayid, mein Vater ist in Schwierigkeiten, er wird vermisst …«

»Verdammte Scheiße! Wo denn?«

»Ich weiß es nicht genau, zuletzt hat er sich aus Afrika gemeldet, und dieser Zettel, den er dir geschickt hat, bestätigt, dass er versucht, Kontakt zu mir aufzunehmen. Er legt eine Fährte für mich. Sayid, hör zu, mein Freund, du musst das für dich behalten. Ich meine, es sieht ziemlich schlimm aus … ich bin heute Abend nicht einfach bloß so durch das Sperrgebiet spaziert. Ich bin vor einem Kerl geflüchtet, der mich töten wollte.«

Angst, die einem den Magen zuschnürt, kannte Sayid Khalif nur allzu gut, denn die Mörder seines Vaters hatten sie zu einem Teil seines Lebens werden lassen. Seine Mutter und er waren die einzigen Überlebenden eines Anschlags in Saudi-Arabien gewesen; dass es jemand auf Max und seinen Dad abgesehen hatte, machte ihm nun genauso viel Angst wie Max. »Von mir erfährt niemand ein Wort, darauf kannst du dich absolut verlassen.«

»Nicht mal deine Mum?«

»Die vor allem nicht! Sie wäre verrückt vor Sorge um dich und deinen Dad.«

»Danke. Gut, also ich vermute, sobald ich morgen Früh mein Fach im Gewölbe aufgemacht habe, bin ich weg. Ich schätze, Dad gibt mir da den nächsten Anhaltspunkt.«

»Wenn du aus der Schule verschwindest, wird Mum sofort misstrauisch.«

»Nein, Mr Jackson wird allen erzählen, ich wäre aus familiären Gründen vom Unterricht befreit, weil mein Dad krank ist oder so was. Sag deiner Mum bitte nicht, was wirklich los ist, Sayid, ich bringe dich schon in ziemlich große Gefahr, indem ich dir nur davon erzähle.«

»Ich könnte mit dir gehen.«

»Nein, kannst du nicht, außerdem brauch ich hier jemanden, dem ich vertrauen kann. Vielleicht kannst du ja ein anständiges Verschlüsselungssystem programmieren oder so was: Dann kannst du mich von hier aus unterstützen.«

In puncto Computer und Technik war Sayid die Anlaufstelle für alle. Einmal hatte er sogar fast einen Skandal ausgelöst und die für die nationale Sicherheit zuständige Behörde in Alarmbereitschaft versetzt, als er sich ins Computernetz des Verteidigungsministeriums einhackte, das die Regierung gerade erst für Hunderte von Millionen eingerichtet hatte. Die dortigen Computeranalytiker hatten Sayid durch ein ganzes Codesystem hindurch verfolgt und um ein Haar hätten sie ihn gekriegt, doch er lockte sie in eine Sackgasse und zerstörte sein eigenes Programm. Hätten sie ihn erwischt, wären die Schadenersatzforderungen enorm gewesen – ein vierzehn Jahre alter Junge aus Saudi-Arabien im Herzen des Sicherheitsapparats der britischen Landesverteidigung! Nur er und Max hatten davon gewusst, und es war ihr Geheimnis geblieben.

»Ich bin dabei. Ich bastle ein Umleitungssystem, sodass Nachrichten, die du verschickst, nur schwer nachzuverfolgen sind.«

»Man darf sie gar nicht nachverfolgen können, Sayid. Gut möglich, dass mein Leben davon abhängt.«