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Der junge Buschmann hieß !Koga. Um den Namen korrekt auszusprechen, musste man die Zunge vom Gaumen wegschnellen lassen – so jedenfalls klang es für Max. Kloga, besser bekam er es nicht hin. Für ihn selbst hörte es sich allerdings so an, als wolle er die Hennen auf der Farm hinter seiner Schule anlocken. Die Buschmänner haben keine über lieferte Schrift, und als Kallie den Namen für Max aufschrieb, benutzte sie ein phonetisches Zeichen, um einen der vielen Klicklaute in der Buschmann-Sprache darzustellen: !Koga.

»Er spricht ein bisschen Englisch«, erklärte Kallie. »Seine Familie hat ein paar Jahre lang einem Geologen bei der Arbeit geholfen.«

Max und der Junge schüttelten sich die Hand, wobei !Koga verlegen zur Seite schaute.

»Er hat meinem Vater erzählt, in den Höhlen wären zahlreiche Felsmalereien«, sprach Kallie weiter. »Ich weiß nicht wo, aber ich schätze, ungefähr dreihundert Kilometer von hier. Niemand, den ich kenne, ist schon mal dort gewesen. Die Bilder, so sagt er, zeigen deine Ankunft. Er möchte dir helfen, deinen Vater zu finden.«

!Koga blieb still, seine Augen suchten den Horizont ab. Max war unsicher. Das konnte ja heiter werden. Die Wildnis war ein zu gefährlicher Ort, um Hirngespinsten nachzujagen.

»Hör zu«, sagte er leise und hoffte, den Jungen nicht zu kränken, »Bilder von mir auf Felswänden, das klingt ein bisschen fragwürdig. Vielleicht hat ihm ja mein Vater gesagt, dass ich kommen würde, vielleicht hat ! Koga sie gezeichnet oder jemand aus seiner Familie – du weißt schon, als Teil ihrer Tradition des Geschichtenerzählens oder so.«

Kallie verzog das Gesicht. »Ich wünschte, es wäre so, aber die !Kung-Buschmänner machen schon lange keine Höhlenzeichnungen mehr. Die letzten, die man entdeckt hat, sind eintausend Jahre alt.« Sie nickte dem Jungen zu, der sich wieder unter die Bäume an der Wasserstelle zurückzog. »Frag mich nicht, woher sie all ihr unheimliches Wissen haben, aber ich vertraue den Mächten, mit denen sie in Verbindung stehen. Vielleicht steckt eine seit Urzeiten überlieferte Weisheit dahinter, oder es sind die Geister ihrer Vorfahren – was weiß ich. Er wird dich jedenfalls zu seinen Leuten bringen, wo immer die jetzt sein mögen. Sie sind die Letzten, die deinen Vater gesehen haben.«

 

Max wollte nur seinen Dad retten und hatte das Gefühl, dass ihm Höhlenzeichnungen und Prophezeiungen dabei nur im Weg stehen würden. Aber war es klug, nicht mit dem Jungen zu gehen, der die Aufzeichnungen seines Vaters überbracht hatte?

Als er an diesem Abend unter das Moskitonetz kroch, sah er als Letztes das Gesicht seines Vaters vor sich, bevor er einschlief. Quälende Bilder suchten ihn heim. Wie er verfolgt, in dunklen Gängen in die Enge getrieben und unter Wasser gedrückt wurde, bis er röchelte – alles Versuche seines Unterbewusstseins, die Ereignisse des vergangenen Tages zu verarbeiten. Doch nach und nach ließ er die Ungeheuer hinter sich und fiel in einen tiefen, erholsamen Schlaf.

Als er aufwachte, zeigten sich am Himmel schon die ersten Sonnenstrahlen. Er reckte sich und spürte, dass er sich großartig fühlte. Und dass er Hunger hatte wie ein Wolf! Er roch Kaffee und frisches Brot. Es war noch frühmorgendlich kühl, darum zog er einen leichten Pullover über, bevor er in die Küche ging.

Die alte Frau nickte ihm zu, ohne dabei zu lächeln, und sagte etwas, was er nicht verstand, und so erwiderte er das Nicken. Kurz darauf wurde ein heißes Blech aus dem alten, mit Holz befeuerten Herd gezogen. Pfannkuchen aus Maismehl und Würstchen wurden auf einen angewärmten Teller gelegt. Dann war das Brutzeln von Eiern in der Pfanne zu hören. Es verging keine Minute, da stand der Teller auch schon vor ihm. Nicht gerade das gesunde Frühstück, an das er gewöhnt war, aber hier draußen aß man wohl alles, was man vorgesetzt bekam.

Als er seinen abgewaschenen Teller trocknete, tanzten bereits helle Sonnenstrahlen über die Fenster. Kallie kam herein und goss sich Kaffee in einen Blechbecher. »Wie sieht’s aus: Bist du bereit?«

Er nickte, auch wenn er nicht so recht wusste, was das Mädchen meinte.

»Ich würde dich ja hinfliegen, aber ich kann nicht. Ich muss zu meinem Vater. Er braucht neue Vorräte. Mein Dad verlängert seine Safari.« Kallie nahm ihren Becher und ging hinaus, eine stumme Aufforderung an ihn, ihr zu folgen.

Ein ausrangiertes Armeefahrzeug, ein Landrover, stand vor dem Farmhaus bereit. An der Karosserie sah man noch verblasste Reste der alten Tarnlackierung. Zwei Schaufeln waren an der Frontschürze befestigt, ein Segeltuchdach war über den Rahmen des Fahrzeugs gespannt, ein Dutzend Benzinkanister standen festgebunden auf der Ladefläche und zwei weitere steckten in speziellen Halterungen seitlich neben den Scheinwerfern. Die knapp drei Meter lange Funkantenne zitterte in der kaum merklichen Brise.

»Die meisten Kinder hier können mit zehn oder elf schon auf den Farmen herumfahren, wie steht’s mit dir?«

Max nickte. Sein Vater hatte es ihm während einer ihrer gemeinsamen Urlaube beigebracht, allerdings mit einem kleinen, klapprigen Auto. Dieses Allrad-Ungetüm überstieg vielleicht seine Fähigkeiten. »Klar«, sagte er, »aber in der Wüste bin ich noch nie gefahren.«

»Es ist überwiegend Buschland. Wenn du in weichen Sand gerätst, fährst du langsam; wenn du stecken bleibst, lässt du ein bisschen Luft aus den Reifen. Und das hier sind die niedrigen Gänge, die brauchst du, wenn’s wirklich holprig wird.« Sie beugte sich über den Landrover und erklärte Max die Ausstattung. »Da sind ein Blasebalg, Schaufeln und hier sind die Sandkufen. « Sie tätschelte zwei Metallschienen, etwa zwei Meter lang und einen halben Meter breit, die an der Seite des Wagens festgezurrt waren. »Ich schätze, ihr werdet in Richtung Weideland fahren und dann vielleicht rauf in die Berge. Dieses Ding bringt dich überallhin. Achte bloß darauf, dass du es nicht mehr als dreißig Grad neigst, sonst kippt das Teil um. In diesen Kanistern hier ist Wasser, und da ist Diesel drin.«

Max nickte. Ihm war mulmig zumute, aber er war fest entschlossen, sich nichts anmerken zu lassen. ! Koga wartete in zwanzig Metern Entfernung. Er hockte auf den Fersen und schaute zu ihnen herüber.

»Ich hab euch einen kleinen Vorrat an getrockneten Lebensmitteln eingepackt«, sagte Kallie, »aber ihr werdet schon nicht verhungern.« Sie blickte zu ! Koga hinüber. »Nicht, wenn er dabei ist.«

Kallie sah Max wieder auf diese eigenartige Weise an. Sie schaute ihm tief in die Augen, doch diesmal wurde er nicht rot. Er wollte stark und selbstbewusst wirken. Aber im Grunde war es sinnlos, sich selbst oder irgendjemandem sonst etwas vorzumachen, dachte er, vor allem hier draußen.

»Kalli, ich hab dich angelogen, als ich gesagt hab, ich sei fast siebzehn. Bin ich nicht. Ich bin fünfzehn.«

»Ich weiß. Ich hab in deinem Pass nachgesehen, während du geschlafen hast. Entschuldige bitte, aber ich wollte mich vergewissern, dass du wirklich der bist, für den du dich ausgibst. Du bist verrückt, und das weißt du auch, nicht wahr?«

Er nickte.

»Aber ich an deiner Stelle … Ich würde es genauso machen.« Sie lächelte. Und das wärmte Max mehr als die Sonne, die mittlerweile hoch am Himmel stand.

»Höchste Zeit aufzubrechen«, sagte Kallie.

 

Max kämpfte mit dem Lenkrad. In den vergangenen Stunden hatte er dem Motor schwer zugesetzt, die Justierung des Allradantriebs in Mitleidenschaft gezogen, sie wieder auf Vordermann gebracht und dem Getriebe einiges zugemutet. Jetzt raste er eingehüllt in eine rote Staubwolke auf einer Straße entlang, die diese Bezeichnung kaum verdient hatte. !Koga saß neben ihm, hielt sich am Armaturenbrett fest und wirkte aufgeregt.

Kallie hatte Max gesagt, dass !Koga ein bisschen Englisch sprach, doch bis jetzt hatte der Junge kein Wort gesprochen. Vielleicht ging es ihm wie Max, den die Hitze, das Tempo und der brummende Motor in eine Art Rausch versetzten.

Max ging ein wenig vom Gas herunter und ließ den Blick schweifen. Ringsum wuchs niedriges Buschwerk und der Weg vor ihnen war nur schwer erkennbar. Auch wenn Max viel daran lag, so schnell wie möglich seinen Vater zu finden, musste er überlegt handeln, um an sein Ziel zu kommen, und das hieß Einsatz von Kopf und Körperkraft.

Bevor Max von der Farm losgefahren war, hatte Kallie eine alte, zerknitterte Landkarte voller Schweißflecken ausgebreitet und ihm die Orientierungspunkte auf dem Weg nach Skeleton Rock gezeigt – es waren ziemlich wenige. Buffalo Boulder; der Snake River – ein gewundenes, ausgetrocknetes Flussbett; das Dancing Grass Valley – wo stets eine sanfte Brise aus den Bergen durch das Gras der Savanne wehte; der Lightning Tree – die leicht verkohlten Überreste eines riesigen Affenbrotbaums, der einem gewaltigen Gewitter zum Opfer gefallen war.

Max war zur Orientierung auf die Karte angewiesen, und er konnte mit dem am Armaturenbrett fest installierten Kompass seine Route berechnen.

»Wenn du irgendwo Regen siehst – am Horizont, in den Bergen, egal –, musst du doppelt vorsichtig sein«, warnte Kallie ihn. »Wir haben hier manchmal Sturzfluten, die können dich und den Landrover in Stücke reißen. Den einen Moment ist alles noch trocken und sicher, und im nächsten hast du wie aus dem Nichts auf einmal eine tosende Wasserwand vor dir.«

Als ob Max nicht schon genug Sorgen hätte! Jetzt konnte er auch noch in einem Gewitter umkommen.

Angst kann einen Menschen zerstören, hatte sein Dad einmal zu ihm gesagt, aber Wissen zerstreut die Angst. Verschaffe dir so viele Informationen, wie du kannst. Minimiere die Risiken, dann hast du eine Chance. Lass dich von der Angst nicht kleinkriegen. Das ist reine Kopfsache.

Worte, an die er sich jetzt erinnerte.

Okay. Er hatte alles so gemacht, wie sein Vater es ihm eingeschärft hatte. Das hier war ja keine Spritztour durch Europa oder Amerika, wo er eine Nummer in sein Handy eintippen und Hilfe herbeirufen konnte. Hier draußen gab es keine Handynetze. Kallie hatte ihm ihre Funkfrequenz genannt und gesagt, dass die meisten Farmer Funk benutzten, um miteinander über die weiten Entfernungen hinweg zu kommunizieren. Zumindest bestand also die Möglichkeit, einen Hilferuf abzusetzen, falls er in ernste Schwierigkeiten geriet. Wie lange es dann aber dauern würde, bis jemand bei ihm war, konnte man nur mutmaßen.

Die Sonne stand im Zenit und brannte unbarmherzig vom Himmel. Fata Morganen erschienen am Horizont – Luftbilder von auf dem Kopf stehenden Bergen, Bäumen, die gar nicht da waren, und geisterhafte Zerrbilder von Tieren. Nichts regte sich. Die glühend heiße Luft fegte über das Dach der Fahrzeugkabine. Zeit für eine Pause.

Max schaltete zwei Gänge herunter und holperte in das hüfthohe, trockene Gras. Er ließ den Landrover unter Schatten spendendes Geäst rollen, wobei er ein paar verkümmerte Akazienbäume zur Seite schob. Kaum hatte er den Motor abgeschaltet, tauchte über ihnen am Himmel ein Schatten auf. Für einen Moment glaubte Max, es wäre ein Raubvogel, doch als das dunkle Etwas über sie hinwegglitt, zerriss der Lärm eines Flugzeugs die Stille. Das ist sicher Kallie, die unterwegs nach Norden ist, dachte er. Doch sein Instinkt riet ihm, nicht die Hand zu heben und zu winken. Die Maschine drehte ab. Kallie flog einen anderen Flugzeugtyp. Der Flieger zog eine enge Kurve, machte kehrt und überflog das Gebiet aufs Neue.

Waren sie ihm etwa schon so dicht auf den Fersen? Mit seiner Tarnlackierung passte sich der alte Landrover gut der Umgebung an und war schwer auszumachen. Max und !Koga zogen sich noch tiefer in die Schatten zurück. Sie hockten sich nebeneinander hin. Abermals ertönte das dumpfe Brummen über ihren Köpfen.

Max verfluchte sich. Möglicherweise war es seine eigene Dummheit, die seine Verfolger so schnell zu ihm geführt hatte. Er hatte beim Fahren ein bisschen angeben wollen und ordentlich auf die Tube gedrückt. Die Staubwolke war von da oben womöglich schon aus hundert Kilometern Entfernung zu sehen gewesen.

Das Flugzeug drehte noch einmal bei und näherte sich diesmal aus östlicher Richtung. Max rührte sich nicht, und bald schon wurde das Motorengeräusch wieder leiser. Ein Flugzeug konnte hier unmöglich landen, das war klar. Vielleicht hielten sie ja Ausschau nach irgendwelchen Trupps, die sie am Boden unterstützten. Ja, so musste es sein!

Als das Flugzeug nur noch ein Punkt am Horizont war, schnappte sich Max das Fernglas, kletterte auf den Landrover und stellte sich auf die stählernen Dachstreben. So konnte er den größten Teil der Landschaft überblicken. Das Flugzeug hatte noch nicht wieder kehrtgemacht. Hielt der Pilot Ausschau nach einem Landeplatz? Max suchte den Horizont ab. Nichts. Ein paar Kilometer entfernt weidete eine kleine Herde Giraffen. Sie rollten ihre dicken Zungen aus, um die dornigen Zweige der höheren Bäume abzurupfen.

Ein kleiner Staubwirbel geriet in seinen Blick. War das ein Rhinozeros, das sich da durch den Busch und das Gras schob? Schweiß brannte Max in den Augen. Er kniff sie zum Schutz zusammen.

Mit einem Mal drehte eine Giraffe ihren Hals und begann, in ihrem eigentümlichen Gang loszugaloppieren. Die anderen Tiere der Herde folgten ihr. Es war aber nicht das Rhinozeros, das sie aufgeschreckt hatte. Ein Pick-up-Truck mit einem halben Dutzend Männer auf der Ladefläche fuhr holpernd durch das unwegsame Gelände. Die Männer waren bewaffnet.

Max duckte sich unwillkürlich. Aber als ihm aufging, dass das Flugzeug sie nicht gesichtet haben konnte – denn ansonsten hätte der Pick-up wohl direkt auf sie zugehalten –, schaute er wieder durchs Fernglas. Der Pick-up war noch einige Kilometer entfernt und bewegte sich diagonal zu ihrer eigenen Route. Max rutschte vom Wagendach herunter und sah auf die Karte. Die Staubwolke, die sie aufgewirbelt hatten, hatte dem Piloten vermutlich gezeigt, in welche Richtung sie fuhren. Blieben sie jetzt auf ihrer geplanten Route, könnten ihnen die bewaffneten Männer ohne Weiteres den Weg abschneiden. Er musste einen anderen Weg suchen.

Während er die Karte studierte, saß ! Koga auf der Erde, scharrte mit einem Stock im Staub und legte Steine und Zweige aus. Er zerrieb trockene Blätter in der Faust und ließ sie so herausrieseln, dass die Krümel auf einem Häufchen landeten.

»Max!«, sagte !Koga leise. Es war das erste Mal, dass er sprach. Seinen Namen zu hören vermittelte Max plötzlich ein Gefühl von Kameradschaft. Er hockte sich neben den Buschmann, der auf das Modell zeigte, das er eben gebaut hatte.

»Hier«, sagte ! Koga und zeigte auf ein paar kleine Steine, die er ausgelegt hatte. Das sollte ihren ersten Anlaufpunkt darstellen. Danach zeigte er der Reihe nach auf die zerbröselten Blätter, die aufrecht hingestellten Steine und die gewundene Linie im Staub. Und jedes Mal, wenn er auf eine Stelle wies, hob er einen Finger. Vier Finger für vier Ziele, die sie in genau dieser Reihenfolge ansteuern sollten.

Max verstand auf Anhieb, schlug eine neue Seite der Karte auf und suchte nach den Stellen, die ! Koga versucht hatte, auf dem Boden darzustellen. Am Fuß der Berge lagen große Felsblöcke, die Berge selbst gingen in ein grasbewachsenes Plateau über. Er folgte den Konturen auf der Karte, bis sein Blick an einem Fluss hängen blieb. Max lächelte und legte dem Jungen die Hand auf die Schulter. Sie saßen beide im selben Boot, und !Koga war der beste Gefährte, den er sich wünschen konnte. Max hätte jubeln können. Mit seinem neu gefundenen Freund würde er sich hier draußen nicht verirren können. Er fühlte sich unglaublich zuversichtlich. Noch drei Stunden bis zum Einbruch der Dunkelheit, und sie konnten ihr Nachtlager am Fuß der Berge aufschlagen.

Und dann machte er den zweiten Fehler dieses Tages. Er unterschätzte seine Widersacher, und das hätte sie beide beinahe das Leben gekostet.

Max fuhr durch das hohe Gras, den Blick auf die Berge gerichtet, die sich in der Ferne erhoben. Er wollte auf die Piste zurück, noch zwei oder drei Kilometer weiterfahren und dann einen Zugang zum Berghang suchen. Ab da würde es durch unebenes Gelände gehen. Max richtete seine volle Aufmerksamkeit auf die Fahrt, damit ihnen vor Erreichen der Straße nicht noch etwas Dummes passierte, und bemerkte so nicht die Staubwolke, die hinter ihnen aufstieg. Nur noch wenige Meter und sie würden das Bodendickicht und Gestrüpp am Ende der Anhöhe durchqueren, und dann wieder auf die eigentliche Piste kommen. Er schaltete einen Gang herunter, trat das Gaspedal durch und der Landrover zog an und schoss auf die Straße. Max riss das Steuer herum und schaltete. Plötzlich jagte ein schwarzer Pick-up auf sie zu und rammte den Landrover. Max blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Er vernahm das Kreischen von Metall und das Gebrüll der Männer, die auf der Ladefläche des Pick-ups saßen und versuchten, wieder Halt zu finden.

Der Pick-up war mit hohem Tempo unterwegs gewesen und sein Fahrer hatte Max’ Wagen wegen der Tarnlackierung nicht gesehen. Zum Glück! Auf der Ladefläche des Pick-ups hockten drei bewaffnete Männer, und hätten sie den Landrover früher gesichtet, wäre der Sandboden jetzt zweifelsohne getränkt von Max’ und !Kogas Blut.

Ein metallisches Knirschen war zu hören, als sich die beiden nebeneinander herfahrenden Autos für einen kurzen Moment berührten. Max warf einen verzweifelten Blick zu den Bewaffneten hinüber. Der Fahrer des Pick-ups hatte genauso mit dem Lenkrad zu kämpfen wie er. Die Männer auf der Ladefläche waren bei dem Zusammenprall durcheinandergeworfen worden und gestürzt. Einer hatte am Überrollbügel gestanden und ein Funkgerät in der Hand gehalten, dessen Verbindungskabel beim Sturz des Mannes abgerissen war. Max erkannte, was das bedeutete: Die Männer hatten keinen Funkkontakt mehr!

Die Wagen stießen abermals zusammen, und der Landrover schlingerte und geriet ernsthaft in Gefahr, über den Pistenrand auszubrechen, zurück ins hohe Gras. Aber die seitlich befestigten Sandkufen retteten ihnen den Hals. Der Pick-up hatte die Kufen abgerissen. Jetzt gerieten sie unter die Räder des anderen Wagens, sodass der Fahrer für ein paar entscheidende Sekunden die Kontrolle über sein Fahrzeug verlor. Der Pick-up fuhr wie auf zwei Meter langen Skateboards.

Max drehte mit aller Kraft am Lenkrad, und der Landrover stieß mit seinem frontalen Rammschutz gegen den feindlichen Wagen. Der Pick-up geriet ins Schleudern, doch der Fahrer brachte das erstaunliche Kunststück fertig, den Wagen unter Kontrolle zu bekommen. Die Männer auf der Ladefläche kamen auf die Beine.

Jetzt fuhr der Wagen wieder neben ihnen. Wutverzerrte Gesichter tauchten aus den Staubwolken auf. Gebrüll war zu hören, so laut, dass es sogar das Dröhnen der gequälten Motoren übertönte. Einer der Männer stützte sich mit einer Hand ab und legte eine AK-47 auf sie an. Schweiß brannte Max in den Augen, das Licht spiegelte sich für einen kurzen Moment in der Windschutzscheibe und blendete ihn, der Motor des Landrovers heulte auf, und Max konnte ihm kein Quäntchen Kraft mehr abringen. Der Schütze konnte sie nicht verfehlen. Sie waren so gut wie tot. Warum hatte er noch nicht geschossen? Der Mann schrie. Blut lief über seine Brust, und er stürzte. Verwirrt schaute Max sich um und sah ! Koga, der seinen ein Meter langen Jagdbogen in der Hand hielt. Der tödliche Pfeil hatte den Mann mit dem Gewehr direkt ins Herz getroffen.

Der Landrover passierte den Pick-up, dessen Fahrer zu verstehen versuchte, warum seine Männer derart panisch schrien. !Kogas Miene war ausdruckslos. Kallie hatte ihm genug über die Buschmänner erzählt, dass Max wusste, gern töteten sie nicht, und wenn es geschah, dann nie aus niederen Motiven. Sie nahmen ein anderes Leben nur, wenn es ihr eigenes Überleben sicherte. Die Buschmänner töteten nicht zum Spaß. Ganz gleich, wie karg ihr Leben in der Wüste auch war, ganz gleich, wie viele Male !Koga bereits getötet hatte, um zu essen, noch nie zuvor hatte er einen anderen Menschen verletzt, da war sich Max sicher.

Max nickte ! Koga zu in der Hoffnung, diese einfache Geste könne alles ausdrücken, was er empfand, und wusste zugleich, dass dem nicht so war.

Max musste sie von hier fortbringen. Der Pick-up war zurückgefallen, was ihm ein paar entscheidende Zusatzsekunden gab, bevor das zu erwartende Maschinengewehrfeuer losbrechen würde. Die Männer, die sie gerade verfolgten, waren der zweite Suchtrupp. Das Spähflugzeug am Himmel hatte zwei verschiedene Trupps am Boden angeleitet. Warum war er nicht schon früher darauf gekommen? Aber sich in Selbstvorwürfen zu ergehen, brachte sie jetzt auch nicht weiter.

!Koga zeigte nach vorn. »Tierpfad.«

Wo? Max sah nichts. Dann fiel ihm eine feine Linie auf, die das Buschwerk zerschnitt. Solche Spuren hinterließen auch die Dartmoor-Ponys zu Hause, wenn sie übers Land zogen. Mit den Jahren hatten die umherziehenden Tiere jeden Wuchs auf dem Boden unter ihren Füßen zerstört und eine Narbe im Busch hinterlassen.

Max umklammerte das Lenkrad und riss es mit einem Ruck herum. Der Landrover hatte auch abseits der Piste eine stabile Straßenlage. Sie schaukelten und schwankten zwar, knallten mit den Schultern gegen die Türen, doch das alte Fahrzeug erklomm den mit Steinen übersäten Berghang wie eine Ziege. Max schaute nach hinten. Die Männer im Pick-up waren offenbar wieder angriffsbereit, und die trotzig durchdrehenden Räder des Geländewagens kündeten davon, dass man sie jetzt zur Strecke bringen wollte. Max hatte gut vierhundert Meter Vorsprung, aber er konnte den Wildpfad nicht mehr ausmachen, an dem er sich orientierte. ! Koga gestikulierte, beschrieb mit der Hand eine Kurve, die Max den weiteren Streckenverlauf zeigen sollte.

Die Felsblöcke, die den Boden bedeckten, waren zwar klein, etwa so groß wie drei Fußbälle in einem Tragenetz, hatten aber scharfe Kanten. Man hörte, wie sie am Unterboden des Fahrzeugs entlangschrammten. Plötzlich machte es den Anschein, als würde jemand Steine auf sie werfen, ein dumpfes Trommeln an den Seiten wie Hagel, der auf ein Dach schlägt. Doch den Bruchteil einer Sekunde, nachdem der vermeintliche Kies auf den Landrover geprasselt war, war mit leichter Verzögerung das Krachen der AK-47 zu hören, die die Kugeln abgefeuert hatte. Die Segeltuchbespannung riss, die Kanister verströmten ihren kostbaren Inhalt und der Übelkeit erregende Gestank von Diesel erfüllte das Fahrerhaus. Die Wassertasche aus Jute, die außen an der Fahrertür gehangen hatte, zerplatzte, als eine der Kugeln Max knapp verfehlte.

Das Auto der Verfolger hielt an. Der Pick-up hatte weniger Bodenfreiheit als der Landrover, sodass es den Angreifern nicht möglich war, Max und !Koga durch das unwegsame Gelände zu folgen. Die Männer wussten, dass man hier besser nicht strandete – ohne Funk und mit einem Toten an Bord waren sie bereits im Hintertreffen. Und das Risiko, ihr Auto so stark zu beschädigen, dass es nicht mehr zu reparieren war, wollten sie auf keinen Fall eingehen. Max brauchte jetzt nur noch den Bergkamm zu überwinden, der so verlockend nahe schien, dann wären sie außer Sicht und nicht mehr einzuholen. Und dann: Gas geben und weiter!

Die Männer feuerten immer noch auf den Landrover, doch sie zielten schlecht und verfehlten Max und ! Koga. Mit einem kräftigen Tritt aufs Gaspedal würde Max den Landrover über den Kamm und !Koga und sich aus der Gefahrenzone bringen.

Doch im allerletzten, dem entscheidenden Moment kam der Landrover mit einem Ruck zum Stehen. !Koga, der sich nach den Männern umgeschaut hatte, verlor das Gleichgewicht und kippte nach vorn. Sein Kopf krachte gegen das Armaturenbrett. !Koga sackte stöhnend in sich zusammen. Max trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch, doch er hörte nur den jaulenden Motor. Sie kamen nicht weiter, hatten sich festgefahren und die Reifen drehten durch.

Max schaute sich nach !Koga um. Er war ohnmächtig. Max musste den Landrover frei bekommen. Er stieg aus, kletterte aufs Wagendach und begann, das Auto durch Vor- und Zurückschaukeln zentimeterweise nach hinten zu verrücken, damit die Hinterräder wieder Bodenhaftung bekamen.

Die Verfolger standen noch immer weiter unten am Berghang, aber sie hatten das Feuer eingestellt, denn einer von ihnen stieg gerade den Hang hinauf und kam direkt auf Max zu. In der einen Hand hielt er eine Pistole, in der anderen ein Jagdmesser. Jetzt hieß es Mann gegen Mann. Der Fremde stolperte, schlug mit der Schulter gegen einen Gesteinsbrocken und fluchte. Doch die Wut trieb ihn weiter, den Blick fest auf Max geheftet – seine Beute.

Max war wehrlos. Der Mann war jetzt keine zehn Meter mehr entfernt. Max hörte, wie er vor Anstrengung keuchte, und sah den schweißigen Glanz auf seinem Gesicht. Seine Pistole war bei dem Sturz beschädigt und damit nutzlos geworden, aber das Messer würde für seine Zwecke vollkommen ausreichen. Der Mann hieb mit der Klinge auf Max’ Füße ein und das feste Segeltuch des Wagendachs zerfetzte, als wäre es Seidenpapier.

Die Schulterverletzung hinderte den Mann zwar daran, aufs Auto zu klettern, aber Max würde sich nicht mehr viel länger auf dem zerstörten Dach halten können. Er brauchte dringend eine Waffe. Die Antenne des Funkgeräts! Sie steckte in einer Halterung am Heck des Wagens. Der Mann fauchte vor Wut und holte abermals mit dem Messer aus. Mit einem großen Satz landete Max auf dem Reserverad, das auf der Kühlerhaube vertäut war, und sprang auf den Boden hinunter.

Sein Verfolger versuchte, Max zu fassen zu kriegen, doch der entwischte ihm und rannte zum Heck des Wagens. Mit beiden Händen löste Max die Antenne aus ihrer Halterung und hielt eine drei Meter lange Metallpeitsche in der Hand.

Der Mann stürzte sich auf Max, und die scharfe Metallrute traf ihn am Hals und an der Schulter. Er schrie auf und jaulte wie ein gequälter Hund. Wenn er es schaffte, sich unter den Peitschenhieben hinwegzuducken, würde er sich Max schnappen und ihn ausweiden wie einen Fisch.

Max stand mit leicht gebeugten Knien da, die Füße fest auf dem Boden, und wartete auf den Angriff seines Widersachers. Er hielt das untere Ende der Antenne mit beiden Händen umklammert. Der Angreifer wartete. Max ließ ihn nicht aus den Augen. Der Mann machte einen Satz nach vorn, die Klinge auf Max’ Hals gerichtet – aber das war nur ein Täuschungsmanöver. Im selben Moment riss er den Arm zurück, um Max das Messer mit Schwung in den Bauch zu rammen. Mit einem lauten Schrei befreite sich Max von seiner Angst und zog dem Mann die Peitsche über – links und rechts und noch einmal. Blutige Striemen bildeten sich auf seinem Gesicht, der Brust und den Armen. Ein nahezu chirurgisch sauberer Schnitt verlief von seinem linken Ohr quer über das Gesicht bis zum Hals.

Max trat einen Schritt zurück, Ekel stieg in ihm auf. Er hatte den Mann schwer verletzt. Es fühlte sich schrecklich an. Schuldgefühle überkamen ihn, doch eine innere Stimme rief ihm zu: Der Kerl wollte dich umbringen!, und Max umfasste die Antenne noch fester als zuvor. Es folgte jedoch kein weiterer Angriff – der Mann war besiegt. Er fiel zu Boden, rappelte sich wieder auf und stolperte mit blutüberströmtem Gesicht den Berg hinunter.

Max sah, dass sein Schaukeln die gewünschte Wirkung erzielt hatte – der Landrover war von dem Felsbrocken heruntergerutscht. Er warf die Funkantenne auf den Rücksitz. Sie brauchten dringend Hilfe, und das Funkgerät war die einzige Möglichkeit, jemanden zu kontaktieren. Kallie, er würde Kallie anfunken. Sie würde die Polizei schicken, die Armee, irgendwen. Max hatte das mulmige Gefühl, dieser ganzen Sache nicht gewachsen zu sein.

Doch die kräftezehrende Aufgabe, den Landrover die steile unwegsame Rückseite des Berges hinunterzumanövrieren, ließ keine Zeit zur Panik, und Max’ Zweifel verflogen wie Sand im Wind. Er würde per Funk Hilfe holen, aber er würde nicht das Handtuch werfen. Er wollte seinen Vater finden.

Max lenkte mit einer Hand, mit der anderen hielt er !Koga fest und sorgte dafür, dass der junge Buschmann nicht bei jedem Stoß mit dem Kopf aufs Armaturenbrett knallte. Als sie unten an der Straße angekommen waren, schlug !Koga die Augen auf.

»Was war los?«, fragte er.

»Wir haben gewonnen!«, schrie Max und lachte.

!Koga lächelte und sagte etwas, was für Max wie Lass uns zusehen, dass wir schleunigst von hier wegkommen in Buschmann-Sprache klang.

Sie waren auf der kühleren, feuchteren Seite der Berge, wo es mehr Vegetation gab – der Grund dafür, dass man hier auch Tiere sah. Der Boden war weniger felsig und rau; sie fuhren jetzt durch ein Tal in Richtung eines großen Gebirgszuges. Der Grund wurde immer ebener und Max’ lockerte seine verkrampften Hände, die das Lenkrad so fest umklammert hatten, dass seine Knöchel weiß hervorgetreten waren. Er warf einen Blick zurück, mutmaßte, dass ihre Angreifer mindestens eine Stunde hinter ihnen zurücklagen, und erlaubte sich einen Seufzer der Erleichterung. Die Angst hatte ihm den Mund ausgetrocknet, und er war schon halb verdurstet, doch er nahm sich vor, erst anzuhalten, wenn sie auf der Windschattenseite des hohen Gebirges angelangt waren, wo sie sich besser verstecken konnten. Einen sicheren Platz für die Nacht und etwas zu trinken, mehr verlangte er gar nicht.

Als sie sich dem Gebirgszug näherten, der im Abendlicht violett erstrahlte, betrachtete Max voller Staunen das Amphitheater, das sich vor ihnen öffnete. Vielleicht war dies hier ein kleines Stückchen vom Paradies. Noch konnte Max ja nicht ahnen, dass dieses wunderschöne Fleckchen einen grausigen Ort des Todes barg.

 

Dank einer Satellitenverbindung überwanden die Stimmen von Shaka Chang und seinem Mann in England die Tausende von Kilometern, die zwischen ihnen lagen. Die Angelegenheit lief nicht nach Plan. Es lag keine Freundlichkeit in ihren Worten, nur Verbitterung darüber, dass es so lange dauerte, den Jungen zu beseitigen. Dabei war der Auftrag doch ein Kinderspiel. Chang befand sich im ersten Stock seiner Wüstenfestung. Es war ein richtiges Fort – riesig, quadratisch und mit Zinnen. Es sah aus wie die Festungen, die die französische Ehrenlegion in der Sahara errichtet hatte, nur dass diese hier von einem verwirrten deutschen Grafen im neunzehnten Jahrhundert erbaut worden war. Der Graf hatte sich eingebildet, König zu sein, und hatte sein Schloss einer Festung nachempfunden. Sie war uneinnehmbar, mit unterirdischen Gemächern, Fluchttunneln, Kellern und Verliesen und einem ausgeklügelten Wassersystem, das sich aus einer tief gelegenen Quelle speiste. Was der Graf damals nicht wusste: Unter dem Schloss verlief eine Verwerfungslinie, die der heutige Eigentümer, Shaka Chang, dazu nutzte, ein kleines Wasserkraftwerk zu betreiben. Eines Tages hatte der Graf zu seiner Frau und seinen Kindern gesagt, er wolle einen Spaziergang machen und die Blumen an der Uferpromenade am Fluss bewundern, und da begriff seine Frau, dass ihr Mann nun vollends verrückt geworden war. Hier gab es weder Blumen noch eine Promenade und seit jener Nacht auch keinen Grafen mehr. Seinen Gehstock mit dem Silberknauf fand man blutverschmiert am nächsten Morgen. Die Gräfin ging mit ihren Kindern nach Bayern, zurück zu Kälte und Schnee und allem, was sie so schmerzlich vermisst hatte, und genoss das von ihrem verstorbenen Gatten geerbte Vermögen. Die Festung stand eine Zeit lang leer, bis das deutsche Heer sie im Ersten Weltkrieg in Besitz nahm. Ein bitterer Vernichtungskrieg wurde gegen die einheimischen Völker geführt, und die Festung errang den Ruf, Herberge für Verrückte und Mörder zu sein.

Und vor zehn Jahren zog Shaka Chang hier ein.

Er machte das Schloss zu einem modernen Außenposten mit jedem nur erdenklichen Luxus. Jetzt stand er in einem der riesigen Räume. Hier herrschte eine dauerhafte Kälte, sodass keine Klimaanlage erforderlich war. Die Aussicht aus dem Panoramafenster zeigte Wüste, Berge und ein sumpfähnliches Feuchtgebiet, das sich unmittelbar an das schilfbewachsene Flussufer anschloss. Wenn Tiere zum Trinken kamen, gab es in ganz Afrika keinen besseren Beobachtungsposten. Von hier aus hatte er auch einen Blick auf die Sandbänke mit den Krokodilen, denen er gerne dabei zusah, wie sie sich in der Sonne aalten oder wie sie heimlich, still und leise in das ruhige Wasser glitten, um sich ein unschuldiges Opfer zu suchen. Und nicht immer hatte die Beute vier Beine und war ein Tier. Eine lehrreiche Lektion für alle: Wer Shaka Chang nicht zufriedenstellte, beging einen schweren Fehler.

Der Fahrer des Pick-ups, der die Jagd auf Max und ! Koga angeführt hatte, war einbestellt worden. Einer seiner Männer war tot und er selbst blutete noch aus den Wunden, die ihm Max’Peitschenhiebe beigebracht hatten, und er wusste nicht, was schlimmer war – die erlittene Erniedrigung oder der körperliche Schmerz.

Der Fahrer hatte Durst, wagte es aber nicht, um Wasser zu bitten. Es war ein glühend heißer Tag gewesen. Er hätte sehr viel dafür gegeben, in das kühle Wasser des gewaltigen Swimmingpools aus schwarzem Marmor eintauchen zu können, das sich, glänzend wie Öl, bis zu dem großen Panoramafenster erstreckte und so den Anschein gab, mit dem Himmel zu verschmelzen. Der Fahrer betete, dass er Shaka Chang nicht allzu sehr verärgert hatte.

Wachen standen an der Tür, während er auf seinen Boss wartete. Der Fahrer trat nervös von einem Bein aufs andere, sein zerfetztes, blutverkrustetes T-Shirt klebte an seinem staubigen Körper, und die Schnittwunden juckten inzwischen wie verrückt. Chang hingegen trug ein Hemd aus feinster Baumwolle, maßgeschneidert in der Londoner Jermyn Street. Er griff nach einer Flasche Wasser, deren blaues Glas von kleinen Tröpfchen überzogen war, die wie Tau glitzerten. Sein Schneider fertigte die Hemden zwar weit genug an, damit sie über Changs muskulöser Brust nicht spannten, dennoch war die Kraft, die in diesem Körper steckte, nicht zu übersehen. Schwarze Anzughosen und Kalbsleder-Slipper vervollständigten das Bild des modernen Geschäftsmanns. Sein untadeliger Geschmack und das lässige Auftreten unterstrichen seine Autorität.

In einer dunklen Ecke am anderen Ende des Raumes hielt sich ein weiterer Mann auf, fast unsichtbar, so wie er es am liebsten tat. Was Körperbau und Stil anbetraf, war er das genaue Gegenteil von Chang. Klein, bis zur Hagerkeit dünn und mit grauer Gesichtsfarbe war Mr Lucius Slye ein Mann, der immer mit einem großen schwarzen Schirm ins Freie ging, um sich vor der gleißenden Sonne zu schützen. Alle, die ihn kannten, nannten ihn Mr Rat, allerdings nur hinter vorgehaltener Hand, denn mit ihm war nicht zu spaßen. Aber mit seinem verkniffenen Gesicht, der spitzen, zuckenden Nase und dem strähnig dünnen Haar, das er sich über seinen kahl werdenden Schädel kämmte, erinnerte er tatsächlich an eine Ratte. Das schwarze hochgeknöpfte Hemd, der schwarze Anzug, seine schwarzen Schuhe und Socken unterstrichen dabei noch seine blasse Erscheinung. Doch dieser Mann war sehr wichtig für Chang. Er wusste jederzeit, wie es um Mr Changs weitverzweigte geschäftliche Aktivitäten bestellt war. Seinen Palmtop legte er niemals aus der Hand – seine ganze Welt war in diesem elektronischen Assistenten gespeichert. Und jetzt, da Chang mit seinem Mann in England sprach, fixierte er das elende Gesicht des Fahrers. Es war schwer zu sagen, wessen Augen Furcht einflößender waren – Changs unergründlich tiefe braune Seen oder Slyes seelenlose graue Höhlen.

Chang sprach mit fester Stimme, während er hinaus in die Weite schaute, die nur einen kleinen Teil seines Imperiums ausmachte. »Die Leitung ist nur noch für wenige Augenblicke sicher«, sagte Chang und goss sich ein Glas Wasser ein. »Also, was wissen wir?«

Die Stimme aus England, die aus dem Telefonlautsprecher drang, war so deutlich, als befände sich der Mann mit im Raum. »Das ist ein schlauer Bursche, und er ist hart im Nehmen. Das Training an der Schule hat ihn ganz schön zäh gemacht. Und er versteht es, auf sich aufzupassen. Aber …« Der Mann zögerte. Schließlich befand sich Max in diesem Moment auf Shaka Changs Territorium. Er wusste wohl am besten, wie zäh der Junge war. »Wir wissen immer noch nicht, ob er Hinweise erhalten hat, wo sein Vater die besagten Informationen versteckt hat, oder ob er einfach nur auf der Suche nach seinem Dad ist. Aber wie auch immer, dieses Material darf den Behörden natürlich niemals in die Hände fallen.«

»Und in England gibt es definitiv keine Hinweise darauf, was er gefunden haben könnte. Das haben Sie geprüft?« Die unterschwellige Drohung in Changs Stimme war unüberhörbar. Wenn dem Mann in England etwas Entscheidendes entgangen war, etwa, dass Max hochbrisante Informationen bereits an eine Behörde herangetragen hatte und jetzt nur noch das waghalsige Unternehmen verfolgte, seinen Vater zu retten, dann war Shaka Changs Multimilliarden-Dollar-Deal womöglich bereits gefährdet. Und Changs Mann in England hatte nur noch wenige kostbare Stunden zu leben.

»Er hat nicht alle Informationen. Das hätte ich herausbekommen«, versicherte die körperlose Stimme Chang mit Überzeugung. »Er muss aufgehalten werden, bevor er mehr erfährt. Ich tue weiterhin von hier aus, was ich kann.«

»Warten Sie«, befahl er dem Mann am Telefon. Dann drehte er sich um und fixierte den Fahrer des Pick-ups. Der zuckte zusammen.

»Wo sind die beiden?«

Der Fahrer wollte schlucken, doch sein Mund war zu trocken. Er krächzte. »Östlich vom Camel Rock, sie sind ins Tal gefahren. In diesen Bergen können die sich tagelang verstecken, Sir. Wir haben getan, was wir konnten, Mr Chang. Der Pick-up … Wir konnten ihnen in dem Gelände einfach nicht folgen. Aber weit kommen sie auch nicht, ihr Landrover ist hinüber. Das kann ich Ihnen versichern, Sir, die kommen nicht weit. Und wir haben versucht …«

Chang hob den Zeigefinger. Genug. Er wollte keine weiteren Ausreden hören. Jetzt richtete er sich wieder an den Mann am anderen Ende der Leitung. »Ich glaube, wir brauchen uns um den Jungen keine Sorgen zu machen. Er ist ins Tal der Toten gefahren. Wenn ihn dort nicht die Löwen oder Schlangen erledigen, tun es die Naturgewalten. Ich glaube, wir können die Sache abhaken. Trotzdem, suchen Sie weiterhin nach dem Material seines Vaters. Wenn wir es nicht in die Hände bekommen, schön und gut, aber besser, wir könnten es vernichten. Wir müssen jedes unnötige Risiko vermeiden.« Chang drückte auf ein Knöpfchen, das Gespräch war beendet. Er drehte sich noch einmal um und sah den Fahrer an, der den Kopf senkte, um Shaka Chang nicht in die Augen schauen zu müssen.

»So, Sie haben den Jungen also entkommen lassen …«, sagte Chang leise.

 

Max hatte den Landrover eine kleine Anhöhe hinaufgelenkt und war unter einem überhängenden Felsen stehen geblieben. Vom Tal aus würde man sie hier nicht sehen können. Bäume und Büsche versperrten die freie Sicht. Max hielt das Plätzchen für einigermaßen sicher.

Aber dieses Gefühl der Zufriedenheit währte nur kurz. Kugeln hatten die Dieselkanister durchsiebt, und mit viel Glück bekam er vielleicht noch einen halben Kanister voll zusammen. Die Kiste mit dem Proviant hatte sich während der Verfolgungsjagd gelöst und konnte sonst wo sein. Noch schlimmer allerdings war der Verlust des Wassers: Die Wasserkanister waren vorn am Landrover befestigt gewesen und schon bei der ersten Kollision mit dem Allradwagen durchlöchert worden. Alles, was sie jetzt noch hatten, war eine Flasche Wasser für jeden. !Koga zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Eine schwarze Tropfspur folgte dem Landrover bis zu ihrem Versteck. Das war Öl. Ihr Auto war ernsthaft beschädigt. Kein Wasser, kein Essen und jetzt auch kein Fahrzeug.

»Wir brauchen Hilfe«, sagte Max, während er sich umsah und die Funkantenne in die Halterung steckte. Er schaltete das Gerät an. Die Batterieleistung war überlebenswichtig, darum musste er sparsam damit sein. Aus dem Funkgerät drang nicht das leiseste Summen, die Kontrolllampen gingen nicht an, in den Kopfhörern war kein Rauschen und kein Knacken zu hören. Dann sah er das Loch im Funkgerät – eine runde Öffnung, deren zerfranster Rand aussah wie umgekrempelt. Eine Kugel hatte ihr einziges Kommunikationsmittel zerstört!

»Kein Wasser, kein Essen, kein Fahrzeug, kein Funk. Ich glaube, wir haben ein kleines Problem«, sagte er.

 

Die Dunkelheit brach herein und die Temperatur fiel unter den Gefrierpunkt. Sie brauchten Nahrung und Wärme.

»Wir machen ein Feuer und essen, was wir noch haben«, sagte Max zu ! Koga. »Glaubst du, wir sind hier wenigstens über Nacht sicher?«

!Koga nickte. »Diese Männer sind uns nicht gefolgt. Hier draußen gibt es Hyänen und Löwen. Heute Nacht besteht keine Gefahr. Morgen … morgen wird’s hart.« Wenn ! Koga schon glaubte, dass es hart wurde, ahnte Max, dass ihm noch so einiges bevorstand. !Koga sammelte Brennholz, und Max fand noch ein paar Dosen, die bei der Verfolgungsjagd nicht vom Wagen gefallen waren. Okay, morgen würde es also hart werden – aber dieses Problem würde sich ihnen erst am nächsten Tag stellen. Max zitterte und redete sich ein, es käme von der Kälte, nicht etwa aus Angst.

Max baute eine Feuerstelle: Brennholz, kleine Zweige, dann größere Äste. Das Holz war so trocken, dass es aufloderte, kaum dass er die Flamme des billigen Plastikfeuerzeugs daran gehalten hatte. Von seinem Dad hatte er gelernt, wie wichtig es war, stets eine kleine Notfallausrüstung bei sich zu haben, wenn man ins freie Gelände ging: wasserfeste Streichhölzer, eine Angelrute, Haken, eine Beta-Lampe – lauter Kleinigkeiten, die über Leben und Tod entscheiden konnten, falls etwas schiefging. Doch Max war in aller Eile aus Dartmoor High aufgebrochen und hatte nicht damit gerechnet, dass sich die Ereignisse so überschlagen würden. Und deshalb war das mit Flüssiggas gefüllte Feuerzeug auch nur ein Ersatz, den er sich zusammen mit einer Zahnbürste und einer Tube Sunblocker in Windhoek am Flughafen gekauft hatte.

Sie legten einen Kreis aus Steinen um den Holzstoß. Die Wärme, die die Steine über Nacht abgäben, würden sie dringend benötigen, aber Max achtete darauf, dass sie nur schwere, massive Brocken nahmen. Weicheres Gestein, Schiefer zum Beispiel, explodierte bei zu großer Hitze. Das Abendbrot war kein großer Erfolg. Sie stocherten bloß in dem Essen herum, obwohl sie Hunger hatten. Vielleicht waren die Dosen schon alt, oder es fehlte das Salz, warum auch immer, es schmeckte wie Hundefutter. Max fand, sie brauchten dringend ein bisschen Aufmunterung. Ein heißes Getränk vertrieb das Frösteln und half ihnen, den Stress der letzten Stunden abzubauen – und außerdem konnten sie damit herunterspülen, was sie gerade gegessen hatten. Er zweigte ein wenig von dem kostbaren Wasser ab und machte Instantkaffee, in den er die Hälfte der Kondensmilchtube gab, die wundersamerweise aus der Proviantkiste gefallen war, bevor diese abhandengekommen war. Er ließ ! Koga zuerst trinken und freute sich an dem zufriedenen Lächeln, mit dem der Junge von der heißen, süßen Flüssigkeit nippte. !Koga gab ihm den Becher zurück.

»Morgen jagen wir. Wir müssen etwas Richtiges essen«, sagte er.

Max nickte. Um zu überleben, war er jetzt auf ! Koga angewiesen. Er hasste zwar das Gefühl, ausgeliefert zu sein, wusste aber, dass er sich zurücknehmen und darauf vertrauen musste, dass der junge Buschmann sie beide durchbringen würde.

Er schaute zu, wie ! Koga sorgfältig eine Handvoll Pfeile auf dem Boden ausbreitete. Aus einer kleinen Holzröhre schüttete der Buschmann-Junge ein paar verpuppte Larven, die er schon einige Zeit vor seiner Begegnung mit Max gesammelt hatte. Nach sorgfältiger Prüfung wählte er zwei aus und legte die anderen in das Behältnis zurück. Dann löste er die Tiere aus ihren Kokons, rollte sie zwischen den Fingern, bis es knackte, und strich die austretende Flüssigkeit unter die Metallspitzen der Pfeile.

Die Pfeilspitzen hatten ein kleines, aus Knochen gefertigtes Gelenk, das mit einer Schilfmanschette verbunden war, die die Spitze auf dem Schaft hielt. Wenn Buschmänner auf ein Tier schossen, sorgte dieses Gelenk dafür, dass sich die Pfeilspitze vom Schaft löste. Die vergiftete Spitze blieb in dem Tier stecken, und der wiederverwendbare Schaft fiel zu Boden. Dann verfolgten sie das Tier, bis es durch das Gift so stark geschwächt war, dass sie es mit einem Speer oder einem Messer erlegen konnten.

Max besah sich einen der Pfeile genauer. Die kleine Metallspitze hatte etwas Faszinierendes. Er wollte mit dem Finger darüberfahren, wollte ihre Schärfe prüfen. ! Koga packte ihn am Handgelenk und nahm ihm mit sanftem Tadel den Pfeil wieder ab. Der Junge lachte leise über die Ahnungslosigkeit seines weißen Gefährten.

Fass nie !Kogas Pfeilspitzen an, unter gar keinen Umständen.

 

Max fiel Kallies Warnung wieder ein. Das Gift ist tödlich, davon stirbst du. Die Buschmänner, Experten im Einsatz von Pfeilgiften, verwendeten neben Skorpion- und Schlangengiften auch das Gift verschiedener Pflanzen. Am liebsten jedoch griffen sie zu den Larven des Gefleckten Pfeilgiftkäfers, die, im Boden vergraben, in der Nähe von Bäumen zu finden waren. Ein Gegenmittel zu diesem Gift war bislang nicht bekannt. Neugierige, abenteuerlustige Schuljungen aus England wären binnen Minuten tot, wenn sie sich an so einer Pfeilspitze auch nur den Finger ritzten.

Morgen also würden sie auf die Jagd gehen und ihren härtesten Überlebenstest antreten. Zu Fuß würden sie sich in eine feindliche Welt aufmachen, bewaffnet nur mit Max’ Messer, !Kogas leichtem Speer und seinen Pfeilen. Max starrte gebannt ins Feuer. Die zuckenden Flammen erweckten die Schatten ringsum zum Leben – ein makabrer Tanz von Geisterwesen.

Der Morgen rückte immer näher.