14

Die plötzliche Attacke traf Max vollkommen unvorbereitet.

Sie waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und nach kurzer Nachtruhe schon vor dem Morgengrauen wieder aufgebrochen. ! Koga konzentrierte sich auf den Boden und bestätigte Max alle paar Stunden, dass die Fahrzeugspuren zweifellos in Richtung der Berge führten. Sie erreichten den Rand des ansteigenden Geländes noch bei Tageslicht. Durch ein trockenes Flussbett gelangten sie in die Ausläufer des Gebirges. Max sah vereinzelte Bäume in der Ferne, aber ! Koga wies ihn immer wieder warnend auf die Wolke hin, die den Gipfel des Berges verhüllte. Sie war pechschwarz und grollte wie ein Bär, und schon prasselten die ersten Regentropfen auf sie nieder. Ein eiskalter Sturm brauste die Bergflanke hinunter, als sollten die Eindringlinge verjagt werden. Der Wind traf sie mit voller Wucht, sie konnten sich kaum auf den Beinen halten, und dem Wind folgte Wasser, das ihnen knöcheltief über die ganze Breite des Flussbetts entgegenschoss.

»Wir müssen zu den Felsen da, falls das zu einer Sturzflut wird!«, schrie Max durch das wütende Heulen des Sturms. Als er durch das seichte Wasser watete, sah Max genau, wo sie hinmussten – zu einer Felszunge, die wie ein mächtiges Sprungbrett über den Fluss ragte. Nach wenigen Minuten hatten sie den breiten Rücken erreicht. Max sah sich um. Wo er eben noch hindurchgegangen war, stand das Wasser jetzt schon kniehoch. Während sie weiter hinaufstiegen, schwoll der Pegel bis zur Hüfthöhe an, und dann schoss ein gewaltiger Schwall um die Biegung, krachte in das gegenüberliegende Ufer und wurde von den Felsen dort direkt auf ihn und !Koga zurückgeworfen. Max erkannte sofort, was geschehen würde. Das Wasser war schon mehr als mannshoch, und in der Biegung strudelte es und türmte sich zu einer Wand, die bis an ihr Ufer zurückschwappen und über die flache Felstafel, auf der sie jetzt standen, hinwegrauschen würde.

Er schrie !Koga gegen den aufbrausenden Sturm zu, er solle rennen, aber der Junge konnte ihn nicht hören. ! Koga wollte sich bereits auf dem Felsrücken aufrichten und stützte sich halb gebückt mit einer Hand am Boden ab. Das Wasser tobte, und mit dem immer heftiger werdenden Sturm vereinigte es sich zu einem reißenden Strudel aus peitschendem Regen, der mit dem Wind und dem Fluss darum wetteiferte, wer sie wohl als Erstes vernichten würde.

Max rannte die Felsfläche nach oben, die Verzweiflung gab seinen Beinen neue Kraft. Er kam gerade noch rechtzeitig bei !Koga an, um zu sehen, was sich in der Rinne abspielte, die jenseits des Felsens, auf dem sie standen, das Wasser den Berg hinunterleitete. Die immer noch anschwellenden Wassermassen spülten Schlamm und Geröll mit nach unten. Der Engpass am Fuß des Berges, wo die schäumenden Strudel an der Biegung an das gegenüberliegende Ufer brandeten, verstärkte den Druck des Wassers noch weiter. Wenn das Wasser ihre Uferseite erreichte, würde es den Weg des geringsten Widerstands nehmen und sie gnadenlos mit sich reißen.

Max packte ! Kogas Arm und wollte ihn fortziehen, aber der Junge sträubte sich. »Wir müssen weiter nach oben!«, schrie Max.

Max erlebte hier zum ersten Mal, dass ! Koga in Panik geriet. Der Junge hatte die Augen weit aufgerissen und atmete in kurzen heftigen Stößen. Gelähmt vor Angst starrte er in die Wassermassen. Wenn sie sich in Sicherheit bringen und trockenes Land erreichen wollten, mussten sie hinunterspringen und knapp zehn Meter weit durch mindestens hüfthohes Wasser waten. Und wenn sie jetzt nicht sprangen, würde sich diese Strecke in kürzester Zeit verdreifachen.

!Koga schüttelte den Kopf. »Kein Wasser!«

»Komm schon!« Max war stärker als sein Freund und zog ihn mit festem Griff über die Kante – vor ihnen erhob sich eine schlammige, schäumende Woge, die über ihnen zusammenzuschlagen drohte.

»Ich kann nicht schwimmen!«, schrie !Koga.

Max zögerte keine Sekunde. »Das brauchst du auch nicht!«, schrie er und riss !Koga mit sich. Sie flogen durch die Luft und landeten dort, wo eben noch das trockene Flussbett gewesen war und jetzt brusthohes Wasser strömte. Max hielt ! Koga fest am Handgelenk gepackt und staunte selbst über seine Kraft. Als sie in die wirbelnde Strömung klatschten, wurden sie hin und her geworfen, aber Max stemmte sich dagegen, achtete nicht auf das Geröll, das schmerzhaft an seine Schienbeine schlug, und zog ! Koga hinter sich her. Als sie auf trockenes Gelände krochen, brach hinter ihnen die Woge. Wasser schoss über den flachen Felsen und übergoss sie mit einem schmutzigen Schwall. Sie waren durchnässt, aber in Sicherheit. Der tosende Strom würde an Kraft verlieren, je weiter er sich in die Ebene hineinbewegte.

Max zog ! Koga hinter sich her, bis der Fluss ihnen nichts mehr anhaben konnte. Atemlos beobachteten sie, wie das Wasser, jetzt ein stetiger Strom, unter ihnen vorbeifloss. Der Regen ließ nach, die grollenden Wolken beruhigten sich, und bis auf das Gurgeln des Wassers war alles still.

»Der Berggott«, flüsterte ! Koga.

Max nickte.

Wozu darüber streiten? Sein Freund hatte seinen Glauben, und da man ja wirklich meinen konnte, ihr unerlaubtes Eindringen habe das Gewitter ausgelöst, war Max sich gar nicht so sicher, dass ! Koga Unrecht hatte.

»Na, jetzt hat er sich beruhigt. Vielleicht hat er was gegen Besuch. Wenn bei mir irgendwelche Leute über den Gartenzaun steigen und die Blumen zertrampeln würden, würde ich sie auch mit dem Schlauch abspritzen«, sagte Max lächelnd, aber !Koga schien immer noch besorgt und sah nervös zu dem finsteren Gipfel hinauf.

»Das war eine Sturzflut. Sieh mal.« Er zeigte auf das Flussbett. Der Wasserspiegel sank bereits. Irgendwo weiter abwärts wurde der Fluss von der Erde verschlungen. Nur Schlamm und Felsbrocken blieben zurück. »Wir gehen nicht da rauf, also keine Sorge.« Er legte ! Koga einen Arm um die Schultern. »Schlafende Götter soll man nicht wecken.«

Sie gingen um die Ausläufer des Bergs herum, und plötzlich sah Max den Ort, von dem er instinktiv wusste, dass er ihr Ziel war – ein flaches Gelände zwischen hohem Gras und der Baumgrenze. Das Gras der Savanne war mehr als mannshoch, aber Generationen von Elefanten hatten auf ihren Wanderungen zu den Wasserstellen einen schmalen Streifen platt getrampelt. Max sah sich das Gelände genau an. Tiere würden sich vor der Sturzflut wahrscheinlich in die Feuchtgebiete weiter nördlich zurückziehen. Irgendwo da unten war die gefangene Taube, die er vor seinem inneren Auge gesehen hatte. Eine Vision wollte er das nicht nennen, aber eine Erklärung dafür hatte er immer noch nicht gefunden. Mit Sicherheit wusste er nur, dass die Bilder in seinem Kopf ihn hierhergeführt hatten.

Der Schrei eines Adlers riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah zu dem kreisenden Vogel hinauf, der von der steilen Bergflanke herabgestoßen war. Beim Anblick des Adlers durchlief ihn ein Frösteln. Der Adler schien ihn zu rufen – wie ein Adler den anderen. War es vielleicht eine Warnung? Der Vogel schwebte im Aufwind empor, und ein plötzlich heranfegender Sandwirbel zwang sie, sich abzuwenden und die Hände schützend vor die Augen zu halten. Als der Wind sich legte, stand Max von dem niedergetrampelten Grasstreifen abgewandt und blickte in die andere Richtung. Am Rand seines Blickfelds bemerkte er zwischen den Bäumen eine Gestalt. Sie war grün, aber von einem anderen Grün als die Umgebung, und am Rand der Steppe war ein kleiner Schatten zu erkennen.

Zuerst dachte Max, es sei ein Schakal. Wieso vergaß er ausgerechnet immer wieder den entscheidenden Hinweis in dieser Sache – die geisterhafte Gestalt des Schakals? Er musste an die ägyptischen Geschichten seines Vaters denken – der Schakal war nicht nur der Gott der Toten, sondern auch der Führer zwischen den beiden Welten. Er wies den Weg. Das schien logisch. Auch in den Höhlenzeichnungen war es der Schakal, der ihn zu den Bildern von sich und seinem Vater an der Wand geführt hatte.

Adler, Staubwirbel und ein Geist – alles führte ihn an diesen einen Ort.

 

Das platt getrampelte Gras fühlte sich unter ihren Füßen an wie Stroh. Das hohe Gras auf der einen Seite und die niedrigen Bäume auf der anderen erzeugten in Max eine Mischung aus Furcht und Hoffnung. Der Ort hatte zugleich etwas Tröstliches, wie die Höhle, die er als Kind einmal gehabt hatte – ein geheimer Ort, an dem man sich verstecken konnte und unsichtbar war; einer dieser besonderen Orte, von denen niemand etwas weiß, andererseits aber auch so etwas wie eine Falle mit einem Köder darin. Je weiter sie auf dem Elefantenpfad vorangingen, desto höher stand das Gras, desto dichter wurden die Büsche und Bäume.

Max blieb stehen. ! Koga ging noch etwas weiter und ließ sich auf eines seiner Knie nieder. Max sah sich um. Eine kleiner Schwarm schnatternder Vögel stob aus den Baumwipfeln hervor. War das eine Warnung, oder bekundeten sie nur ihren Ärger darüber, dass Max und !Koga in ihr Gebiet eingedrungen waren? Max stellte sich neben seinen Freund und starrte ins Unterholz. Da drin war etwas – es nistete in den Schatten. Ein flatterndes Rascheln, wie Buchenlaub.

»Da sind keine Spuren«, sagte ! Koga. Aber das bedeutete nicht, dass ein Tier nicht aus einer anderen Richtung ins Unterholz gekrochen sein konnte. Der Wind, eine kaum spürbare Brise, kam von hinten, sodass sie keine Witterung aufnehmen konnten, während das, was auch immer da drin steckte, ihren Geruch wahrnehmen musste. Fressgeräusche waren nicht zu hören. Elefanten würden die Zweige abreißen. Was sonst? Büffel sollte es in dieser Gegend eigentlich nicht geben, aber damals beim Ansturm der Tiere hatten sie bereits einmal eine bösartige Herde erlebt. Bauern hatten vergeblich versucht, diese äußerst gefährlichen Tiere zu zähmen, und nun gab es hier und da noch vereinzelt kleine Herden. Aber ein einzelner Büffel konnte warten, bis ein ahnungsloser Jäger dicht vor ihm stand, um dann zum tödlichen Angriff überzugehen.

!Koga setzte einen Pfeil auf die Sehne seines Bogens, und Max folgte seinem Beispiel. Eine so mickrige Waffe nützte natürlich kaum etwas bei einem so mächtigen Tier, aber sie gab ihnen ein wenig Mut. Sie entfernten sich ein paar Schritte voneinander und drangen vorsichtig in das Unterholz vor. Der Schatten lag zehn Meter vor ihnen, ein Pfad aus abgebrochenen Zweigen.

Die Sonne flimmerte durchs Laubwerk. Sie waren jetzt dicht dran. Max senkte den Bogen, streckte die Hand nach der unförmigen Gestalt vor ihm aus und berührte einen dürren Zweig, der gleich zu Boden fiel. Noch ein Schritt nach vorn, ein weiterer abgeschnittener Zweig. Auch den zog er weg. Jemand hatte hier auf der Lichtung etwas unter den Zweigen versteckt. Jetzt berührte er etwas, was sich wie grobe Schnur und Plastik anfühlte. Er zerrte daran, aber es gab nicht nach. Es war ein Netz, das an dornigen Ästen festhing. Ein Tarnnetz. Kleine, verschieden grün gefärbte Plastikfetzen. So etwas hatte Max auf dem Übungsgelände der Armee schon oft gesehen. Damit konnte man die Umrisse eines Panzerfahrzeugs so verwischen, dass es kaum noch zu erkennen war. Hier aber war deutlich zu sehen, was sich unter dem Netz befand.

Ein kleines Flugzeug.

Und auf der Heckflosse prangte eine gezeichnete Taube.

 

Jemand hatte das Flugzeug zwischen die Bäume geschoben und das Tarnnetz darübergeworfen. Es sah aus, als habe derjenige Vorsorge für eine eilige Flucht getroffen, denn man brauchte nur die abgeschnittenen Zweige beiseitezuwerfen und den vorderen Teil des Netzes vom Propeller zu ziehen, und schon konnte der Pilot die Maschine nach vorne rollen lassen, auf den platt getretenen Grasstreifen lenken und abheben.

Max und !Koga schlichen um das Flugzeug herum. Unter den Bäumen war die Luft kühler, und das Netz spendete zusätzlich Schatten. Max hatte Schuldgefühle, denn er drang hier in den geheimen Bereich eines anderen ein. Das Flugzeug war, soweit er das beurteilen konnte, unbeschädigt und ungefähr vom gleichen Baujahr wie das von Kallie, keine sehr komplizierte Maschine und nicht besonders komfortabel, aber scheinbar doch funktionstüchtig. Zögernd packte er den Griff der Kabinentür. Sie war nicht abgeschlossen. Die Tür quietschte leise, und aus dem Inneren wehte ihm kühle Luft ins Gesicht.

!Koga hatte sich ins helle Sonnenlicht zurückgezogen, und vom Pilotensitz, wo Max jetzt saß, sah die Lücke zwischen den Bäumen wie der Eingang zu einer Höhle aus, wobei das dunkle Innere des Flugzeugs die Höhle war. Max berührte die Schalthebel, umfasste sie wie den Joystick des Flugsimulators an seinem Computer zu Hause. Wie still es war. Er kam sich vor wie im Innern eines Mausoleums. Die Kontrolllämpchen warteten nur auf elektrischen Strom, um etwas anzuzeigen. Tankanzeige, Fluggeschwindigkeit – in Knoten, nicht in Meilen pro Stunde wie bei Kallies Maschine –, die hier war doch ein wenig moderner. Steiggeschwindigkeit, Höhenmesser, eine Reihe von Kippschaltern für Scheinwerfer und Treibstoffpumpe, Warnhinweise, die dazu aufforderten, den Treibstoff auf Verunreinigungen zu prüfen und sich vor Start und Landung zu vergewissern, dass der Sitz fest eingerastet war. Ein roter Hauptschalter, der auf Aus stand, wartete nur auf den Zündschlüssel, um den Motor anzuwerfen. Der Zündschlüssel steckte allerdings nicht im Schloss. Ohne nachzudenken, klappte Max die Sonnenblende herunter und erblickte dort einen abgenutzten Schlüssel, an dem ein braunes Pappschildchen baumelte. Darauf stand eine nach jahrelangem Gebrauch verblasste und kaum noch lesbare Funkrufnummer.

Max steckte den Schlüssel in das Zündschloss und drehte ihn. Die Batterie begann zu summen, die Anzeigen erwachten zum Leben – und warteten wie gut gedrillte Soldaten auf einen Befehl. Max schaltete die Zündung schnell wieder aus. !Koga öffnete die andere Tür, als Max den Schlüssel gerade zurück unter die Sonnenblende klemmte.

»Jemand hat sich das für eine schnelle Flucht bereitgestellt«, sagte Max.

»Im Gras sind Spuren. Ich glaube, die sind von demselben Wagen, der am Platz der Toten war. «

»Das würde heißen, das Flugzeug ist hier gelandet, jemand in einem Landrover oder so hat den Piloten in Empfang genommen, sie haben das Flugzeug versteckt und sind dann zusammen weggefahren«, sagte Max. Plötzlich fielen ihm die Höhlenzeichnungen ein. Die versteckte Taube, der verletzte weiße Mann. Dieses Flugzeug musste das sein, mit dem sein Vater geflogen war! Es war ! Kogas Vater, der Tom Gordons Aufzeichnungen von dort mitgenommen hatte, wo die Buschmänner gestorben waren und, wie er gesagt hatte, zwei weiße Männer in einem Pick-up gekommen waren. Dad und Anton Leopold. Also hatte Dad vielleicht von Leopold am Boden eine Nachricht erhalten und sich dann hier mit ihm getroffen. Leopold hatte ihm bestimmt von den toten Buschmännern erzählt, und wie er seinen Vater kannte, war Max sofort klar, dass sie die Verfolgung der dafür Verantwortlichen aufgenommen hatten. ! Kogas Vater hatte ihnen erzählt, dass die zwei Weißen den anderen Männern nachgegangen seien. Also hatte sein Vater das Flugzeug versteckt, um notfalls schnell von hier fortkommen zu können.

Max drehte sich um und sah in den hinteren Teil des Flugzeugs. Ein paar leere Plastikflaschen, eine Kiste mit Feldrationen. Keine Kleidung, kein Gepäck. Kein Hinweis darauf, dass sein Vater der Pilot war. Ein viereckiger dunkler Fleck neben einem grün-weißen Erste-Hilfe-Aufkleber. Der Kasten fehlte, er war wohl zum ersten Mal aus der Halterung genommen worden, wenn man sich den schmutzigen Umriss ansah.

Max kletterte nach hinten. Seine Finger strichen über das Metall des Flugzeugrumpfs, zogen die Form der Kabine nach. War hier etwas versteckt? Gab es irgendwelche Anhaltspunkte? Sein Vater hatte diese Zeichnungen gemacht, um ihn hierher zu der Taube zu führen. Irgendetwas musste doch zu finden sein. Und plötzlich entdeckten seine Finger, was seinen Augen entgangen war. Er zuckte zusammen und zog die Hand zurück, die aus einer kleinen Wunde blutete. Unten, an der Kante zwischen Kabinenwand und Boden, waren drei Löcher im Metall. Einschusslöcher. Die Ränder waren minimal nach innen gebogen; und an deren gezackten Spitzen hatte er sich den Finger aufgerissen.

Er lutschte das Blut ab und prüfte den Winkel, in dem das Licht durch die Löcher kam. Dann zog er einen dünnen Pfeil aus dem Köcher und schob ihn durch eines der Löcher. Der Winkel zeigte ihm, dass die Kugel, die dieses Loch hinterlassen hatte, zwischen dem Sitz und den Kontrollhebeln eingeschlagen sein musste. Das hieß, der Pilot war am Bein getroffen worden. Er bückte sich und stellte fest, dass der dunkle Fleck am Boden kein getrockneter Schlamm war. Unter dem Sitz des Kopiloten war der Rand eines schmutzigen Papierblatts zu sehen. Anscheinend eine Landkarte.

Als er unter den Sitz griff und das Papier vorsichtig herauszupfte, stieß er an etwas, das nun leise wegrollte. Er tastete weiter und fand ein Glasröhrchen. Eine leere Morphium-Ampulle.

Max nahm die gefaltete Landkarte. An den Rand hatte jemand Sektorsuche gekritzelt. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Das war das Flugzeug seines Vaters. Denn das war seine Handschrift.

Offenbar war sein Vater angeschossen worden.

Die Karte war noch verschmutzter als seine eigene. Er schlug sie auf. Ein Gebiet war mit verblassten Bleistiftstrichen umrahmt. Wo genau dieses Gebiet lag, konnte Max nicht feststellen, aber er sah mindestens ein Dutzend Markierungen – kleine rote Kreuze – darauf eingezeichnet. Max faltete die Karte weiter auseinander, strich mit den Fingern über Höhenlinien, Berge, Flüsse. Die Karte war zu groß, um sie in der engen Kabine vernünftig lesen zu können.

Als er aus dem Cockpit stieg, fiel aus der großen Karte eine kleinere heraus. Eine hydrologische Karte.

Wenig später hatten er und ! Koga beide Karten auf dem Boden neben dem Flugzeug ausgebreitet. Das größere Blatt passte zu Max’ eigener Karte, zeigte aber nur wenig Einzelheiten. Die roten Kreuze konzentrierten sich auf die Gegend im nordöstlichen Teil. Max verfolgte mit dem Finger den Weg zu Kallies Gebiet, wo er seine Reise angetreten hatte. Brandts Farm war ebenfalls eingetragen.

Es war, als betrachte er das Land vom Weltraum aus. Farmnamen, Landepisten, Siedlungen und Ortschaften – alles war im Lauf der Jahre verzeichnet worden. Max fand die ungefähre Stelle, an der sie überfallen worden waren, nachdem sie Kallie verlassen hatten, ihren Weg über die Berge, die heilige Höhle, das Gebiet der Buschmänner. Und er kam den roten Kreuzen immer näher. Die hydrologische Karte war schwieriger zu lesen. Darauf gab es keine Ortsnamen, nur Wasseradern, verästelt wie die feinen Muster auf Blättern. An zwei oder drei Stellen hatte der Kartenzeichner mit einem blauem Stift dichte Schraffuren eingefügt. Das waren die Sümpfe, erkannte Max. Links davon prangte ein dunkler Fleck, der wie eine Spinne am Ende eines Fadens schwebte. Das war ein Stichkanal, und die Spinnenbeine waren kleine Wasserläufe, die in den Sümpfen versickerten.

»Ich glaube, wir sind ungefähr hier, ! Koga«, sagte Max und deutete auf das Gebiet südöstlich der Spinne.

»Was bedeutet das da?«, fragte ! Koga und zeigte auf die roten Kreuze.

Max zögerte. »Na ja … vielleicht sind das Stellen, an denen Leute gestorben sind. Sieh mal …« Und er zeigte ihm den Weg, den sie zurückgelegt hatten und der an einem halben Dutzend Kreuze vorbeiführte. »Ich nehme an, das ist die Stelle, wo die Erde blutet. Wo deine Leute gestorben sind, und wo unsere Väter sich getroffen haben.«

»Dein Vater hat also viele Tote gefunden.«

»Ja, sieht so aus.«

»Aber warum sind sie gestorben?«

»Vielleicht wegen des Wassers. Das hier ist eine Wasserkarte. Diese dünnen Linien hier könnten unterirdische Wasserläufe sein. Das ist das Spezialgebiet meines Vaters.« Max sprang auf, kletterte ins Cockpit zurück und untersuchte das Funkgerät. Sie brauchten Hilfe. Leute starben, sein Vater war verwundet. Sein Finger schwebte über dem Einschaltknopf. Er zögerte. Er hatte die Chance, über Funk Hilfe zu holen. Kallie, die Polizei. Er könnte sich mit Angelo Farentino in Verbindung setzen. Max war kurz davor, seinen Vater zu finden; sie hatten einen langen Weg hinter sich, und jetzt zögerte er.

In der Stille des kühlen Cockpits versuchte Max sich vorzustellen, wie Dad und sein Helfer das Flugzeug hier zwischen die Bäume geschoben hatten. Sein Vater war verletzt, jemand hatte versucht, ihn vom Himmel zu schießen – und Leopold, von dem Max gar nichts wusste. War er ein junger oder älterer Mann? Jedenfalls war er scheinbar ein guter Fachmann, sonst hätte sein Vater ihn nicht mitgenommen. Aber egal. Die beiden hatten das Flugzeug versteckt und für eine schnelle Flucht vorbereitet. Wie viel Strom war noch in der Batterie? Womöglich reichte ein Funkspruch, und sie war leer. Niemand wusste, wo sein Vater war. Beim Flugzeug konnte Max nicht bleiben. Er musste weitersuchen. Falls sie sich verpassten und sein Dad hierherkam, weil er fliehen musste, durfte Max ihm diese Möglichkeit nicht nehmen. Na los, denk nach! Was würde sein Vater von ihm erwarten? Die Botschaft an der Höhlenwand hatte ihn hierhergeführt. Waren die Karten auch für ihn bestimmt gewesen? War das Absicht? Oder waren sie im Eifer des Gefechts einfach weggesteckt und vergessen worden? Was war noch auf diesen Höhlenbildern zu sehen gewesen? Die Taube, der verwundete Mann, der Morgenstern – jedes dieser Bilder ein Hinweis für ihn. Dann fiel ihm dieses klaffende Loch ein, das ebenfalls an die Höhlenwand gezeichnet worden war, wie ein riesiger Strudel, mit einer Wolke darüber. Er sprang aus dem Cockpit und trat neben !Koga, der immer noch die große Karte betrachtete, diese unvertraute Landschaft, angefertigt aus der Sicht eines Landvermessers.

»Diese Linie da. Wie eine Schlange«, sagte ! Koga.

»Zeig mal.«

!Koga legte einen Finger auf die Küste bei Walvis Bay. Die rote Linie schlängelte sich auf den dunklen Fleck zu, der auf der hydrologischen Karte dem Spinnenkörper entsprochen hätte.

»Das ist eine Straße«, sagte Max. »Sie führt von der Küste in dieses Gebiet, was auch immer das sein mag. Vielleicht ist das der Weg, den der Mitarbeiter meines Vaters genommen hat. Ich weiß es nicht. Darum sollten wir uns jetzt nicht kümmern. Erinnerst du dich an die Höhlenwand? Da war eine Zeichnung, die sah aus wie ein großes Loch in der Erde mit einer Art Strudel darin.« Max bemühte sich um eine genaue Beschreibung und hoffte, der junge Buschmann könne sich an das Bild erinnern, das er meinte. »Vielleicht eine Senke oder so was Ähnliches, wo der Wind an Tempo gewinnt und sich zu einem Wirbelsturm entwickelt.«

!Koga schüttelte den Kopf. Max spürte, dass er es nicht richtig erklärte. Daher nahm er Stöckchen und Steine, ein paar Blätter und Flechten und legte alles zu einem Modell zusammen, so wie es ! Koga einmal getan hatte, als er ihm den Weg erklärt hatte, den sie einschlagen wollten. Sein Freund war mit diesem Land verwachsen, und so eine greifbare Darstellung hatte für ihn viel mehr Bedeutung als irgendwelche Linien auf einer Karte.

»Hier haben wir unser Lager verlassen, hier wurde ich verletzt …«

!Koga nickte. Wenn er ahnte, wo sie sich zurzeit befanden, wollte Max das unbedingt wissen.

»Kannst du mir zeigen, wo die Leute gestorben sind, die Stelle, wo die Erde blutet?«

Ohne zu zögern, wischte ! Koga eine Fläche auf dem Erdboden frei. Er scharrte einen Strich in den Sand und daneben ein paar tiefere Furchen, die das Gelände darstellen sollten, wo das Wasser versickerte. »Hier.«

»Und wo sind wir jetzt?«, fragte Max und begann, sich auf der in den Sand gezeichneten Karte zu orientieren.

!Koga zog eine Linie weg von den letzten Zeichen, rupfte etwas Gras aus, womit er die Elefantenpfade und die Bäume markierte, zwischen denen sie jetzt hockten, und legte aus zwei Stöckchen ein Kreuz – das Flugzeug.

Max zog einen weiten Halbkreis um ihre Position. »Und was ist hier?«

!Koga schien unsicher. Dann drehte er einen Daumen nach unten und zeigte nacheinander auf verschiedene Stellen in Max’ Halbkreis. »Hier sind die Löwen. Fünf Familien. Es sind mutige Löwen, und meine Leute haben in ihrer Nähe gejagt. An dieser Seite ist der Salzsee fest geworden. Man braucht viele Tage, um ihn zu überqueren, und es gibt dort kein Wasser und nichts, wo man hingehen könnte, also gibt es auch keinen Grund, ihn zu überqueren. Aber hier jagen wir Wildschweine, und hier hat Ukwane ein Gnu erbeutet, und das Gnu hat ihm nicht verziehen und, bevor es starb, den Kopf gehoben und Ukwane getötet. Er war ein großer Jäger. Und hier ist die Polizei, da, wo die Lastwagen halten. Das ist eine Tankstelle.«

»Wie weit?«

»Fünf Tage.«

»Was noch?«

»Hier ist eine Stelle, wo wir nicht jagen dürfen. Weil da Touristen sind.«

»Ein Wildreservat?«

»Ja. Früher haben wir dort gejagt, aber die Regierung sagt, dort dürfen wir es nicht mehr.« ! Koga zeigte auf eine andere Stelle. »Da gehen wir nicht hin.«

»Warum nicht, ! Koga? Ist da Polizei oder die Armee?« Max erinnerte sich, dass sowohl die Polizei als auch die Armee, bei der keine Buschmänner, sondern andere Stämme arbeiteten, die nomadischen Jäger und Sammler schikanierten.

!Koga murmelte etwas Unverständliches und schüttelte den Kopf, fast als wolle er über das verbotene Gebiet nicht sprechen. »Dort ist Tod. Dort ist schon immer Tod gewesen.«

Buschmänner sprachen nicht gern vom Tod. Böse Geister waren für sie etwas Wirkliches, reale Wesen, die sie ohne Vorwarnung mitnehmen konnten.

»Warst du mal da?«

»Nein. Das ist nicht gut.«

»Wie weit ist es dorthin?«, fragte Max nach.

»Zwei Tage – wenn wir laufen wie der Wind«, sagte er und lachte, »so wie du! Aber wir können dort nicht hin. Es ist … Ich kann es nicht sagen.«

»Ist das ein heiliger Ort für euch? Wie eine Begräbnisstätte?«, fragte Max, um ihm eine genauere Antwort zu entlocken.

»Nein, nicht heilig. Schlecht. Das ist ein schlechter Ort.«

!Koga schaufelte eine Handvoll Sand aus dem Boden heraus und formte ein kleines Loch. Dann las er rasch ein paar grobe Steine auf, warf sie in das Loch und fasste den Rand mit glatteren Steinen ein. Zum Schluss bröckelte er trockenes Laub und Flechten darüber. »Nur wenige Jäger sind an diesem Ort gewesen. Sie erzählen, da sei ein großes Ungeheuer, das unter der Erde lebt. Es verströmt den Atem des Todes. Es versucht, unter uns und den Tieren zu leben. Aber es ist unter der Erde gefangen. Es ist wütend und will wie die Menschen sein, aber das kann es nicht.«

Wenn da auf oder unter der Erde etwas so Furchterregendes war, dann hatte es bestimmt etwas mit der Suche nach seinem Vater zu tun, dachte Max. Er überlegte kurz, dann sah er sich die Karte genau an, bestimmte die Wegrichtung zu dem Gebiet, das ! Koga ihm auf dem Boden gezeigt hatte, und maß, wie weit es entfernt war. Erst jetzt fiel ihm auf, dass viele Ortsnamen noch aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg stammten, als die Deutschen dieses Land besetzt hatten. Er fuhr mit dem Finger über das faltige Papier und entdeckte ein kleines, kaum erkennbares Symbol, das laut Kartenlegende, wenn er dort nachgesehen hätte, ein Fort markierte; aber Max wusste auch so, was eine Festung war. Angelo Farentino hatte ihm Luftaufnahmen des Forts gezeigt, das der verrückte deutsche Adlige im neunzehnten Jahrhundert erbaut hatte. Heute gehörte es Shaka Chang. Ihn überkam eine schreckliche Ahnung. Keinen halben Kilometer von dem Fort entfernt war ein kleines Wellensymbol – kein See, kein Sumpf, kein Fluss, nichts davon war die richtige Bezeichnung dafür. Der Name daneben war noch kleiner gedruckt als die anderen Ortsnamen auf der Karte, wahrscheinlich weil er so lang war: Der Atem des Teufels stand da auf Deutsch.

Das war !Kogas Ungeheuer, und Max wusste, genau dort musste er hin.