22

Max war mit Schernastyns Handabdruck in den Sicherheitsbereich zurückgelangt, hatte seinen Vater aus dem Bett geholt und dafür Schernastyn hineingelegt, angegurtet und ihm eine Sauerstoffmaske über den zugeklebten Mund gestülpt. Jemand, der nur einen flüchtigen Blick in das Zimmer warf, ließ sich davon vielleicht täuschen. Die Frage war nur, wie lange. Max wusste, dass ihm die Zeit davonlief, aber er musste eine Möglichkeit finden, Shaka Changs Kontrollzentrum zu erreichen. Wenn er das beschädigen oder zerstören konnte, ließ sich die Öffnung der Schleusentore womöglich verzögern.

Max sah instinktiv auf sein Handgelenk. Die Uhr war natürlich weg, aber in diesem kurzen Moment ließ er es zu, an !Koga zu denken. Hol Hilfe, !Koga. Ich brauche jede, die ich kriegen kann, dachte Max inständig.

Er hatte seinen Vater vorsichtig in den Rollstuhl gesetzt. Tom Gordon verlor immer wieder das Bewusstsein. Max lief die Zeit davon. Jede weitere Sekunde in dieser Krankenabteilung war vergeudet. Er rannte zurück zu dem Überlaufbecken hinter den Turbinen und ließ die alles entscheidende DVD, die er wieder fest mit Klebeband umwickelt hatte, durch das Eisengitter ins Wasser fallen. Inzwischen müsste Sayid die Informationen doch erhalten haben. Hoffentlich. Max wollte nicht riskieren, damit erwischt zu werden, denn dann wäre sein Leben und das seines Vaters keinen Pfifferling mehr wert.

Aber wohin konnte Max fliehen? Er versuchte, sich die Lage klarzumachen. Wenn das Fort im neunzehnten Jahrhundert gebaut worden war, hatte es damals noch keine Aufzugschächte gegeben. Die hatte Shaka Chang erst später einbauen lassen. Das heißt, es musste irgendwo Treppen geben, insbesondere nach unten in den Kellerbereich, wo das alte Eisengitter über dem Wasserbecken lag. Damals mochten Dienstboten von dort das Wasser für die Küche und die Wohnquartiere geholt haben. Demnach mussten auch Treppen ganz nach oben führen. Wenn man hoch zum Hangar kam, ohne den Aufzug zu benutzen, wäre das seine Chance, sich selbst und seinen Vater von diesem mörderischen Ort wegzubringen.

Max hatte Schraubenzieher aus dem Werkzeuggürtel des Wartungsmonteurs als Keile benutzt, um alle nötigen Türen offen zu halten, aber jetzt musste er sich schnell entscheiden. Wahrscheinlich, überlegte er, hatte man den Aufzugschacht in der Nähe eines Treppenhauses angelegt, das bereits vor über hundert Jahren in den Fels gehauen worden war. Max schob seinen Vater zu den Aufzugtüren. Er blickte in den dunklen Schacht hinein, an den Kabeln und Stahlträgern entlang. Nackter Fels bis ganz nach oben, so weit er schauen konnte.

Das Naheliegendste hatte er übersehen. Offenbar war er viel erschöpfter, als ihm bewusst war. Die Tür. Eine Tür mit einem kleinen Gefahrenschild – Hochspannung. Sie fühlte sich an wie massiver Stahl und war verschlossen. Als er den Wartungsmonteur gefesselt hatte, war ihm jedoch in den Sinn gekommen, sich dessen Werkzeuggürtel umzubinden. Also nahm er einen Schraubenzieher, um das Schloss damit aufzubrechen, entdeckte dann aber in dem Gürtel einen Steckschlüssel, eine etwa fünfzig Zentimeter lange Eisenstange mit abgeschrägtem Ende. Die Stange lag perfekt in der Hand und ließ sich nahezu mühelos in das sechseckige Loch des Türschlosses einführen. Eine Drehung des Handgelenks, und die Tür ging auf. Genau wie zu Hause, wenn der Gasmann die Zählerbox aufmachte.

Ein halbes Dutzend Treppenstufen führte nach oben, dann bog die Treppe nach rechts ab und ging im Zickzack hinter dem Aufzugschacht weiter. Da kam er mit dem Rollstuhl niemals rauf.

Über der Aufzugtür leuchtete plötzlich ein Lämpchen auf. Vierte Etage. Shaka Changs Privatgemächer. Jemand kam mit dem Aufzug von dort herunter.

Dritte Etage.

Zweite.

Die Zeit war abgelaufen.

 

Slye war nervös.

Routine war das Rückgrat seiner Welt. Ein festes System von Verhaltensmustern bedeutete, dass die Leute immer taten, was sie tun sollten und wann sie es tun sollten. Aber als er Dr. Schernastyn anrief, nahm niemand ab. Und der Überwachungscomputer zeigte an, dass der Arzt den medizinischen Sektor verlassen hatte, zum Hangar gegangen und wieder zurückgekommen war. Das gehörte nicht zu seiner Routine. Was hatte er dort gewollt? Was sollte das? Dort war doch nichts, was … ach so. Erleichtert atmete Slye auf. Schernastyn war Raucher. Eine widerwärtige Sucht. Das machte seinen schlechten Atem noch unausstehlicher als seine faulen Zähne, und inner halb des Forts war Rauchen strengstens untersagt. Schernastyn war in den Wartungsbereich gegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Das musste es sein. Egal, jetzt war er wieder da, wo er hingehörte, und konnte damit beginnen, den Gefangenen zu foltern.

Slye schloss die Augen und atmete konzentriert ein und aus, um die Spannung zu lösen, die er stets in sich trug. Sein Körper war steif wie ein Brett. Er fuhr mit dem Aufzug nach unten und betrachtete sein Spiegelbild im dunklen Glas der Kabine. Die schwarzen Haare streng von seinem hageren Gesicht nach hinten gekämmt, sah er aus wie ein Leichenbestatter. Einer, der sich um die Toten kümmerte und sie unter die Erde brachte. Ja, das stimmte eigentlich, dachte er. Er klärte so viele Geheimnisse auf und vergrub sie wieder so tief, dass nur er noch wusste, wo sie zu finden waren. Er könnte ein Vermögen machen, wenn er nicht so loyal wäre. Aber wenn er weniger Angst hätte, wäre er wohl bereits ein toter Mann.

Der Aufzug blieb stehen. Die Tür glitt auf. Die Stimme begrüßte ihn.

»Kellergeschoss. Turbinenstation links, seismologische Abteilung geradeaus, Folterzellen rechts. Ich wünsche einen guten Tag.«

»Ach, halt die Klappe«, murmelte Slye.

 

Max hatte den Werkzeuggürtel abgeschnallt und um seinen Vater geschlungen. Dann hatte er sich vor den Rollstuhl gehockt, seinen Dad auf den Rücken genommen und die Gürtelschnalle vor seiner Brust geschlossen. Er rückte sich die Last zurecht, gab dem Rollstuhl einen Stoß, sodass er in den Korridor sauste, und begann die Treppe hochzusteigen.

Seine Knie gaben nach, aber da es aufwärtsging, konnte er sich nach vorn beugen und das zusätzliche Gewicht einigermaßen tragen. Er hatte ein halbes Dutzend Stufen geschafft, als plötzlich der gläserne Aufzug an ihm vorbei nach unten rauschte. Max sah den Rücken eines Mannes, schwarz gekleidet, schwarzes, nach hinten gekämmtes Haar, die Finger um ein kleines Notebook gekrallt. Der Mann stieg im Kellergeschoss aus und wandte sich nach rechts, zum medizinischen Sektor. Max musste augenblicklich von hier verschwinden, und ihm blieb wahrscheinlich nicht mal mehr eine Minute. Selbst wenn Dr. Schernastyn nicht sofort entdeckt wurde, würde der Mann, wenn er zum Aufzug zurückkam, Max durch das Glas sehen können.

Jetzt müsste er wie Alice durch den Spiegel gehen können – verrückte Gedanken in einer verrückten, irrealen Welt. Aber er war hier nicht im Wunderland. Lass die Albernheiten. Konzentrier dich! Geh weiter!

Der Gürtel um seine Brust drückte ihm die Luft ab. Er war schweißgebadet, und im Treppenhaus stank es so sehr, als sei ein Ausfluss verstopft. Wenn Schernastyn gefunden wurde, wussten sie, dass Max im Fort war. Als Erstes würden sie im Keller suchen, den Wartungsmonteur finden und feststellen, dass Max nicht mit dem Aufzug geflohen sein konnte. Und dann hätten sie ihn bald. Er verrenkte den Hals und sah nach oben. Die vom Licht aus dem Aufzugschacht beleuchtete Treppe nahm kein Ende. Das würde er niemals schaffen. Ihm sank der Mut. Er war so weit gekommen, er hatte seinen Vater und das Beweismaterial gefunden, aber auf dieser letzten Etappe würde er scheitern. Ein paar Meter vor ihm sah das Felsgestein irgendwie anders aus als sonst in diesem Treppenhaus. Er starrte die Stelle an, um zu erkennen, was das war, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte.

Entsetzt versuchte er sich umzudrehen, weil er dachte, jemand hätte sich von hinten an ihn herangeschlichen, aber dann sagte sein Vater leise zu ihm: »Alles in Ordnung, Junge.«

Max schnallte den Gürtel auf, drehte sich mit dem Rücken zur Wand und ging in die Hocke, um seinen Vater abzusetzen. »Dad, endlich wachst du auf.« Max konnte seine Erleichterung nicht verbergen.

Sein Vater nickte, sein Mund war von den vielen Medikamenten ganz ausgetrocknet, sodass er nur leise flüstern konnte: »Ich werd schon wieder … brauche nur etwas Zeit … aber davon haben wir nicht viel, stimmt’s? Wo bin ich?«

»Hinter dem Aufzugschacht. Dad, ich muss uns hier rausbringen. Die suchen dich schon.«

Sein Vater nickte schwach. »Ich weiß nicht, wie du das alles geschafft hast, aber du musst jetzt gehen und das Beweismaterial holen. Du musst, Junge! Lass mich hier. Es ist im Landrover, und zwar in der …«

Max lächelte. »Schon erledigt. Ich habe deine DVD gefunden. In der Werkstatt steht ein Computer. Ich habe das Passwort geknackt und den kompletten Inhalt der DVD per E-Mail abgeschickt! Dad, wir brauchen uns nur eine Weile zu verstecken, bis Hilfe kommt.«

»Wie zum Teufel hast du das alles nur geschafft? Na, egal … erzähl’s mir später.«

Max wandte sich ab und horchte auf ein schnüffelndes, scharrendes Geräusch irgendwo hinter ihm. Er schloss Augen und Mund, um sich zu konzentrieren – so konnte er besser hören. Sein Vater erkannte, was los war, und blieb still. Max berührte ihn am Arm.

»Dad, ich muss jetzt da rauf und nachsehen, was das ist«, flüsterte er.

Sein Vater nickte. Max zog eine kleine Stablampe aus dem Werkzeuggürtel und rannte die Treppe hoch. Ohne seinen Vater auf dem Rücken kam es ihm vor, als könnte er fliegen. Der seltsame Fleck in der Felswand erwies sich als ein großer natürlicher Spalt im Gestein – und etwas bewegte sich darin.

Max sah nach oben, wo die Treppe hinter einer Kurve verschwand. Sie würde sie hinaufführen, daher war es der naheliegendste Plan, da einfach hochzulaufen. Er blickte noch einmal in den Spalt. Er war so breit, dass man hineingehen konnte. Oben waren Kabel und Belüftungsrohre befestigt. Er wagte sich ein paar Schritte hinein. Plötzlich wand sich etwas um seinen Fuß. Max sprang zurück, sein Herz hämmerte, als er nach dem Schalter der Stablampe tastete. Eine schwarze Schlange hatte sich um seinen Knöchel gewickelt – ein Stromkabel, das die Arbeiter liegen gelassen hatten.

Er leuchtete in den engen Gang hinein. Da bewegte sich etwas! Es lief weg. Wieder dieses Schnüffeln, dann ein Winseln, wie von einem Hund. Der Gang knickte ab und verlief da nach etwa fünfzig Meter geradeaus. Hinten schien eine Öffnung zu sein, durch die schwaches Licht an die Decke fiel. Die Rohre endeten in einem Kasten, der wie ein Generator aussah. Vielleicht gehörte das alles zur Stromversorgung, aber im Augenblick war das vollkommen unwichtig, weil jetzt am Ende des Ganges der Umriss eines Schakals zu sehen war.

Er saß reglos da und starrte ihn mit gespitzten Ohren an.

Weil es im Gang dunkel war und das Tier nur schwach von hinten beleuchtet wurde, konnte Max den Kopf nicht sehen. Er blieb wie angewurzelt stehen. Weder er noch der Schakal rührten sich. Aber zwischen ihnen bestand eine Art kinetischer Verbindung – sie kommunizierten ohne Worte. Die Gestalt eines Schakals hatte ihn von Anfang an begleitet, aber so nah war er ihr noch nie gekommen.

Er ging in die Knie, ohne den Blick von dem dunklen Umriss abzuwenden. Auf allen vieren kroch er langsam und vorsichtig näher. Warum, wusste er auch nicht. Er wusste nur, dass er dies musste.

Er war auf eine Armlänge herangekommen. Er sah das dichte Fell des Tieres und die feucht schimmernde Nase. Der Schakal hatte sich noch nicht bewegt. Er schien kaum zu atmen. Max roch seine moschusartigen Ausdünstungen und betrachtete sein Maul, seinen Kopf. Keine Narben von früheren Kämpfen, nur das glatte, leicht ergraute Fell, das ihn eindeutig als älteres Tier auswies.

Er war ihm jetzt so nahe, dass er mit seiner Stirn fast an die feuchte Nase stieß. Der Schakal machte die Augen auf. Max hielt wie gebannt den Atem an, wagte sich nicht zu bewegen. Der Blick dieser bernsteingelben Augen drang in ihn ein, berührte etwas tief in seinem Innern. In seiner Brust breitete sich wohlige Wärme aus, ein ungeheures Glücksgefühl. Er streckte die Hand aus, um den Kopf des Tieres zu streicheln.

Er stöhnte auf – der Schakal war weg!

Max fiel in ein tiefes Loch. Bis zum Boden des Hangars waren es ungefähr zwanzig Meter. Dann ein Ruck. Sein Fuß hatte sich in einem Kabel verfangen. Instinktiv presste er sein Kinn auf die Brust und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Als er mit dem Rücken an die Felswand krachte, blieb ihm die Luft weg. Ein stechender Schmerz durchfuhr seinen ganzen Körper, und ihm schwanden fast die Sinne, als er kopfüber mit ausgebreiteten Armen an der Wand hing.

Auf der anderen Seite des Hangars hatte sich ein halbes Dutzend Männer versammelt, mit dem Rücken zu ihm gewandt. Sie stießen mit heiseren Stimmen Freudenschreie aus, aber Max konnte nicht erkennen, was da ihre Aufmerksamkeit erregte.

Er musste hier weg. Früher oder später würde einer der Männer sich umdrehen und ihn hilflos herumschwanken sehen. Max beugte die Knie und spannte die Bauchmuskeln an. Er bewegte seinen Oberkörper nach oben und schnappte verzweifelt nach dem Kabel. Daneben! Max schwang zurück. Sein Rücken schmerzte. Er unterdrückte ein Stöhnen. Wenn er sich zu heftig bewegte, würde man ihn entdecken.

Er wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht, trocknete seine Hände am Hemd ab und versuchte, sich trotz des pochenden Blutes in seinem Schädel zu konzentrieren. Er holte tief Luft, atmete aus und warf seinen Körper in die Höhe. Seine Finger erwischten das Kabel. Er packte mit aller Kraft zu. Und zog sich dann Hand über Hand wieder nach oben. Außer Sicht, blieb er erst einmal liegen und wartete, bis sein Atem sich beruhigt hatte.

Hatte seine Fantasie den Schakal hergezaubert? Hatte das Tier ihm den Weg nach draußen zeigen wollen und dann versucht, ihn mithilfe des Kabels vor dem Sturz zu bewahren? Was für eine Dummheit, die Hand auszustrecken, um es zu streicheln!

Keine Spur mehr von dem Schakal, genau wie bei den anderen Malen, als er ihn nur flüchtig hatte auftauchen sehen. Aber diesmal war es doch anders. Er hatte ihn beinahe berührt – wie unheimlich. Na und? Für ihn existierte dieser Schakal wirklich. Max lernte allmählich, nicht alles, was geschah, an den Gesetzen der Logik zu messen.

Mit einem stummen Dank an wen auch immer machte er sich auf den Rückweg zu seinem Vater.

 

Wenig später hatte Max seinen Vater und sich selbst mit langen Kabelstücken gesichert. Er wies ihn leise auf die Männer im Hangar hin und fragte: »Meinst du, du schaffst es da runter?« Sein Vater nickte.

Der Spalt war so eng, dass sie nur nacheinander hindurchklettern konnten. Max ging als Erster und wartete dann, die Füße fest gegen den Fels gestemmt, dass sein Vater nachkam. Tom Gordon folgte seinem Sohn mit großer Anstrengung, und dann stiegen sie an ihren Kabeln rückwärts die Wand hinunter. Vier Meter über dem Boden hörten sie Stimmen unter sich. Sie erstarrten. Zwei Männer in Overalls wuchteten eine große Werkzeugkiste herum. Wie lange würden sie da bleiben? Würden sie die Kabel bemerken? Er sah seinen Vater an, der sich genauso reglos verhielt wie er, es aber bestimmt nicht mehr lange aushalten konnte. Max bewunderte die Willenskraft, mit der sein Dad es überhaupt bis hierher geschafft hatte.

Die Männer schleppten die Werkzeugkiste weg. Max wartete, bis sie auf der anderen Seite des Hangars waren, und glitt dann lautlos hinunter. Er packte das lose Ende des Kabels, an dem sein Vater hing und griff nach oben, um ihn abzufangen. Er sah immer wieder über die Schulter, aber die Männer waren jetzt außer Sicht, und Max und sein Vater konnten hinter den Hummer in Deckung gehen.

Tom Gordon zitterte vor Anstrengung und brauchte Zeit, um sich zu erholen. Max schlich nach vorn und erspähte durchs Türfenster eines der Fahrzeuge. Es war offen, und in dem Plastikhalter zwischen den Armlehnen stand eine kleine Flasche. Als er hineingriff, sah er durch die Windschutzscheibe, dass die Männer auf der anderen Seite einen großen Fernsehschirm beobachteten, der an der Wand des Hangars befestigt war. Ihrem Geschrei nach zu urteilen, verfolgten sie offenbar ein äußerst spannendes Fußballspiel.

Dann kauerte Max sich neben seinen Vater an die Wand und gab ihm zu trinken. Die Kabel, an denen sie hinuntergeklettert waren, hingen noch aus dem Spalt, aber Max hatte sie am Boden festgebunden, sodass sie für einen nicht allzu aufmerksamen Beobachter wie die anderen Stromkabel aussahen, die hier überall verlegt waren.

»Dad, ich muss dich leider mal kurz allein lassen. Ich muss nach einer Möglichkeit suchen, wie ich den Betrieb hier stören kann.

Sein Vater sah ihn zweifelnd an. »Warum?« Und dann kam ein Teil seiner zerstörten Erinnerung zurück. »Ach ja. Mein Gott, Max, das ist verrückt! Du hättest gar nicht erst hierherkommen dürfen. Ich weiß überhaupt nicht, wie du das alles geschafft hast.«

»Dad, erinnerst du dich nicht? Die Nachricht, die du mir geschickt hast?«

»Nachricht. Aber ja. Ich habe jemanden zu Sayid geschickt. Um dich zu warnen. Ich dachte, die würden versuchen, dich umzubringen, weil sie glauben, ich hätte dir das Beweismaterial gegeben.«

»Das haben sie auch versucht. Deswegen bin ich hier. Das ist eine lange Geschichte, es ist sehr viel passiert. Und ich habe einen sehr guten Freund gefunden; er ist der Sohn des Buschmanns, der deine Aufzeichnungen genommen hat. Er ist großartig. Aber das erzähle ich dir alles, wenn wir wieder zu Hause sind.«

»Max, der unverbesserliche Optimist.«

»Wir schaffen das, Dad!«

»Und ob wir das schaffen«, sagte sein Vater und lächelte tapfer. »Aber ich möchte, dass du allein von hier verschwindest. Da stehen deine Chancen viel besser.«

Max schüttelte den Kopf. »Niemals! Nicht, nachdem das alles passiert ist. Du hast nach mir geschickt, du hast mir alle diese Nachrichten in der Höhle hinterlassen. Ich bin hier, um zu helfen.«

»Und das hast du auch getan. Ich bin unendlich stolz auf dich. Aber du musst von hier weg. Bitte.«

»Nein. Jetzt trink dein Wasser und tu, was man dir sagt!«

Sie lächelten sich an, und Max fand es wunderbar, seinem Vater so nahe zu sein – ein Augenblick gemeinsamen Glücks inmitten der Gefahr. In den Fahrzeugen steckten keine Schlüssel, und er hatte immer noch keine Idee, wie er Shaka Chang davon abhalten konnte, die Schleusentore des Staudamms zu öffnen.

»Was für eine Höhle?«, fragte sein Vater.

»Wie? « Max war verwirrt. Was hatten die Medikamente mit dem Gehirn seines Vaters gemacht?

»Du hast gesagt, ich habe in einer Höhle Nachrichten hinterlassen. In letzter Zeit bin ich in keiner Höhle gewesen.«

»Doch, ganz bestimmt. Der heilige Berg der Buschmänner. Und an den Höhlenwänden waren Zeichnungen. Bilder von mir, das Logo deines Flugzeugs, die Taube …«

»Du hast das Flugzeug gefunden?«

»Ja. Dank der Zeichnungen. Na ja, zum Teil jedenfalls … du hast ein Bild gemalt, auf dem zu sehen ist, dass du verwundet bist. Das versteckte Flugzeug, ich, die Buschmänner. Das hab ich alles selbst gesehen.«

»Max, hör mir zu. Mein Gedächtnis ist zurzeit ziemlich ramponiert, aber ich kann dir hundertprozentig versichern, dass ich niemals in dieser Höhle gewesen bin. Anton Leopold und ich haben uns in der Wüste getroffen. Wir haben seinen Landrover stehen lassen, und ich habe ihn nach Walvis Bay geflogen – inzwischen hatten wir eine ziemlich gute Vorstellung davon, was sich da abspielt. Ich habe ihm einen handschriftlichen Brief an dich mitgegeben, bin zurückgeflogen, wurde verwundet, habe das Flugzeug versteckt und mit dem Landrover das Weite gesucht. Ich wusste, dass sie mich irgendwann schnappen würden – es waren einfach zu viele von ihnen. Und da habe ich meine Aufzeichnungen an Angelo Farentino geschickt, ungeordnet und ohne Zusammenhang, sodass kein Mensch etwas damit anfangen konnte. Ich nahm an, auf die Weise könnte ich Zeit gewinnen. Aber ich war überhaupt nicht in der Lage, auf irgendwelche Berge zu klettern und Bilder an Höhlenwände zu malen.«

Die Luft im Hangar schien plötzlich drückend schwül, doch Max lief eine Gänsehaut über den Rücken. »Die Prophezeiung«, murmelte er.

Max sah seinen Vater an und hatte ein ganz seltsames Gefühl, als sei in einem dunklen Zimmer eine Tür zu einer anderen Welt aufgestoßen worden. Er durchlebte noch einmal das Kaleidoskop seiner Abenteuer – seine Begegnung mit dem Tod, sein Flugerlebnis, die Dunkelheit, den Angriff des Raubvogels, die Sache mit dem Schakal. Bakoko. Die Buschmänner hatten ihm die Legende erzählt, wie der Bakoko in ihr Land kommen und ihnen helfen würde, aber davon konnte erst die Rede sein, wenn Shaka Chang das Handwerk gelegt war. Und eins hatten sie in ihrer Prophezeiung nicht erwähnt: wie er seinen Dad retten konnte.

Die Frage seines Vaters holte ihn in die Gegenwart zurück: »Von was für einer Prophezeiung redest du?«

Max schüttelte den Kopf. »Das spielt jetzt keine Rolle. Aber das alles ist schon ziemlich verrückt. Dad, du bleibst hier. Ich seh mich mal um, ob ich was finde, wie wir den Laden hier dichtmachen und dann verschwinden können.« Sein Vater nickte: zwecklos, mit einem Jungen zu streiten, der schon so weit gekommen war.

Ein Sandwirbel fegte durch den Hangar. Der Wind wurde stärker. Falls ein Sturm aufzog, bot sich vielleicht eine Gelegenheit zur Flucht. Max huschte zwischen den Fahrzeugen herum, als plötzlich ein grässlicher Schrei ertönte. Es war eine Kinderstimme, voller Panik, ein Angstschrei, der vor einer furchtbaren Gefahr warnen sollte.

Das war ! Kogas Stimme, und der Name, den er schrie und der als Echo durch den Hangar schallte, lautete Max.

 

Den ganzen Tag hatten die Männer mit Pick-ups nach dem Buschmann-Jungen gesucht. Shaka Chang hatte befohlen, den Jungen tot oder lebendig zu bringen, aber das hieß ja nicht, dass die Männer sich nicht noch ein wenig vergnügen konnten, bevor sie ihn schnappten. Ihr Jagdinstinkt war geweckt, und sie verfolgten ! Koga wie ein wildes Tier. Die Grausamkeit dieser Männer war das Ergebnis vieler Jahre im Krieg, wo Gewalt und Zerstörung etwas Alltägliches waren. Shaka Chang war ebenso kaltblütig. Ob sie ihn aufhielten oder töteten, war ihm gleichgültig.

Und tatsächlich spürten sie den Jungen auf, der gegen eine so große Zahl von Verfolgern am Ende doch nichts ausrichten konnte. Auf der Ladefläche eines Pick-ups hockte ein Mann mit einer Kamera und filmte die Jagd. Max erkannte nun, dass es kein Fußballspiel, sondern diese brutale Hetzjagd war, die die anderen Männer live auf dem Fernsehschirm in Skeleton Rock verfolgten.

Max starrte den Fernseher an. Das entsetzliche Bild prägte sich tief in sein Gedächtnis ein.

!Koga kreischte vor Angst, er rannte mit rudernden Armen durch den Sand. Max konnte sogar sein Keuchen hören, als die Männer ihn zur Strecke brachten. Während einer der Kerle filmte, schoss ein anderer Wagen heran. Ein Mann holte aus und schlug ihn mit einem Knüppel nieder. !Koga stürzte, und die Männer brüllten, als habe er ein Tor geschossen. Der Wagen wendete und näherte sich wieder. Sie spielten mit ! Kogas Leben, und die Männer im Hangar und wahrscheinlich auch alle anderen in Skeleton Rock sahen sich diese Abscheulichkeit begeistert an.

Dass ! Koga ständig seinen Namen rief, hatte Max ins Herz geschnitten. Er konnte es nicht ertragen, dort hinzusehen. Tränen brannten in seinen Augen, er ballte die Fäuste und hätte am liebsten laut geschrien über die Unmenschlichkeit, mit der sein Freund misshandelt wurde. !Koga war seinetwegen zurückgekommen, und jetzt würde er dafür sterben müssen.

Max wandte sich ab, sein Vater stand neben ihm. Er sah, was da vor sich ging.

»Ist das dein Freund?«

Max konnte nur nicken, aber er bemerkte den Zorn in den Augen seines Vaters.

Energisch packte er seinen Sohn am Arm und zog ihn von diesem furchtbaren Anblick weg. »Komm, hilf mir. Dafür sollen sie bezahlen.«

Trotz seines geschwächten Zustands schleppte Tom Gordon ein paar Kanister an. Max tat es ihm nach. Sein Vater klappte die Deckel auf und schnüffelte. »Benzin. Besser als Diesel für das, was wir vorhaben. Kontrollier die anderen.« Er trug die Kanister zu einer Inspektionsgrube. Weiter konnten sie nicht gehen, ohne gesehen zu werden. Max zuckte jedes Mal zusammen, wenn die Männer aufbrüllten. Die Jagd auf !Koga ging weiter.

»Max!«, drängte sein Vater. »Sieh nicht hin. Komm, Junge, du kannst ihm nicht helfen. Nicht jetzt.«

Max trug das halbe Dutzend Benzinkanister in die Inspektionsgrube und öffnete sie. Sein Vater entdeckte eine Steckdose, die mit einem Schalter versehen war und in der das fünf Meter lange Kabel einer Inspektionslampe steckte. Er schaltete die Steckdose aus, riss das Kabel aus der Lampe, fummelte an den Drähten herum und warf es auf die Kanister. Jetzt musste nur noch die Steckdose angeschaltet werden, und das Benzin explodierte. Hier würde der Teufel los sein, und genau dann würden sie fliehen.

Das jedenfalls war der Plan.

 

»Max Gordon ist hier?«

Shaka Chang stand mit Slye im medizinischen Sektor. Slye hatte überall nach Dr. Schernastyn gesucht, hatte zweimal die Computerdaten der Bewegungen des Arztes kontrolliert und war dann mit einem schlimmen Gefühl im Bauch – viel schlimmer als in einem rasend schnell nach unten fahrenden Aufzug – ins Zimmer des Gefangenen getreten und hatte sogleich die Bettdecke weggezogen. Schernastyns in Panik aufgerissene Augen spiegelten wider, was auch in Slye vor sich ging. Wie hatte Tom Gordon entkommen können? Noch beängstigender war die Frage: Hatte ihm jemand dabei geholfen? Es war nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen – da kam immer zwei heraus. Ein junger Buschmann, der auf Skeleton Rock zurannte, konnte durchaus bedeuten, dass der andere bereits dort war.

Zwei Jungen. Die eigentlich tot sein sollten.

Ärger hoch zwei.

Er hatte Schernastyn das Klebeband vom Gesicht gerissen, wodurch noch mehr Barthaare draufgegangen waren, und den stöhnenden Arzt an der Kehle gepackt.

»Wenn Sie wissen, was gut für uns beide ist, sollten Sie ganz genau darauf achten, was Sie sagen, Doktor. War der kleine Gordon hier?«

Schernastyn nickte.

»Und er hat Sie benutzt, um in den Hangar zu gelangen?« Schernastyn nickte wieder.

Slyes Griff um Schernastyns Kehle wurde ein wenig fester. »Und hat er dort irgendetwas getan, was er besser bleiben lassen sollte?«

Der Augenblick der Wahrheit.

Schernastyn wusste, wenn er beichtete, was passiert war, dann wäre er bald im Himmel – oder wohl eher in der Hölle. Und Slye würde Shaka Chang bestimmt nicht gern erzählen, dass es dem Jungen, den er für tot erklärt hatte, mithilfe von Schernastyns liebeskrankem Passwort gelungen war, sich Zugang zu dem Computer zu verschaffen. Und Dr. Schernastyn würde garantiert nichts von der DVD ausplaudern, die der Junge gefunden hatte. Oh nein. Das hieße ja, dass er zweimal versagt hatte. Das Spiel war aus. Wenn er die Chance bekam, würde Dr. Schernastyn sofort den Rückzug antreten. Er brauchte Zeit. Nein, sagte er zu Slye, der Junge habe gar nichts getan, er suche bloß nach einer Möglichkeit zu fliehen. Slye tätschelte ihm die Wange und sah ihn mit seinen kalten Fischaugen an, was wohl heißen sollte, er habe genau das Richtige gesagt. Bis Slye so weit war, Shaka Chang Bericht zu erstatten, hätte Schernastyn längst einen Fluchtplan ausgearbeitet. In diesem Moment fiel ihm eine Redensart ein: Die Ratten verlassen das sinkende Schiff. Und er war eine der Ratten.

 

Shaka Chang schleuderte den Rollstuhl durch ein Glasfenster. »Ich bin im Augenblick sehr unzufrieden, Mr Slye! Nur für den Fall, dass Sie das noch nicht gemerkt haben.«

»Wir haben keine Ahnung, wie der Junge hereingekommen ist, Mr Chang.«

»Dann nehmen wir doch mal den Arzt in die Mangel!« Er sah Schernastyn finster an. »Sie haben sich von einem fünfzehnjährigen Jungen überrumpeln lassen?«

»Sein Vater hat sich bemerkenswert schnell erholt – die beiden haben mich zusammen überwältigt. Ich möchte nur wissen, wie er den Wartungsmonteur bewusstlos schlagen, seine Kleider stehlen und sich zu mir hereinschleichen konnte. Ich habe gekämpft wie ein Löwe. Aber ich bin auch nicht mehr der Jüngste, Mr Chang«, sagte Schernastyn.

»Und sehr viel älter werden Sie auch nicht mehr«, drohte Chang. Er wandte sich an Slye. »Das ist jetzt das zweite Mal, dass Sie sich geirrt haben. Der Junge ist tot, haben Sie gesagt. Dass ich nicht lache.«

Slye wusste, wenn er das hier überleben wollte, durfte er jetzt gar nichts mehr sagen, weil jedes Wort den Zorn, der ihm entgegenschlug, nur noch weiter schüren würde; und vor allem musste er es vermeiden, in Shaka Changs Richtung zu sehen, da dieser ihm jede Form von Blickkontakt als eine Art Machtkampf auslegen konnte.

»Wenn er überlebt hat, Mr Chang, dann hatte er Unterstützung. Wir haben es hier nicht mit einem einzigen kleinen Jungen zu tun, wahrscheinlich halten sich da draußen Dutzende von Buschmännern versteckt. Und die müssen einen Weg hierherein gefunden haben. Das ist die einzige Erklärung.«

Shaka Chang hatte noch nie die Nerven verloren. Unter Stress blühte er erst richtig auf. Er hatte immer gewonnen, mit fairen oder unfairen Mitteln – hauptsächlich letzteren. Entscheidend war nur der Sieg. Aber diese letzten Wochen, seit der kleine Gordon dem Attentat entgangen war und wie eine Zielrakete immer wieder den Weg zu ihm gefunden hatte – und dies gerade jetzt, als Shaka Chang kurz davor war, unermessliche Reichtümer anzuhäufen –, hatten ihm schwer zugesetzt.

In wenigen Stunden würde das Gewitter, das jetzt noch in den Bergen tobte, über die Wüste fegen und gewaltige Wassermassen mit sich bringen. Die würden zwar nicht die vergrabenen Medikamente auswaschen und in die Nahrungskette spülen, aber er wollte den Regen nutzen, um die Schleusentore des Staudamms zu öffnen. Und wenn all dieses Wasser losbrechen würde, wäre Changs Ziel erreicht.

Bis dahin waren es nur noch wenige Stunden. Und jetzt wurden Geduld und ein kühler Kopf gebraucht.

»Findet sie«, sagte er zu Slye.

Ein sehr einfacher Befehl – eine eindeutige Drohung.

 

Sein Vater hatte Max erklärt, es habe gar keinen Sinn zu versuchen, Shaka Changs Technik auszuschalten; das wäre viel zu kompliziert. Sie könnten nur hoffen, dass irgendwelche Informationen in die Außenwelt gelangt seien und man noch rechtzeitig reagieren werde. Wenn er die Schleusentore öffnen wollte, konnte Chang das mit einem einzigen Telefonat veranlassen. Obwohl Tom Gordon annahm, dass er persönlich am Staudamm sein wollte, um den Augenblick mitzuerleben, der ihn zu einem der mächtigsten Männer der Welt machen sollte. Er und Max hofften, dass die von ihnen arrangierte Sprengladung vielleicht ein paar Minuten Vorsprung brachte. Aber jetzt lag sein Vater erschöpft am Boden, sein Gesicht war mit Schweiß bedeckt, und er zitterte am ganzen Körper. Die Anstrengung hatte ihren Tribut gefordert.

Max half seinem Vater auf die Beine und brachte ihn in den zweiten Hangar. Wenn sie Schlüssel für ein Quad oder einen Pick-up finden konnten, hätten sie eine Fluchtmöglichkeit. Das Boot am Ende der Rampe nutzte ihnen nichts, ihnen blieb nur der Weg durch die Wüste.

Als sie den Hangar erreicht hatten, seufzte Max über diesen kleinen Erfolg erleichtert auf, aber ihn plagten schreckliche Schuldgefühle und die bange Frage, ob !Koga noch am Leben war. Sein Vater redete die ganze Zeit auf ihn ein, drängte ihn zur Wachsamkeit; und er solle daran glauben, dass !Koga es schaffen werde. Sie mussten schleunigst hier raus und in Bewegung bleiben, nur so hatten sie eine Chance, mit dem Leben davonzukommen. Sie hätten die Pflicht, am Leben zu bleiben, meinte er.

Der Wind draußen wurde stärker, und Max wusste, wenn erst einmal Sand und Schmutz in die Hangars eindrangen, würden die Männer die Tore schließen, und dann kamen er und sein Vater niemals mehr raus.

Jetzt oder nie. Er schlich zu einem der Hummer und zog die Tür des schweren Fahrzeugs auf. Der Zündschlüssel steckte. Er zog ihn heraus, stieg wieder aus dem Wagen und drehte sich zu seinem Vater herum, der hinter ihm an der Wand lehnte.

Und erstarrte.

Dr. Schernastyn. Seine Gesichtshaut war entzündet, und mit den vereinzelten Bartbüscheln, die ihm noch geblieben waren, sah er äußerst dämlich aus. Hinter dem finster blickenden Russen trat ein Mann in Schwarz aus dem Schatten – derselbe, den er im Aufzug beobachtet hatte. Schmales, mürrisches Gesicht mit blutunterlaufenen Augen, wie bei jemandem, der niemals schlief. Verdammt, dachte Max, das könnte glatt Draculas Bruder sein.

Niemand hatte etwas in diesen wenigen Sekunden gesagt. Max griff instinktiv nach einem schweren Schraubenschlüssel. Wenn es sein musste, würde er sich den Weg mit Gewalt freimachen, und die beiden sahen nicht so aus, als ob sie ihn aufhalten könnten.

Aber jetzt erschien ein Dritter, und der sah aus, als würde er sich nicht mal mit einer dicken Eisenstange in die Flucht schlagen lassen.

Shaka Chang lächelte. »Du bist also Max Gordon. Du willst wohl einfach nicht sterben, wie?«

Max blieb stehen, den Schraubenschlüssel in Schulterhöhe wie eine Streitaxt.

Schernastyn und der andere waren ein paar Schritte zurückgewichen. Shaka Chang bewegte sich ohne Eile, fasste dies und das Gerät auf der Werkbank an, als sähe er solche Gegenstände zum allerersten Mal, und blickte gelegentlich zu Max hinüber, der jede seiner Bewegungen verfolgte und kampfbereit sein Gewicht verlagerte, um jederzeit für einen Angriff gewappnet zu sein.

»Du kannst das weglegen, Max. Ich kämpfe nicht mit Kindern. Ich werde eher ein paar Dutzend Männer kommen lassen, die ordentlich was einstecken können, bevor sie dich zu einem handlichen Paket verschnüren. Du hast übrigens gute Arbeit geleistet. Dafür bewundere ich dich. Nein, nein, wirklich, mach nicht so ein erstauntes Gesicht.«

Max war sicher, dass er sich nichts hatte anmerken lassen, aber Shaka Chang war ein Mann, dem keine noch so winzige Gefühlsregung entging, und falls Max sich vom Lob dieses Mörders unbewusst geschmeichelt gefühlt haben sollte, waren seine Pupillen vielleicht ein wenig weiter geworden. Max ließ Chang so wenig aus den Augen wie einen umherschleichenden Löwen. Chang blieb unbekümmert.

»Was dich und deinen Vater, diesen Dickkopf, am Leben erhalten könnte, ist die Antwort auf die Frage, ob du die Information gefunden hast, die ich brauche.«

In Max’ Kopf herrschte Hochspannung. Shaka Chang war immer noch hinter dem Beweismaterial her. Und er würde merken, wenn Max ihn anlog. Er wandte den Blick ab und sah nach seinem kraftlos an der Wand lehnenden Vater – eine ganz natürliche Reaktion, die aber auch der Verschleierung diente. In Wirklichkeit sah Max unauffällig zu Schernastyn hinüber. Er stand neben Chang, der ziemlich träge wirkte. Aber dieser Eindruck täuschte.

Schernastyns Augen flackerten vor Angst.

Und Max wusste Bescheid.

Schernastyn hatte Chang nichts von dem Computer gesagt. Er versuchte, seinen eigenen Hals zu retten.

Max blickte wieder zu Chang zurück, sah ihm direkt in die Augen, damit er die Wahrheit erkennen konnte. »Ich habe sie gefunden«, sagte er, denn ihm war klar, wenn er behaupten würde, er hätte die DVD nicht gefunden, und das so kurz bevor die Schleusentore des Staudamms geöffnet werden sollten, wäre ihr Leben nichts mehr wert. Chang würde seinen Vater vor seinen Augen foltern, bis er gestand. So aber gewannen sie womöglich ein paar Minuten, und diese Minuten bedeuteten Hoffnung, und wer noch Hoffnung besaß, konnte sich selbst aus dem finstersten Kerker befreien.

Shaka Chang blieb stehen und sah Max mit seinen machthungrigen Augen an. Max begriff, warum die Leute solche Angst vor ihm hatten. Das lag nicht nur an seiner Größe – seine Augen waren die Fenster einer dunklen Seele.

»Wo ist sie? « Die Frage kam so tonlos wie ein Atemzug. Aber Max lief es eiskalt den Rücken hinunter.

Dieses Gefühl war fast schon übernatürlich.

Sie sahen einander direkt in die Augen.

Konnte Shaka Chang in Max hineinsehen? Sah er den dunklen Ort, zu dem er stets reiste, wenn der Bakoko von ihm Besitz ergriff?

»Ich habe sie ins Wasser geworfen. Im Pumpenraum. Ich habe die DVD durch das Gitter fallen lassen.«

Chang musste nicht lange nachdenken. »So bist du also nach Skeleton Rock gekommen. Das ist wirklich bewundernswert.« Er schwieg kurz. »Warum ins Wasser? Warum riskierst du, dass die DVD beschädigt wird? Ah! Natürlich tust du das nicht. Sie war wahrscheinlich schon vorher im Wasser versteckt, oder in etwas Ähnlichem. Im Benzintank des Landrover? Da hatten meine Leute doch nachgesehen.«

»Nein, im Wasserbeutel.«

»Im Wasserbeutel. Sehr schlau.« Er sah Max’ Vater an, und dem gelang ein Lächeln. Ein kleiner Sieg.

Aber Shaka Chang konnte überhaupt keinen Sieg über sich dulden, auch nicht den kleinsten. Er holte aus und verpasste Max’ Vater einen brutalen Schlag mit dem Handrücken, sodass dieser wieder an die Wand krachte. Im selben Augenblick warf Max sich wutentbrannt auf Chang, sah aber nur noch Jade und Gold an sich vorbeiwischen, als Chang zur Seite sprang und ihn mit voller Wucht am Hinterkopf traf. Changs Faust fühlte sich an wie ein Kricketschläger.

Er landete neben seinem Vater, aus dessen aufgeplatzter Lippe Blut tropfte.

»Kinder und Verwundete. Sie sind wirklich ein ganz toller Bursche, Chang! Sie waren bestimmt schon in der Schule ein mieser Schlägertyp. Sollten wir uns jemals unter fairen Bedingungen begegnen, mache ich Sie fertig«, sagte Tom Gordon knurrend.

»Mr Slye, schicken Sie einen der Männer die DVD holen.« Slye schlich davon, froh darüber, dem Durcheinander und der hässlichen Gewalt zu entkommen. In so extremen Konflikten war es besser, sich außer Reichweite zu halten.

Max half seinem Dad, sich mit dem Rücken an die Wand zu lehnen. Vater und Sohn sahen sich an, und ein flüchtiges, beinahe trauriges Lächeln huschte über Tom Gordons Gesicht. Sie waren erledigt, das war ihm klar, und in seinem liebevollen Blick zeigte sich tiefes Bedauern über seine Hilflosigkeit: Er konnte nichts tun, um seinen Sohn zu retten. »Ich halte nichts davon, aufzugeben. Niemals! Aber alles hat seine Zeit. Das merkt man eben immer dann, wenn es nicht so läuft, wie man gehofft hat. Tut mir leid, Junge. Ich hab dich sehr lieb.«

»Ich dich auch, Dad.«

Max nahm seinen Vater in den Arm und gab ihm einen Kuss. Das hatte er nicht mehr getan, seit er acht Jahre alt gewesen war. Aber es kam ihm richtig vor. Und während er ihn umarmte, fasste er seine Hand. Und Tom Gordon spürte, wie ihm der Zündschlüssel in die Hand gedrückt wurde.

Noch war es nicht vorbei.