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Ich weiß, das könnte Rückschlüsse auf unser Vorhaben erlauben, aber ich finde, wir sollten es trotzdem machen«, sagte Peterson ins Telefon. Er hörte zu, und die Frustration triumphierte über seine sonstige Beherrschtheit. Er unterbrach das Gespräch. »Farentino muss mehr über die Sache wissen …«

Ein Stockwerk tiefer, sechs Türen weiter, betrachtete Sayid die Audiokurven auf seinem Computerbildschirm; Petersons Stimme lief in gezackten Wellen über den Monitor. Sayids Dual-Core-Computer bewältigte die ihm abverlangte Rechenleistung spielend. Die Software war nicht der letzte Schrei und auch nicht bidirektional. So hörte Sayid nicht gleichzeitig, was Petersons Gesprächspartner sagte, aber wenn Peterson Farentino schärfer ins Visier nahm, musste Sayid ihn warnen.

»Wir können den Jungen nicht einfach frei da draußen rumlaufen lassen. Ich brauche mehr Hilfe.« Eine weitere Pause entstand. Dann klang Petersons Stimme drohend. »Ich will diesen Jungen. Das sind Sie mir schuldig. Ich brauche Informationen. Ich setze meine eigenen Leute auf ihn an, aber ich glaube, die Lage verschlechtert sich.« Nach einer scheinbar knappen Antwort war die Leitung tot.

Sayid sah am Bildschirm, wie die Spitzen und Täler sich einebneten. Ein paar Klicks später jagten Zahlenkolonnen über den Schirm, während das Programm nach dem Telefongespräch und dem Anschluss suchte, den Peterson angewählt hatte. Zugriff verweigert. Eingeschränkter Bereich. Petersons Gesprächspartner verwendete ein Verschlüsselungsprogramm. Es war so konfiguriert, dass eingehende Gespräche codiert wurden und nicht zurückverfolgt werden konnten. Jemand, der sehr mächtig sein musste, schloss also aus, dass sein Anruf nachverfolgt werden konnte, und verschlüsselte zugleich alles, was Peterson ihm mitteilte. Na, sollten sie doch. Für Sayid gab es keine Hindernisse. Es würde zwar lange dauern, aber er würde Petersons Gesprächspartner trotzdem aufspüren.

 

Möglich, dass Farentino isoliert in seiner Welt der Fachliteratur lebte, aber seine Instinkte waren fein genug ausgebildet, um zu bemerken, wenn irgendetwas nicht so war, wie es sein sollte. Er beobachtete die Straße – war da irgendetwas Ungewöhnliches? Eine Warnung des ihm namentlich unbekannten Freundes von Max war mit einem Pling auf seinem Computerbildschirm erschienen: Vorsicht. Möglicherweise werden Sie beschattet. Jetzt spähte Farentino zum Fenster hinaus, sah Büroangestellte und Touristen, die aus allen Richtungen den Platz überquerten. Er sah niemanden, der ihm auf Anhieb komisch vorgekommen wäre, doch wenn sie hinter ihm her waren, war Farentino bereits einen Schritt voraus. Dieses Spiel war zu wichtig, als dass er es hätte verlieren wollen. Er hatte sich seine Fluchtstrategie schon überlegt. Er wickelte sich eine Montecristo aus, genoss das Aroma und die Struktur der Zigarre, bevor er sie mit einem langen Streichholz anzündete. Es ging darum, die Nerven zu behalten und die geplanten Züge bis zum letzten Moment auszuspielen, bevor er verschwand. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern, diese feine Havannazigarre zu rauchen – mehr als genug Zeit, um Freunde zu alarmieren, wichtige Freunde. Er hoffte bloß, Max lüftete das Geheimnis seines Vaters, bevor es nötig wurde unterzutauchen, denn dann gab es ein Risiko – zwar winzig klein, wie er fand, aber immerhin ein Risiko, das sich plötzlich verstärken konnte. Und wenn Max noch lebte, würden diese Leute alle Register ziehen, um ihn zu beseitigen, bevor er die wichtige Information fand, nach der Tom Gordons Feinde gierten. Farentino sah aus dem Fenster. Er blies einen Rauchkringel aus. Noch waren sie nicht hinter ihm her. Noch hatte er Zeit.

 

Nachdem Kallie am Hafen entkommen war, ging sie gleich in Mike Kapuos Büro, wie sie es Thandi angekündigt hatte. Der altgediente Polizist lächelte, als er sie sah, und bedeutete ihr, vor seinem Büro zu warten. Beamte kamen und gingen, und Kallie setzte sich und wartete geduldig, bis er sie von der harten Bank im Flur zu sich hereinwinken würde. In dem lärmerfüllten Polizeirevier zu sitzen gab ihr Zeit, über ihre Erlebnisse nachzudenken. Ob Shaka Chang oder seine Männer etwas mit Anton Leopolds Tod zu tun hatten? War Leopold getötet worden, als er zusammen mit Max’ Vater am Hafen war? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Hatte Leopold etwas gesehen, was nicht für seine Augen bestimmt gewesen war? Max’ Vater hatte seinen Assistenten nach Walvis Bay geschickt – dort war der Brief an Max aufgegeben worden. Warum? Entweder weil Max’ Vater verletzt war oder weil er kurz davorstand, das nächste Teil in dem Puzzle zu entdecken, in dem die Hafenanlagen auch eine Rolle spielten. Ja, das kam ihr am plausibelsten vor, denn !Kogas Leute hatten die Aufzeichnungen von weiter oben im Norden gebracht, wo Tom Gordon sich aufhielt. Vielleicht wusste Max’ Vater ja nicht einmal, dass Anton Leopold tot war. Wenn Shaka Changs Firma irgendwelche krummen Geschäfte mit Schiffsfrachten betrieb, dann konnte es nur so sein, dass Chang etwas ins Land holte, was er nicht durfte – gut möglich, dass es genau um dieses Etwas ging.

»Kallie, kannst reinkommen«, rief Kapuo.

Kallie setzte sich. Kapuo schenkte Kaffee für sie beide ein und ließ sich seufzend, als nehme er eine große Last von seinen Füßen, wieder auf dem Drehstuhl nieder. »Du bist heute Früh aber zeitig gegangen«, sagte er beiläufig und beobachtete sie über den Rand seiner Tasse hinweg.

»Ich schlaf in Häusern nicht mehr gut, wissen Sie, das ist so, wenn man mal im Busch gelebt hat. Städte passen nicht zu mir. Ich hab einen ausgiebigen Spaziergang gemacht und mir die Schaufenster angesehen, als die Läden öffneten.«

»Hm-hm. Du hast dir aber nichts gekauft?«

»Nein, ich brauch ja eigentlich nicht viel.«

»Das erste Mädchen, von dem ich so etwas höre«, sagte er lächelnd.

»Mike, ich hab nachgedacht.«

»Das ist für mich kein gutes Zeichen, denn das bedeutet normalerweise, dass ich in etwas hineingezogen werde, mit dem ich lieber nichts zu tun haben will. Red weiter.«

»Anton Leopold ist tot, oder?«

Kapuo war ein zu alter Hase, um sich seine Überraschung anmerken zu lassen. Er überlegte, ob es bloß geraten war. »Warum glaubst du das?«

Kallie konnte nicht zugeben, dass sie den Bericht in seinem Büro zu Hause gesehen hatte, denn dann würde er wissen, dass sie vielleicht auch seine Notiz über die Benachrichtigung Petersons gefunden hatte. »Na ja, Sie haben ihn überhaupt nicht erwähnt, und ich hatte Ihnen gesagt, dass er hier in Walvis Bay war. Da bin ich vom schlimmsten Fall ausgegangen. Bestimmt wollten Sie mich bloß nicht beunruhigen.«

Kapuo nickte. »Ja, er ist tot. Ertrunken. Man hat ihn im Hafen gefunden. Wir glauben, er war betrunken und ist ins Wasser gefallen.«

»Was hat die Untersuchung ergeben?«

»Warum willst du das wissen? Meinst du nicht, dass das ein bisschen grausig ist?«

»Es interessiert mich wegen Max – ich kann es ja sowieso nicht ändern«, fügte sie schnell hinzu.

»Er hatte Spuren verschreibungspflichtiger Medikamente im Körper – Schlaftabletten und Antidepressiva. Zusammen mit dem Alkohol war das keine gute Idee.«

Kallie nickte und senkte das Gesicht über ihre Tasse. Sie musste ihre Augen verstecken, damit Kapuo nicht merkte, wie beunruhigt sie war. Sie kannte ja viele Männer, die in der Wildnis arbeiteten, und manche hatten auch eine Schwäche für Schnaps, doch kein Einziger hatte es nötig, sich durch Schlaftabletten oder Antidepressiva zu betäuben – das brauchten die Leute, die in den Städten lebten, wo ein harter Konkurrenzkampf tobte. Wer im Busch überleben wollte, musste seine Sinne beisammenhalten, und schon die körperliche Anstrengung, da draußen zu sein, genügte, um zu schlafen wie ein Baby.

»Hat er denn Medikamente verschrieben bekommen?«

Kapuo ging auf, dass sie das alles schnell durchdacht hatte und dass sie jemand war, den man nicht mit diplomatischen Erklärungen abspeisen konnte.

»Er war nicht von hier.«

»Aber er muss seine Tabletten doch bei sich gehabt haben, und dadurch könnten Sie den Arzt ermitteln, der sie ihm verschrieben hat. «

»Nein, hatte er nicht. Die wurden wohl weggespült, als er ertrunken ist. Und bevor du weiterfragst, wir haben seinen Hausarzt nicht ausfindig machen können – noch nicht. Leopold hatte keinen festen Standort, an dem er gearbeitet hat. Er war selbstständig und hat als Geologe Forschungsgruppen und Wissenschaftler geführt, die hier nach Mineralien gesucht haben. Leute von Universitäten und so.«

»Das klingt, als hätte man viel von ihm gehalten«, sagte Kallie. »Ich meine, ernsthafte Leute wie Tom Gordon würden doch niemanden einstellen, der solche Probleme hat, oder? Wenn vielleicht ihr Leben von diesem Anton Leopold abhängt?«

Verdammt. Dieses Mädchen quetschte ihn aus. Sie nahm seine Antworten als Ausgangsbasis und baute eine logische Argumentation auf. Sie machte ja einen Fall daraus!

»Kallie, was soll ich bloß mit dir machen?«

»Ich reparier das Flugzeug, und dann flieg ich nach Hause.« »Du bist zu mir gekommen, weil du Hilfe brauchtest.«

»Ich glaub, ich hab ein bisschen Panik gekriegt. Man bildet sich schon alles Mögliche ein, wenn so ein Motor aussetzt.« »Du meinst jetzt also, es hat dich gar niemand umbringen wollen?«

»Nein, ich glaub nicht. Sorry, Mike, das war wohl ein bisschen hysterisch, oder?«

»Und wie war das dann mit der Einspritzung und dem geschmolzenen Plastikrohr?«

»Die Einspritzdüsen können sich einfach so gelockert haben, nehm ich an, und das Stück Plastik … na ja, vielleicht war der Mechaniker, der das drangemacht hat, noch nicht so erfahren. Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, dass ich wirklich überreagiert habe.«

Kapuo setzte diese Art von stechendem Blick auf, die einem Mühe bereitete, sich nicht zu winden, wenn er einen ansah.

 

»Ich muss mich entscheiden, ob ich deinem Vater Bescheid sage oder nicht. Das ist schon meine Pflicht als Polizist, aber, noch wichtiger, als sein Freund.«

»Dad hat mir gesagt, ich soll zu Ihnen gehen, wenn ich irgendwie in Gefahr gerate. Gut, hab ich ja auch, aber jetzt glaub ich, dass ich mich vielleicht geirrt hab. Und wenn Sie ihm das sagen, lässt er seine Safari sausen, verliert Kunden und büßt Geld ein – und dann steht sein Ansehen als erstklassiger Führer auf dem Spiel. Dad lässt ja alles stehen und liegen, um heimzukommen und bei mir zu sein. Tun Sie es nicht, Mike. Mit dem, was da passiert ist, komm ich schon klar.«

»Du hast dich in etwas eingemischt, das größer ist, als du glaubst. Ein Toter, ein verschollener Wissenschaftler und ein Junge, der da draußen in der Wildnis herumläuft. Ich wurde schon von Leuten aus England, Leuten mit wichtigen Verbindungen, gebeten, sie zu informieren, wenn sich bei Tom Gordon etwas Ungewöhnliches tut.«

»Sie glauben also nicht, dass Anton Leopolds Tod ein Unfall war?«

»Das habe ich nicht gesagt. Deine Fantasie geht schon wieder mit dir durch.«

Sie sahen einander an. Trotz des Aufruhrs, der in ihr tobte, hielt Kallie das Spiel durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie senkte nur fügsam ihren Blick. Es hatte keinen Sinn, Kapuo zu widersprechen, der noch mit sich rang, ob er sich wohler fühlte, wenn er sie nach Hause schickte, aus der Schusslinie, oder ob er darauf bestehen sollte, dass sie bei seiner Familie blieb, bis ihr Vater herkommen konnte.

»In was bin ich denn da hineingeraten, und wer sind diese Leute in England?«, fragte Kallie.

»Das kann ich dir nicht sagen. Lass es mich so ausdrücken: Das, was dir passiert ist, macht mir Sorgen.« Mike Kapuo verstummte. Diese Geschichte von Kallie van Reenen machte ihm seit Stunden schwer zu schaffen. Er hatte ihre Geschichte von dem Mordanschlag von Anfang an geglaubt, und ihre Kehrtwendung in den letzten paar Minuten überzeugte ihn, dass sie entweder mehr wusste, als sie sagte, oder dass sie etwas Neues herausgefunden hatte. Und mit einem hatte sie Recht. Wenn er ihrem Vater davon erzählte, würde der alles stehen und liegen lassen und zu ihr eilen. Aber wenn es wirklich ein Anschlag auf ihr Leben gewesen war, konnte Kallies Vater ihr dann helfen? Er konnte Kallie zwar in Schutzhaft nehmen, würde sein Handeln früher oder später aber rechtfertigen müssen. Wenn die Presse Wind davon bekam, dass ein Mädchen zu seinem eigenen Schutz inhaftiert worden war, konnte die ganze Geschichte von dem verschollenen Vater und seinem Sohn hochgehen wie eine Bombe. Wie konnte er Kallie van Reenen unter Kontrolle behalten? Er war in der Zwickmühle.

Kallie spürte, dass er sich entschieden hatte.

»Ich glaub, ich kann dir zutrauen, dass du heimfliegst und es uns überlässt, den Jungen und seinen Vater zu suchen.« »Danke, Mike. Das mach ich.«

»Der dumme englische Bengel! Als ob wir nicht selbst schon genug Probleme hätten bei der Suche nach seinem Vater. Okay, ich besorg jemanden, der dich zu deinem Flugzeug bringt, und sag einem von unseren Flugzeugmechanikern Bescheid, dass er sich mal deinen Motor ansehen soll.«

Kallie schenkte ihm das strahlendste Lächeln, das sie zustande brachte, ohne, dass ihr dabei ein tiefer Seufzer der Erleichterung entwich.

Mike Kapuo war die Sache noch mal gründlich durchgegangen. Er wusste genau, wie er Kallie im Auge behalten konnte. Der Mechaniker würde eine Wanze in ihrer Maschine einbauen, und wenn man diese anfunkte, wusste man immer genau, wo sie sich gerade befand. Er redete sich erfolgreich ein, dass er Kallie nicht als Köder benutzte, sondern dass er ihr – falls sie Dinge wusste, die sie besser nicht wissen sollte – zu Hilfe kommen konnte, bevor ihr etwas passierte. Sollte Kallies Vater allerdings jemals herausbekommen, was er getan hatte, würde er auf ihn losgehen wie ein Stier. Und dann würde Blut fließen.