18

Als Max in den bodenlosen Schlund des Ungeheuers fiel, erstarrte ! Koga vor Angst, aber er lief nicht in Panik davon. Stattdessen kauerte er sich hin, klammerte sich an einen Felsen und harrte dort aus, als die brüllende Gischt nach oben schoss und dann prasselnd auf ihn niederregnete. Er glaubte, Max würde zusammen mit der Galle aus dem Bauch des Teufels gespuckt und dann zappelnd im Sand liegen wie ein Fisch, den man aus dem Wasser gezogen hatte. Aber Max kam nicht, und als die Wasserfluten wieder versiegt waren, trat !Koga tapfer an den Rand des Teufelsmauls zurück.

Dort unten sah er nur noch die letzten schäumenden Wasserreste in den Rachen des Ungeheuers zurückfließen. Sonst nichts. Von Verzweiflung überwältigt, sank er auf die Knie. Seine Angst vor dem Ungeheuer wurde von seiner Wut verdrängt – ein Gefühl, das er noch nie empfunden hatte.

»Max!«, schrie er. Aber dieser furchtbare Schlund erfasste seine Stimme und warf sie wie ein Steinchen hin und her, bis auch sie vollständig verschluckt war.

Er betrachtete die Stelle, die Max ihm gezeigt hatte – den Eingang zum Tunnel –, aber auch dort wies nichts darauf hin, dass Max überlebt hatte. Kein Wunder geschah, niemand lächelte zu ihm hinauf und sagte, das mit dem hochschießenden Wasser sei ganz schön unheimlich gewesen, aber es sei ja noch mal gut gegangen.

»Bitte, Max, sag doch was – sag, dass du da bist. Sag, dass du dich in diesen Vogel verwandelt hast, der Steine anhebt und nach den Insekten oder Schlangen pickt, die darunter hervorkommen.« Doch ihm antwortete nur Schweigen. Und obwohl aus dem schwarzen Tunnel kein Leichnam gespült wurde, stand für ihn fest, dass sein Freund ums Leben gekommen war – verschlungen von dem Ungeheuer, das bereits auf das nächste Opfer wartete.

!Koga hatte Jäger gesehen, die der Spießbock durchbohrt hatte oder die von Löwen zerrissen worden waren, aber die Leere, die er jetzt empfand, war etwas ganz Neues für ihn. Als die Wut sich legte und er wieder klar denken konnte, stand er auf und warf einen letzten Blick auf den Ort, an dem der Junge aus dem fernen Land gestorben war. !Koga hatte nicht die Macht, ihn von dort zurückzuholen; er konnte auch nicht in den Abgrund springen und mit Pfeil und Bogen oder mit dem Messer oder den bloßen Händen gegen das Ungeheuer kämpfen. Er war hilflos, und er hatte Max nicht beschützen können.

Der Junge und sein Vater hatten ihr Leben geopfert, um !Kogas Volk zu helfen, und deshalb würde er jetzt das Papier mit den Linien nehmen, die verrieten, wo andere Leute gestorben waren, und dieses Mädchen Kallie van Reenen aufsuchen. Eigentlich sollte er auf die Nacht warten, denn dann müsste er nicht auf seine Deckung achten und käme schneller voran, aber die Zeit des Wartens war vorbei. Er würde den ganzen Tag durch die sengende Hitze laufen und jede Gefahr auf sich nehmen. Diesmal würde er nicht versagen.

Er wandte sich von dem Ort ab, der für ihn Max’ Grab war, und lief los, auf den flimmernden Horizont zu. Und er blickte nicht mehr zurück.

 

Slye mochte Skeleton Rock nicht, denn das Fort erinnerte ihn an die Zeit, die er in einem mongolischen Gefängnis verbracht hatte, wo nichts anderes auf dem Speiseplan gestanden hatte als Yakfettsuppe, Yakfettbrei und Yakfetttee. Dort hatte er in einer unterirdischen Höhlenzelle gesessen, die so riesig war, dass jeder Atemzug ein Echo erzeugt hatte. Das war schon einige Jahre her, aber die Dunkelheit hier erinnerte ihn an diese düstere Kerkerzeit, in der nur wenig Licht durch die mit Eisen beschlagene Tür zu ihm hereingedrungen war. Das schwache Licht stammte von einer Öllampe, die nicht für ihn, sondern für seinen Wächter auf der anderen Seite der Türe brannte. Dieser Wächter – was für eine gruslige Horrorgestalt! Ungewaschen, untersetzt, zottelhaarig, krummbeinig von einem Leben, das er auf dem Rücken von Yaks verbracht hatte, und derart ungebildet, dass an ein Gespräch über die Feinheiten des Bolschoiballetts überhaupt nicht zu denken war. Und Slye hatte ihn furzen gehört, wenn er die Treppe zu seiner Zelle heruntergekommen war.

Wie ein Pferd, dachte Slye heute, denn ein Yak hatte er noch niemals furzen hören, während Shaka Changs Rennpferde genug Methan erzeugten, um den ganzen Planeten auszulöschen. Slye mochte jedenfalls keine Pferde. In Namibia gab es keine Yaks, aber als er jetzt in die dunklen Tiefen dieses riesigen Forts mit seinen nackten Felswänden, höhlenartigen Räumen und tiefen Unterbauten hinabstieg, wurden andere unangenehme Erinnerungen in ihm wach.

Geräuschlos wie eine Träne, die an einer Wange hinunterläuft, glitt der gläserne Fahrstuhl in dem Felsenschacht abwärts. Ein kaum hörbares Ping und dann ein freundliches, fast liebevolles Flüstern der elektronischen Frauenstimme sagten ihm, dass er auf der untersten Ebene angekommen war. »Kellergeschoss. Turbinenstation links, seismologische Abteilung geradeaus, Folterzellen rechts. Ich wünsche einen guten Tag.«

Shaka Chang hatte diese Festung zu einer Hightech-Station umbauen lassen, aber für Slyes Geschmack klang die Engelsstimme dieser Frau einfach zu … nett. Ein besseres Wort dafür fiel ihm nicht ein. Nett. Ein abscheuliches Wort. Nichtssagend und kraftlos. Langweilig. Und ärgerlich. Wirklich nicht sehr nett, fand er.

Er folgte den Lichtpunkten am Fußboden, ähnlich denen in einem Flugzeug, die im unwahrscheinlichen Fall einer technischen Störung oder eines Absturzes den Weg zu den Notluken wiesen. Aber hier unten gab es keine Notluken. Hierhin wurde man von Mr Chang geschickt, wenn man vom Leben nicht mehr viel zu erwarten hatte. Hier war man so gut wie tot, kein Mensch würde einen hier finden.

Ihm schauderte bei diesem Gedanken, als er den Korridor hinunterschritt. Das Luftfiltersystem funktionierte hier unten nur in ausgewählten Bereichen, und er roch die durchsickernden Ausdünstungen der Flusswasserpfützen in der Turbinenkammer, die von der nächsten Flut wieder fortgespült werden würden. Er legte seine Hand auf den Sensor zur Handflächenerkennung; die Glastür vor ihm öffnete sich, und er trat in den nächsten Korridor. Wieder verkündete die sanft flüsternde Frauenstimme seine Ankunft: »Mr Lucius Slye hat den Kontrollbereich betreten.«

Ein Mann mit so kurzen Beinen, dass ihm sein weißer Kittel fast bis zu den Füßen reichte, trat in den Korridor und strich sich nervös durch den Bart, während Slye auf ihn zuschritt. Professor Doktor Ilja Schernastyn ärgerte sich über die täglichen Besuche, die Slye ihm abstattete. Obwohl er sich alle Mühe gab und Mr Chang regelmäßig Berichte zukommen ließ, schickte der ihm ständig diesen Aufpasser herunter, der ihm Anweisungen erteilte und sich nach dem Zustand des Patienten erkundigte. Patient, nicht Gefangener. Wie absurd Worte doch manchmal sein konnten. Er war Arzt, und der Mann in seiner Obhut wurde gefoltert. Nicht körperlich – kein Blut, keine Gewalt –, nur Drogen. Aber diese Drogen konnten so zermürbend sein wie Schläge. Chemikalien, die in die Körperzellen eindrangen, verborgene Wege ins Gehirn fanden und das Bewusstsein veränderten, während sie nach der Wahrheit suchten.

Schernastyn hatte sich den Fehler niemals verziehen, den er vor dreißig Jahren begangen hatte. Damals war er ein aufgehender Stern am Firmament der russischen Ärzteschaft gewesen, und er hatte geheime Erkenntnisse aus der Nanozellenforschung an eine Frau verkauft, die er begehrte. Er hatte seinen Beruf und sein Land verraten, und das alles aus Liebe zu einer Frau, die sich schließlich als amerikanische Spionin entpuppte. Wäre Mr Chang nicht gewesen, hätten die Russen ihn durch den Fleischwolf gedreht und an die Hunde verfüttert. Bedauerlicherweise verdankte er Shaka Chang also sein Leben, ein Leben, so glaubte Schernastyn, das sein volles Potential noch längst nicht ausgeschöpft hatte – für ihn war die Arbeit für Chang nur eine weitere Station auf dem Weg zur Verwirklichung seiner eigenen Ziele. Und da Schernastyn wusste, welchen Einfluss Slye besaß, war er immer höflich zu ihm.

»Genosse Slye. Willkommen.«

Ohne ihn zu beachten, klappte Slye seinen Organizer auf, klickte den Terminkalender an und notierte seine Ankunftszeit. Slye wusste immer gern auf die Minute genau, wo er war, selbst wenn er bereits da war. Er sah Schernastyn an. Worte waren überflüssig, sein Blick war Befehl genug. Schernastyn nickte und drehte sich um. Er legte seine Hand auf einen Sensor, und eine Stahltür glitt auf und führte in einen spartanisch eingerichteten Raum, der die eisige Entschlossenheit des Mannes verriet, der hier unten das Sagen hatte – Schernastyn. Ein Bett, eine Stahltoilette, ein Waschbecken und ein unrasierter Mann in einem sterilen Overall. Das Ganze vermittelte unbestreitbar den Eindruck eines Verurteilten in der Todeszelle.

»Fortschritte?«, fragte Slye.

»Geringfügig«, sagte Schernastyn.

»Geringfügig ist keine Antwort, Doktor. Dieses Wort ist weder durch qualitative Analyse noch durch quantitative Messung bestimmt. Fortschritte?«

Schernastyn unterdrückte grimmig den Wunsch, Slye ins Gesicht zu spucken, ihn am Hals zu packen und durchzuschütteln, bis ihm das Blut aus den Augen hervorschoss und seine Zunge dunkelblau anlief. Und zu schreien, dass er, Schernastyn, ein Wissenschaftler sei, kein Lakai, der Bettpfannen leerte und Laken wechselte. Er brauchte Zeit, wenn er analysieren und berechnen sollte, was in seinem Patienten vor sich ging. Die verschlungenen Pfade des neurologischen Geschehens waren nun einmal nicht so leicht zu verstehen wie der Plan der Londoner U-Bahn. Aber er ließ sich seine Gedanken nicht anmerken und nickte nur.

»Selbstverständlich, Genosse Slye, verzeihen Sie mir. Sein Blutdruck hat sich stabilisiert, seine kognitiven Fähigkeiten haben sich um dreißig Prozent gesteigert – ausgehend von seinem nahezu vegetativen Zustand in den letzten zwei Wochen, in dem er nicht einmal mehr laufen konnte, weil die chemischen Substanzen, die er geschluckt hatte, um seine Erinnerung zu blockieren, die vollständige Kontrolle über seine neurologischen Funktionen übernommen hatten, die …«

»Ich weiß, was mit ihm los war«, unterbrach ihn Slye. »Er ist Wissenschaftler. Er hat einen Gedächtnisblocker geschluckt, der ihn verschlossen hat wie einen Tresor, damit wir keinerlei Informationen aus ihm herausholen können. Kommen Sie mir nicht mit diesen alten Kamellen. Wir müssen herausfinden, was er weiß. Wissen wir heute mehr als gestern?«, fragte Slye mit Nachdruck. »Das sind die Fortschritte, die für Mr Chang interessant sind. Also?«

»Nein.«

»Aha.«

»Aber wie Sie sehen, kann er stehen und gehen.«

»Ja, ich sehe, dass er an der Wand lehnt, aber er spricht nicht, und offenbar hört er auch nichts. Er sieht aus wie ein Toter, den man in eine Ecke seiner Zelle gestellt hat.« Slye zeigte auf Tom Gordon, der eine Wand anstarrte; sein Blick war vollkommen leer, eine Wirkung der Drogen, die sein Gehirn ausgeschaltet hatten. Schernastyn stöhnte auf, als Slye plötzlich ausholte, um seinen Patienten zu schlagen, und erst in letzter Sekunde innehielt. Tom Gordon zuckte mit keiner Wimper.

Slye sah Schernastyn an. »Die Zeit läuft uns davon. Falls er seine Entdeckungen weitergegeben hat, könnte das Mr Changs Untergang bedeuten. Also steigern Sie die Dosis.«

»Das könnte sein Gehirn endgültig zerstören. Er könnte sterben«, sagte Schernastyn, der sich weniger um den Mann sorgte als um sein Experiment, das man ihm entziehen könnte, bevor er sämtliche Möglichkeiten wissenschaftlicher Forschung ausgeschöpft hatte.

»Dann stirbt er eben – das Risiko, niemals zu erfahren, ob irgendjemand im Besitz dieser Informationen ist, müssen wir in Kauf nehmen.«

Slye wandte sich ab. Er wollte weg von diesem widerlichen Krankenhausgeruch hier unten. Weg vom schlechten Atem Schernastyns, der offenbar eine Zahnfleischentzündung hatte. Vielleicht war seine nachlässige Mundhygiene ja auch eine der Waffen, mit denen er das Gehirn eines Gefangenen zu zerstören versuchte.

 

Der ekelhafte Gestank aus dem Maul des Krokodils wirkte auf Max noch abschreckender als seine Zähne. Das Krokodil stürzte auf ihn zu, den Rachen in Erwartung des großen Happens so weit aufgerissen, dass sich die Hautlappen an den Seiten des Mauls spannten. Wenn diese Zähne um einen Arm oder ein Bein zuschnappten, würde allein schon die Wucht des Aufpralls die Gliedmaße abtrennen. Oder – im allerschlimmsten Fall – das Vieh würde Max mit seinem mächtigen Gebiss aus der Deckung zwischen den Turbinenschaufeln herausschleifen, ihn hin und her schleudern und in Stücke reißen, während sich seine blinden, schuppigen Reptilienkameraden um einzelne Fetzen von ihm balgten.

Max zog sein Bein gerade noch rechtzeitig zurück. Das Turbinengehäuse war so groß, dass er beinahe darin stehen konnte, aber es gab dort zwei hintereinanderliegende Rotoren, deren Propeller in diesem, wie ein Riesenventilator gebauten Mechanismus, leicht zueinander versetzt lagen. Wenn Wasser auf den vorderen Propeller traf, begann er zu rotieren und brachte mit dem so beschleunigten Wasser den zweiten Propeller in Gang. Wie ein gigantischer Schneebesen. Max stemmte sich mit der Schulter gegen eine der vorderen Schaufeln und stellte seine Füße in den Rahmen, in dem die Schaufeln rotierten.

Das Krokodil schlug mit der Brust auf die Kante und hielt inne. Max’ von Adrenalin überschwemmter Körper sackte erleichtert zusammen.

Die abgebrochene Rippe des toten Tieres, die Max noch immer fest umklammert hielt, war in diesem Kampf nicht zu gebrauchen. Die Krokodile waren schon blind, also war es sinnlos, ihnen die Augen auszustechen, und wenn er die Rippe als Speer einsetzte, würde sie an der festen Lederhaut abprallen. Jetzt stützte er sich darauf ab, während seine Füße in dem knietiefen Wasser zwischen den Turbinenschaufeln umherrutschten, schlug aber in dem vergeblichen Versuch, sich zu verteidigen, damit immer wieder nach den Schnauzen der Krokodile. Die Rotorblätter drehten sich weiterhin langsam, und Max musste sich schon, als er durch den ersten Propeller stieg, eine Strategie zurechtlegen, wie es mit dem zweiten weitergehen sollte. Es gab hier keinen Platz zum Ausweichen, keine zweite Chance. Hinter der Turbine erstreckte sich, so weit er sehen konnte, ein Überlaufbecken, in dem fast unbewegtes Wasser stand. Unmöglich zu sagen, wie tief es war, oder ob sich unter der Oberfläche irgendwelche Maschinen verbargen – oder, noch schlimmer, womöglich ein Krokodil, das den Weg durch die Propeller gefunden hatte und nun dort in dem düsteren Wasser lauerte.

Die anderen Biester rückten näher. Wie ein Rudel wilder Hunde hatten diese prähistorischen blinden Raubtiere seine Witterung aufgenommen und krochen gierig übereinander, um an ihn heranzukommen. Und wenn sie das schafften, würden sie mit ihren Krallen genügend Halt finden, um sich ohne Weiteres zwischen den Schaufeln hindurchzuschieben.

Zwischen den beiden Propellern war gerade so viel Platz, dass Max dort stehen konnte – mit dem Rücken zum einen, dem Gesicht zum anderen. Er stand da, wie an eine Wand gepresst, nur dass diese Wand ihn in Stücke hacken konnte, wenn sie sich zu drehen begann. Ihm blieb nur eine Möglichkeit. Das Wasser brodelte, die Krokodile waren sich in ihrer Blutgier gegenseitig im Weg, und Max spürte, dass das Wasser anstieg. Er musste diesem Horror ein Ende bereiten, sich zu dem zweiten Propeller umdrehen und den richtigen Augenblick abpassen, um hindurchzuspringen. Dreh dich um! Mach schon! Umdrehen!, schrie es in ihm. Aber dann verdrängte eine andere Frage seine verzweifelte Angst. Warum stieg das Wasser? Warum drehten sich die Schaufeln jetzt ein wenig schneller? Zisch, zisch. Sie teilten Luft und Wasser. Max starrte in die Dunkelheit. Er spürte den Luftzug im Gesicht. Der nächste Ausbruch kam! Die nächste Flut rollte heran und würde diese Krokodile auf ihn werfen, oder aber die Klingen rasten los und machten Hackfleisch aus ihm.

Er rammte den Knochen in die Fuge zwischen zwei Propellerblättern und wandte seinen Angreifern den Rücken zu. Er hörte ein grässliches Splittern und Knirschen. Der Knochen hatte den Ventilator nur für eine Sekunde verlangsamen können, aber Max hatte diese Zeit genutzt, um einen Schritt nach vorn zu machen und die Arme seitlich auszubreiten. Das zischende Geräusch der Klingen wurde lauter, Wasser klatschte ihm in die Kniekehlen. Die große Welle rauschte heran! Wenn er jetzt nicht durchkam, würde ihn die Wucht des Wassers in die Rotoren schleudern.

Noch mal ein reißendes, malmendes Knirschen, und schon wand sich neben ihm ein in zwei Teile zerhacktes Krokodil, dessen Maul weiterhin immer auf- und zuschnappte. Es verspritzte Blut nach allen Seiten. Unwillkürlich schreckte Max vor dem Anblick zurück und spürte, wie die hintere Klinge sein Haar streifte. Sein Kopf zuckte nach vorn und geriet beinahe in die immer schneller werdende Rotation des vorderen Propellers. Er musste springen. Keine Zeit für logische Berechnungen. Alles war jetzt reine Glückssache.

Max hatte nicht mal mehr Zeit, eine Entscheidung zu treffen. Die Wasserwand traf die Turbinenschaufeln hinter ihm, und als diese in Fahrt gerieten, warfen ihn Luftdruck und Wasser nach vorn.

Er stürzte kopfüber in die Klingen.

Sein Schrei erstickte in rasendem Metall und Wasser, aber die Lücke, in die er taumelte, war groß genug, um seinen Körper hindurchzuschieben. Er stürzte in das trübe Wasser und ruderte verzweifelt mit den Armen, um irgendetwas zu fassen zu bekommen, woran er sich festhalten und aufs Trockene ziehen konnte.

Seine Finger schlugen an Eisen. Es war rau und rissig und zerbröselte unter seinen Fingern. Rost. Von Wasserstrudeln herumgeschleudert, klammerte er sich daran fest, während er mit den Beinen strampelte, als das Wasser mit voller Wucht durch die rotierenden Propeller schoss. Er hatte Eisensprossen erwischt, an denen man, vielleicht zur Inspektion, in das Überlaufbecken steigen konnte.

Seine Arme spannten sich wie Bogensehnen, als er sich langsam hinaufzog, bis sein Gesicht aus dem Wasser stieß. Er holte keuchend Luft und sah über die Schulter zurück. Die aufgewühlten Wassermassen in dem Becken waren nur die Ausläufer des Geysirausbruchs – gleich denen, die Max wenige Stunden zuvor durch den Tunnel hierhergeschwemmt hatten. Blutiger Schaum schwamm auf der Oberfläche, mehr war von den Krokodilen nicht übrig, die durch die Propeller gepresst und zerstückelt worden waren.

Als er endlich den Betonrand des Beckens erreicht hatte, bemerkte er die mächtigen Rohre, die nach oben in den dunklen Fels hineinragten. Sie führten in den Generatorenraum, vermutete er. Über ihm befand sich ein Eisengitter, auf dem mit Metallplatten ein Verbindungsweg ausgelegt worden war. Das Gitter war weitmaschig genug, um hindurchzuklettern; von da oben aus wurden wahrscheinlich das Becken und die Turbinen kontrolliert. In den Ecken des Raums waren Scheinwerfer, die bei einer Inspektion alles taghell erleuchten konnten. Oberhalb des Gitters führte ein Weg ins Freie, aber das Gitter selbst befand sich drei Meter über seinem Kopf.

Max kauerte sich in eine Ecke; die Luft vibrierte vom Wirbeln der Turbinen, und er musste sich unbedingt erst einmal ausruhen. Seit er in den Krater gestürzt war, hatte er keine Zeit gehabt, an ! Koga zu denken, und jetzt fragte er sich, was der Junge wohl unternommen haben mochte. Was auch mit ihm selbst geschehen würde, alles hing davon ab, dass ! Koga zu Kallie ging, die hydrologische Karte ablieferte und Hilfe holte. Würde jemand kommen? Würden die Zeichen auf der Karte jemanden davon überzeugen, dass dort Menschen an vergiftetem Wasser gestorben und ihre Leichen beseitigt worden waren?

Er zitterte heftig. Die quälende Zeit im Tunnel, der Angriff der Krokodile und die beinahe tödliche Begegnung mit den rotierenden Turbinenschaufeln – das alles hatte ihn vollkommen erschöpft. Aber wenn er hier unten blieb, würde man ihn früher oder später entdecken. Er zog die Knie an die Brust, machte sich so klein wie möglich, um nicht noch mehr Körperwärme zu verlieren. Er ließ seinen Blick über die Wände schweifen, das Gitter, den Fußboden, das Wasser, sah aber nichts, was ihm zur Flucht verhelfen könnte. Der Turbinenlärm rückte in die Ferne, und das Brodeln des Wassers wurde zu einer Art Hintergrundrauschen.

Konzentrier dich. Was siehst du? Bleib wach! Sieh hin! Reiß dich zusammen!

Er richtete sich auf. Das Herumsitzen brachte ihn nicht weiter. Die Scheinwerfer, der Strom – irgendwo mussten da Leitungen sein. Er tastete sich an der Wand entlang. Sein Instinkt sagte ihm, da musste es etwas geben, also suchte er. Eine kleine Ausbuchtung in der Ecke, ein dünnes Rohr, verputzt und angestrichen, sodass es kaum zu sehen war, aber seine Finger fanden es, und es war klar, dass es vom Boden bis zu der Gitterdecke führte.

Er brauchte ein Werkzeug, um den Verputz abzukratzen, aber sein Messer und die Waffen, die ihm die Buschmänner im Lager gegeben hatten, waren allesamt dem Atem des Teufels zum Opfer gefallen. Er suchte und suchte, bis er ein viereckiges Stück Metall fand, etwa so groß wie eine Zigarettenschachtel. Es hatte ein Loch in der Mitte und war vermutlich eine Unterlegscheibe für eine der großen Schrauben, mit denen die Trageplatten an den Hydraulikleitungen gesichert waren. Als Max mit der Kante am Rand der Ausbuchtung kratzte, bröckelten Putz und Farbe, und nach einigen Minuten sorgfältiger Arbeit hatte er genug Platz geschaffen, um die Metallscheibe hinter das Kabelrohr schieben zu können. Und dann dauerte es nicht mehr lange, bis er das ganze Rohr mit seinen Fingern umschließen konnte. Er zerrte, und ein meterlanges Stück Rohr kam frei. Er stemmte einen Fuß gegen die Wand, zog noch einmal, und das Plastikrohr zerbrach. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nach hinten, aber jetzt hatte er etwas, was ihm bei der Flucht helfen konnte. In dem zerbrochenen Rohr steckten Stromkabel. Er packte den mit Gummi isolierten, besenstieldicken Kabelstrang mit beiden Händen, zerrte ein letztes Mal kräftig daran und riss die Kabel vollständig aus dem zersplitternden Plastikrohr heraus.

Mehr war nicht zu tun. Er packte den Kabelstrang, stemmte beide Füße gegen die Wand und kletterte daran hoch. Die Stäbe des mächtigen Gitters über ihm waren so dick wie seine Arme, alt und rostig, aber unverwüstlich. Vermutlich stammte das Gitter noch aus der Zeit, als das Fort ursprünglich erbaut worden war. Wenn diese unterirdischen Räume als Verlies gedient hatten, und wenn der verrückte deutsche Adlige von den Krokodilen hier unten gewusst hatte, dann hatte er diesen Gitterboden einbauen lassen, um die Leute, die hier unten gefangen gehalten wurden, abzuschrecken. Aber die Geschichte der Festung war jetzt nebensächlich, als Max einen Arm durch das Gitter schob und sich hinaufzog.

Da oben gab es nicht viel zu sehen. Auf einer Seite eine Stahltür, in der Wand gegenüber noch eine. Das gleichmäßige, von dicken Wänden gedämpfte Brummen von Maschinen sagte ihm, dass hier unten die Stromerzeugung und andere Versorgungseinrichtungen des Forts untergebracht waren. Er hatte auf einer Klassenfahrt nach Bayern einmal ein altes deutsches Schloss besichtigt, und jetzt ärgerte er sich, dass er so wenig vom Aufbau des Ganzen behalten hatte. Das hätte ihm helfen können, eine deutlichere Vorstellung davon zu bekommen, wo genau er sich jetzt innerhalb des Forts befand. Auf jeden Fall war er ganz unten, und wenn er rauswollte, musste er nach oben. Aber wie? An den Wänden und an der Decke liefen Lüftungskanäle und Rohrleitungen entlang, aber kein Weg führte hinaus. Was hatte er gesehen und gehört, als er vorhin durch die Dunkelheit gewirbelt war? Max strich mit einer Hand über die matt glänzende Tür. Daneben, in einem schmalen Streifen aus dem gleichen gebürsteten Stahl, war eine rechteckige Glasfläche eingelassen, in die der Umriss einer gespreizten Hand gezeichnet war. Zögernd hielt er seine Hand darüber. Das konnte eigentlich bloß ein Sensor zur Handflächenerkennung sein, der nur bestimmten Personen erlaubte, die Tür zu öffnen – aber was würde passieren, wenn er seine Hand darauflegte? Würde das Ding im ganzen Fort Alarm auslösen, oder würde es ihm bloß den Zugang verwehren?

Er sah über der Tür nach. Zwischen Wand und Decke erstreckte sich über die gesamte Breite des Raums eine Glasscheibe. Darunter verlief ein nicht sehr dickes Rohr, das mit stabil aussehenden Haltern befestigt war. Da kam er heran. Ein kräftiger Sprung, und er konnte es zu packen kriegen, und wenn er sich hochzog, konnte er sehen, was sich auf der anderen Seite der Wand befand. Seine Oberschenkel schmerzten, als er die Knie beugte. Er sprang mit aller Kraft und riss die Arme so hoch er konnte. Tatsächlich bekam er das Rohr zu fassen, aber seine Hände waren nass geschwitzt, und er hatte nur wenig Halt – das Rohr war ein bisschen zu dick. Er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf seine Handgelenke und krallte sich so gut es ging fest. Zitternd vor Anstrengung zog er sich hoch, seine Armmuskeln brannten wie Feuer, und trotzdem begann er abzurutschen.

Kaum hatte er versucht, die Knie hochzuziehen und ein Bein über das Rohr zu schwingen, als mit einem Zischen die Tür aufglitt. »Johnson Mkebe betritt den Generatorenraum«, flüsterte eine freundliche Frauenstimme.

Ein schlank gebauter Afrikaner mit Baseballmütze und in blauem Overall – Wartungspersonal stand auf dem Rücken – trat durch die Tür. Drei Dinge geschahen nun rasch nacheinander: Die Tür schloss sich, Max rutschte ab, und Johnson Mkebe wurde ohnmächtig, nachdem Max mit voller Wucht auf ihn gefallen war. Der Wartungsmonteur stöhnte nur einmal kurz auf und blieb dann reglos liegen. Max wälzte sich von ihm herunter und horchte angestrengt, ob sich von irgendwo Schritte näherten. Er hielt den Atem an, sein Herz hämmerte, alle Muskeln strafften sich. Falls er fliehen musste, blieb ihm nur das Überlaufbecken. Und das kam gar nicht infrage. Er würde sich auf jeden stürzen, der durch die Tür kam, und sich allem stellen, was ihn auf der anderen Seite erwartete – egal was. Aber nichts geschah. Max wartete einige Sekunden, aber niemand kam. Er drehte den Mann um, zog den Reißverschluss seines Overalls auf, zerrte ihm das Kleidungsstück von den Beinen und stieg hinein. Nachdem er Ärmel und Hosenbeine umgekrempelt hatte, passte er einigermaßen hinein. Dann setzte er auch noch die Mütze auf und wandte sich der Tür zu, erkannte aber gleich, dass es nur eine Möglichkeit gab, dort herauszukommen. Er schleppte den Bewusstlosen so nahe wie möglich an den Handflächensensor heran und schaffte es irgendwie, eine Hand des Mannes auf die Glasfläche zu drücken. »Johnson Mkebe verlässt den Generatorenraum«, verkündete die Frauenstimme. Max sparte sich die Mühe, sie zu korrigieren.

Als die Schiebetür hinter ihm zuzischte, fand er sich in einem Bereich wieder, der fast so trostlos war wie der Raum, den er soeben verlassen hatte. Rechts erhob sich eine offene Stahlkonstruktion. Der Aufzugschacht. Vor ihm war eine weitere verschlossene Stahltür. Was jetzt? Viele Auswahlmöglichkeiten hatte er nicht. Auf den Knopf drücken, in den Aufzug steigen, eine Etage finden, wo er sich verstecken konnte, bis er die Lage ausgekundschaftet hatte, und dann würde er sich auf die Suche machen …

Die Tür vor ihm glitt auf. Am Ende des Korridors stand ein Rollstuhl. Darin saß ein Mann mit hängenden Schultern und unrasiertem Gesicht. Fast bis zur Bewusstlosigkeit mit Drogen vollgepumpt, starrte er den Fußboden an.

»Dad! «, schrie Max. Aber Tom Gordon hob nicht einmal den Blick.

Einer aber reagierte auf Max’ Schrei: Ein bedrohlich aussehender Mann trat in den Korridor. Er trug einen weißen Kittel und schien entsetzt über den Eindringling. Er rannte auf den faustgroßen roten Alarmknopf an der Wand zu. In einer Sekunde würden Sirenen aufjaulen, und eine Horde Bewaffneter würde herbeistürzen. Max musste ihn aufhalten.

Aber er wusste, er würde den Mann nicht mehr rechtzeitig erreichen.