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Das Gewölbe lag einhundertdreiunddreißig Stufen unterhalb des Erdgeschosses. Es war erstaunlich trocken und kein bisschen klamm, zum einen wegen der dicken Granitmauern, zum anderen, weil sich hier unten der Heizungskeller befand, von dem aus gespeicherte Erdwärme in den Rest des Schulgebäudes geleitet wurde. Mr Jackson blieb in respektvollem Abstand hinter Max stehen, als er sein Schließfach öffnete. Der dort deponierte Brief trug ein Siegel und war mit einem fälschungssicheren Clip versehen. Max riss ihn auf. In dem Umschlag steckte ein USB-Stick, auf dem die Nachricht seines Vaters gespeichert war. Max’ Reisepass befand sich darin, eine Kreditkarte mit einer PIN- und einer Kontonummer sowie ein paar Tausend Pfund in bar. Außerdem steckte in dem Kuvert noch das Schreiben eines Anwalts, aus dem hervorging, dass Max’ Vater außer dem Landhaus in Frankreich keine anderen nennenswerten Vermögenswerte besaß. Während seiner kurzen Aufenthalte in London mietete sein Vater stets eine möblierte Wohnung an. Aus alledem schloss Max, dass er ziemlich pleite war. Sein gesetzlicher Vormund, ein Mann namens Jack Ellerman, lebte irgendwo in Toronto. Max hörte diesen Namen zum ersten Mal. Er betrachtete den Umschlag mit dem Geld und der Kreditkarte. Wenn Dad allerdings pleite war, was sollte dann das alles? Auf einmal sah er das Symbol auf dem Umschlag. Eine kleine Zeichnung einer ägyptischen Hieroglyphe – die schakalköpfige Figur des Anubis, Gott der Unterwelt. Die Unterwelt. Das Verborgene. Sein Dad wollte ihm sagen, dass er den Inhalt des Umschlags verstecken sollte. Max schob das Geld und die Kreditkarte unter seine Jacke, bevor er sich umwandte. Jackson stand direkt hinter ihm. Hatte er beobachtet, wie Max den Umschlag versteckte?

»Alles in Ordnung, Max?«

Max hielt den USB-Stick und den Brief in die Höhe. »Sieht ganz so aus, als ob Dad pleite wäre und mich nach Kanada schickt, wo ich gar nicht hinwill.«

Mr Jackson legte Max tröstend einen Arm um die Schultern, während er den Brief las. »Verstehe. Gut, genau für so was gibt’s ja unseren Fonds. Davon können wir dein Flugticket bezahlen. Und in deinem eigenen Schulfond ist noch genug Geld, mit dem du für das restliche Schuljahr über die Runden kommst. Und dann setzen wir uns zusammen und überlegen uns was, Max. Viele Jungen hier bekommen ein Stipendium. Wir werden dich ganz sicher nicht wegschicken.«

Max lächelte, schüttelte aber den Kopf. »Ich werde mir Dads Nachricht anhören und dann tun, was er für richtig hält.«

Sie machten sich an den langen Aufstieg aus dem Gewölbe – aus der Unterwelt –, und Max fiel ein, dass Anubis auch der ägyptische Totengott war.

 

Max verabschiedete sich von Sayid und dessen Mutter, dann fuhr ihn Mr Peterson zum Bahnhof. Drei Stunden später war Max in London. In dem mittelgroßen Rucksack, den er bei sich hatte, steckte alles, was er brauchte – kaum mehr als frische Sachen zum Wechseln. Er hatte sich die Aufnahme mit der Stimme seines Vaters drei- oder viermal angehört. Sie dauerte bloß zwanzig Minuten. Und sie enthielt keine Andeutungen, keinerlei Hinweise darauf, was sein Dad womöglich auf sich hatte zukommen sehen. Hauptsächlich sprach er von Mum und davon, wie sehr sie beide ihn geliebt hatten, und dass sein Dad hoffte, diese Schule wäre die richtige Entscheidung gewesen … und dass er Max sehr vermisste. Es war alles ein bisschen vage. Doch die geheime Botschaft auf dem Umschlag hatte Max’ Wachsamkeit geschärft.

 

Als Max aus dem Intercity ausstieg, ging er zunächst in Richtung des Bahnsteigs, auf dem der Express zum Flughafen Heathrow abfuhr. An einem Imbiss machte er kurz halt, lief einmal um den Stand herum und ging dann zurück zu dem kurzen Tunnel, der zu einem Taxistand führte. Dort hatte sich bereits eine lange Schlange gebildet, und Max blieb stehen, um sich unauffällig umzuschauen, ob ihm jemand gefolgt war. Dann marschierte er wieder eilig ins Bahnhofsgebäude hinein und nahm die Rolltreppe zur U-Bahn. Er hielt die Augen offen. Von den Gesichtern ringsum kam ihm keines bekannt vor. Doch dann fiel sein Blick auf einen Mann, etwa Mitte zwanzig, ein Student vielleicht, der ein bisschen abgerissen aussah, und iPod hörte. Seine schlecht geschnittenen Haare und seine abgetragenen Sachen passten gut zusammen, aber er trug, wie Max erkennen konnte, eine teuer aussehende Uhr, auf die er häufig blickte. Max ging auf, dass er den Mann bereits zuvor auf dem Bahnsteig gesehen hatte.

Er quetschte sich in den U-Bahn-Waggon und der iPod-Mann stieg durch eine andere Tür in dasselbe Abteil ein.

Mit geschärften Sinnen ließ Max den Blick jetzt in beide Richtungen durch den ganzen Wagen wandern. Er sah eine Frau mittleren Alters, ziemlich schick gekleidet, mit einer teuren Handtasche über der Schulter, und ihm fiel ein, dass er sie ungefähr zehn Plätze vor sich in der Taxischlange gesehen hatte.

Warum wurde er beschattet? Waren sie hinter irgendetwas her, was in seinem Besitz war? Aber was konnte das sein? Und warum hätten sie ihn umbringen wollen, wenn er etwas besaß, worauf sie scharf waren? Das ergab alles keinen Sinn. Jedenfalls noch nicht. Wichtig war jetzt, dafür zu sorgen, dass ihm niemand zu der Kontaktperson seines Vaters folgte.

Der Zug hielt an der Station Charing Cross, wo das übliche Geschiebe und Gedränge herrschte, als weitere Passagiere in den Zug einstiegen. Max entging nichts. Der iPod-Mann bemühte sich, Max nicht aus den Augen zu verlieren, dabei wagte er es aber nur, ihn von der Seite anzuschauen, damit kein direkter Blickkontakt entstand. Die Frau mit der schicken Tasche tat das Gleiche. Ein halbes Dutzend Menschen zwängte sich in das ohnehin schon überfüllte Abteil, während Max sich gegen den Strom in Richtung Tür schob. Er schlüpfte hinaus, kurz bevor sich die Türen schlossen, und als er den Kopf zur Seite wandte, sah er, dass der Mann und die Frau ebenfalls aus dem Zug sprangen. Die beiden folgten ihm, so viel stand jetzt fest. Es war also keine Einbildung gewesen. Doch Max hatte sich schon einen Plan zurechtgelegt. Beim Aussteigen hatte er seinen Rucksack zwischen die Schiebetüren fallen lassen, die nun aufgrund des Widerstands beim Schließen gleich wieder aufsprangen. Max passte den Augenblick ab, schnappte sich seinen Rucksack und drängelte sich abermals in den Waggon. Er war stark genug, ein paar kräftige Männer beiseitezuschieben. Das war das Gute an Dartmoor High: Dort trainierten sie jeden einzelnen Muskel des Körpers – vielleicht auch als Vorbereitung auf eine Fahrt mit der Londoner U-Bahn.

Als der Zug losfuhr, sah Max Verblüffung und Panik in den Gesichtern seiner Verfolger. Er hatte ihnen ein Schnippchen geschlagen. Wie viele von ihnen würde er noch austricksen müssen, bevor er zu Farentino kam?

Er fuhr bis zum Trafalgar Square, sprang vor dem Gebäude der Nationalgalerie in einen Bus voller ausländischer Touristen, stieg aufs Oberdeck und setzte sich dort auf einen freien Platz. Den meisten Leuten war es hier oben auf dem offenen Verdeck zu kalt, aber Max wollte freie Sicht haben, um eventuelle Verfolger rechtzeitig zu entdecken. Die Kälte machte ihm nichts aus, daran war er gewöhnt.

Als der Bus am Uferdamm entlangfuhr, kam es Max so vor, als würde die Themse schneller fließen als der Straßenverkehr. Er sprang aus dem Bus, sprintete die Treppe unweit des Courtauld Institute of Art hinauf, schlängelte sich durch das Verkehrsgewühl und kam in das Randgebiet von Soho.

 

Während er zum Soho Square marschierte, hörte er sich noch einmal die Botschaft seines Vaters auf seinem MP3-Player an. Dad hatte nie einen Hehl aus seinen Gefühlen für ihn gemacht. Väter und Söhne entzweiten sich in irgendeiner Phase immer mal, hatte sein Vater in einem Urlaub gesagt, doch Max sollte wissen, dass er ihn von ganzem Herzen liebte, egal, was auch passierte. Normalerweise sprach sein Dad offen über seine Gefühle, aber ausgerechnet auf dem Band, das Max im Fall seines Todes anhören würde, sagte er so wenig. Warum? Fürchtete er, dass jemand anders es in die Finger bekommen könnte? War in der Aufzeichnung womöglich noch eine Botschaft versteckt, die Max noch nicht erkannt hatte? Er konnte es nicht mit Gewissheit sagen und hörte sich die Nachricht noch mehrere Male an, bis er diese Möglichkeit ausschloss.

 

Der Soho Park war eine Oase mitten in der Stadt. Büroangestellte schlürften hier in der Mittagspause ihren Kaffee und aßen ein Sandwich, Obdachlose schliefen auf den Bänken und Tauben hüpften umher auf der Suche nach Brotkrumen.

Max umrundete die Rasenfläche, die von Bäumen und Büschen gesäumt wurde, und überquerte sie einmal diagonal. Er war sich jetzt hundertprozentig sicher, dass er nicht mehr verfolgt wurde. Er ging auf eine schwarze, hochglänzend gestrichene Tür zu, die sich unauffällig zwischen zwei alten Häusern befand. Das eine beherbergte die Zaragon Picture Company, eine unabhängige Filmgesellschaft, das andere war der Firmensitz eines Weinhändlers. Max warf noch einmal einen prüfenden Blick auf das kleine Messingschild an der schwarzen Tür, um sich zu vergewissern, dass er auch an der richtigen Adresse war. Schließlich war es schon ein paar Jahre her, dass er zum letzten Mal hier gewesen war. Farentino. Mehr stand da nicht. Kein Hinweis darauf, welcherart Geschäfte hier betrieben wurden. Er drückte den Klingelknopf und sagte der Stimme, die ihm aus der Gegensprechanlage antwortete, wer er war. Mit einem Klicken ging die Tür auf und Max betrat die stille, sichere Welt des Mannes, der der engste Freund seines Vaters war.

 

Max stieg der moschusartige Geruch der Tierhaut in die Nase. Er wirkte völlig fehl am Platz in den elegant möblierten Räumen von Angelo Farentino. Die Tierhaut war nie richtig präpariert worden, erfüllte aber trotzdem ihren Zweck, das Bündel handgeschriebener Notizen zu schützen. Während Max die Ober fläche der Haut und die darin aufbewahrten Papiere befühlte, lief Farentino auf und ab, und seine teuren italienischen Schuhe machten so gut wie kein Geräusch auf dem Marmorboden. Max nahm die Aufzeichnungen heraus und verschlang förmlich die Worte auf den Seiten – es handelte sich um Notizen, die sein Vater während seiner Feldforschungen gemacht hatte. Max überflog sie, suchte fieberhaft nach irgendwelchen Hinweisen darauf, was ihm in Afrika widerfahren war.

»Dein Vater wusste, dass irgendetwas im Busch war«, sagte Farentino und blieb stehen, um sich ein Glas Rotwein einzuschenken. »Er hat seine Notizen immer per E-Mail und eine Kopie auf CD-ROM per Kurier geschickt. Das …« er wies mit dem Zeigefinger auf das Papierbündel, »das hier ist … sehr ungewöhnlich.«

Angelo Farentino war ein Mann, den nichts aus der Fassung bringen konnte. Dreißig Jahre lang hatte er Schriften zu Umweltthemen publiziert, und Tom Gordon hatte während seiner Reisen geholfen, auf viele der schlimmsten ökologischen Katastrophen in der ganzen Welt aufmerksam zu machen.

Max las weiter. Die Schrift war leserlich, doch an manchen Stellen sahen die Notizen aus, als seien sie in großer Eile niedergeschrieben worden. Hinweise auf den Einsatz von schwerem Gerät … Bohrlöcher sollten an diesen Stellen nicht zu finden sein … Es spricht alles dafür… Einige der Seiten waren zerrissen und enthielten dem Leser die Schlussfolgerungen vor, die Max’ Vater gezogen hatte.

Farentino hatte Platz genommen, seine Unterarme ruhten auf einem alten Walnusstisch und er spielte nervös mit den Fingern. »Max, ich habe Angst um deinen Vater, und er hat offensichtlich auch große Angst um dich. Deswegen hat er dich auch nur so spärlich mit Informationen versorgt. Er wusste, dass du deinen Verstand benutzen würdest. Deswegen hat er dich zu mir geschickt.«

»Und dieser Kanadier, Jack Ellerman? Den Namen hab ich vorher noch nie gehört.«

»Der ist erfunden. Um jeden, der möglicherweise Interesse zeigt, auf eine falsche Fährte zu locken. Also, ich schicke dich zu sehr guten Freunden von mir nach Norditalien. Dort bist du in Sicherheit, bis ich helfen kann, deinen Vater zu finden.«

Max blickte wieder auf die Notizen seines Vaters. Sie waren schmutzverschmiert, einige der Blätter klebten zusammen, und an einer Stelle zog sich ein hässlicher brauner Fleck übers Papier. »Ist das Blut?«, fragte er.

Farentino hob die Schultern, er war sich nicht sicher, und selbst wenn, hätte er nichts gesagt.

Max nahm noch einen Bissen von der Pizza, die Farentino bestellt hatte, und nippte an seinem Pfirsich-Eis-Shake. Trotz allem, was passiert war, hatte Max Hunger. Er wusste auch, dass er für einen ausgeglichenen Blutzuckerspiegel sorgen musste, wenn er alle fünf Sinne beisammenhalten wollte. »Dad hat seine Notizen also in Gazellenhaut eingewickelt und sie dann einem Buschmann anvertraut, der damit über zweihundert Kilometer durch Wüste und Buschland marschiert ist.«

»Ganz recht. Die Buschmänner in der Kalahari sind Nomaden. Sie sind das letzte einheimische Volk, das so lebt, und dein Vater hat anscheinend eine persönliche Beziehung zu ihnen aufbauen können. Der Buschmann hat diese Notizen zu einem Farmer gebracht, der ein Wildreservat leitet, eine Art privater Wildpark. Offenbar kennt entweder der Buschmann oder dein Vater diesen Mann.«

»Und der hat Ihnen die Notizen geschickt.«

»Zunächst einmal wurden sie einem Literaturagenten in Johannesburg zugesandt, mit dem ich zusammenarbeite. So lautete die schriftliche Anweisung deines Vaters. Er war ja mitten in der Wildnis, ohne irgendwelche Kommunikationsmittel. Da draußen leben nur wenige Menschen. Ich vermute, dein Vater hat irgendetwas gesehen, was er nicht sehen sollte«, sagte Farentino und wandte seinen Blick ab.

»Was ist los?«, fragte Max.

Farentino zuckte mit den Achseln und machte eine vage Geste. »Vielleicht hat das nichts zu bedeuten. Oder vielleicht doch.« Er zögerte, wusste aber, dass das nicht der richtige Moment war für Geheimniskrämerei. »Der Literaturagent in Johannesburg … Sein Büro wurde durch einen Brand zerstört und er selbst ist schwer verletzt worden. Und zwar gestern. Am selben Tag, an dem du überfallen wurdest.«

Max ließ diese Neuigkeit auf sich wirken. Offensichtlich versuchte irgendjemand mit allen Mitteln zu verhindern, dass Informationen über Max’ Vater und seine mögliche Entdeckung ans Licht kamen.

»Wer weiß von diesen Aufzeichnungen?«, fragte Max.

»Niemand sonst. Ich sage zu keinem ein Wort, bevor ich sie nicht gelesen habe. Das Problem ist nur, dass aus der Gazellenhaut Säure in das Papier eingedrungen ist. Es kann Wochen dauern, bis es uns gelingt, die Seiten zu trennen.«

»Finden sich denn überhaupt keine Anhaltspunkte in Dads Notizen?«, fragte Max hoffnungsvoll.

»Ich habe noch nichts Auffälliges entdeckt, die Notizen sind so unvollständig, dass ich mir noch keinen Reim darauf machen kann.« Farentino nippte an seinem Wein. »Aber der Ort, an dem der Buschmann sie abgeliefert hat, ist Hunderte Kilometer von der Stelle entfernt, an der dein Vater meiner Vermutung nach gearbeitet hat.«

»Hat schon jemand nach ihm gesucht?«

Farentino zuckte zusammen. Er wickelte eine seiner teuren Zigarren aus, drehte sie zwischen den Fingern und schnupperte daran. Max wartete. Farentino zögerte seine Antwort hinaus.

»Angelo, sagen Sie es mir.«

Offenbar überlegte Farentino, ob er Max reinen Wein einschenken sollte. Er schaute dem Jungen fest in die Augen und fasste dann einen Entschluss.

»Niemand sucht ihn. Nicht wirklich. Ich habe alles unternommen, was in meiner Macht stand. Das Außenministerium hat die örtliche Polizei und die Wildhüter gebeten, die Augen offen zu halten.« Nervös befingerte er die Zigarre und steckte sie zwischen seine Lippen. Max war klar, dass das noch nicht alles gewesen war, und spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Vielleicht war die Pizza doch keine so gute Idee gewesen.

Farentino schlug eine Mappe auf, die auf seinem Schreibtisch lag, und zeigte Max ein paar Berichte und Zeitungsausschnitte über ein international tätiges Forschungsunternehmen namens Shaka Spear Explorations. Auf allen Fotos war ein Mann abgebildet, der so groß und kräftig aussah wie ein Rugbyspieler. Er glich einem Maori, nur dass er den Schädel kahl geschoren hatte und oben einen Haarknoten trug wie die chinesischen Krieger, die Max aus Filmen kannte.

»Das ist Shaka Chang«, sagte Farentino. »Sein Vater war ein Zulu, seine Mutter Chinesin. Er hat Verbindungen, da würde der Präsident der Vereinigten Staaten vor Neid erblassen. Als Geschäftsmann steht er in dem Ruf, Angst und Schrecken zu verbreiten, aber er hat auch ungeheuer viel für sozial Benachteiligte geleistet, deshalb ist er so gut wie unantastbar.«

Max betrachtete den Mann, der in einem der größten Forschungsunternehmen der Welt die Zügel in der Hand hielt. Shaka Chang lächelte auf keinem der Fotos.

»Namibia hat enorme Diamantenvorkommen im Boden. Hat Dad danach gesucht?«, fragte Max.

»Nein. Dort soll ein Staudamm gebaut werden, und darüber ist es zu großen Kontroversen gekommen. Nicht alle sind über dieses Vorhaben erfreut. Ökologen wollen den Staudamm verhindern. Er soll an riesige Wasserkraftanlagen gekoppelt werden und eine Menge Reichtum ins Land bringen. Das Projekt ist milliardenschwer. Shaka Chang ist der Drahtzieher.«

»Wenn der Staudamm bereits geplant ist, was macht Dad dann dort?«

»Das weiß ich auch nicht so genau«, erwiderte Farentino besorgt. »Mir ist bloß bekannt, dass bei einer Realisierung des Projektes nicht nur alte Grabstätten der Buschmänner über flutet, sondern auch das einzigartige Ökosystem Namibias zerstört werden. Deshalb hat dein Vater nach Aquiferen gesucht.«

»Was ist das?«, sagte Max.

»Du musst dir die tief in der Erde liegenden Gesteinsschichten vorstellen. Ein Aquifer ist so etwas Ähnliches wie ein Bienenstock aus Stein. Und in all den Furchen und Löchern lagert fossiles Wasser. Wasser kann in der Wildnis kostbarer sein als Diamanten, und wenn dein Dad unterirdische Flüsse oder Wasserdepots in der Erde gefunden haben sollte, könnte das Mr Chang gewaltige Kopfschmerzen bereiten.«

»Daher wollte Dad, dass Sie die Notizen erhalten. Vielleicht denkt dieser Shaka Chang ja, Dad hätte mir auch was geschickt. Deshalb der Mordanschlag auf mich. Und auch die Durchsuchung meines Zimmers.«

Farentino schüttelte den Kopf. »Möglich, aber wir haben nicht die leiseste Ahnung, wonach sie dort gesucht haben könnten, oder?«

»Nein«, sagte Max.

Farentino sah Max durchdringend an. »Max, hat dein Vater dir irgendwelche Hinweise gegeben, irgendetwas, woraus du schließen könntest, was er in Namibia gefunden hat?«

Max überlegte, welche Informationen er hatte. Er sollte Farentino erzählen, dass er glaubte, Hinweise zu haben, die er bislang noch nicht entschlüsseln konnte. Warum also tat er es nicht? Eine innere Stimme riet ihm, seine Überlegungen für sich zu behalten. Vertrau niemandem. Nicht mal Farentino? Niemandem. Noch nicht.

Max fühlte sich bei all dem Argwohn schrecklich unwohl in seiner Haut, aber er befand sich nun mal in einer außergewöhnlichen Lage. »Angelo, vielleicht ist Dad ja noch am Leben. Und wenn das im Bereich des Möglichen liegt, möchte ich helfen, ihn zu finden.«

Farentino blickte zur Decke, als wollte er still Andacht halten. »Ja, das habe ich befürchtet.«

Max schob die Bilder und Berichte über Shaka Chang auf der Tischplatte hin und her. Plötzlich sprang ihm ein Foto ins Auge. Es war die Luftaufnahme eines Forts, mitten in der afrikanischen Wildnis. Hinter der Festung lag ein riesiger See oder Sumpf. Auf dem unteren Rand des Bilds entdeckte Max lauter Felsbrocken. Weiter hinten war der Boden wieder flach. Die ganze Gegend sah höchst abschreckend aus – logisch, immerhin war es ein Fort.

Farentino nahm die Fotografie in die Hand.

»Das ist Shaka Changs Hauptquartier in Afrika. Er hat dort einen privaten Rückzugsort. Die Linie, die man da inmitten der Wüste sieht, ist eine Landebahn. Im Fluss und im See hinter dem Fort wimmelt es von Krokodilen. Ohne Shaka Changs Befehl geht da niemand rein, und erst recht kommt da keiner mehr raus.«

Max spürte, dass der Ort etwas Böses ausstrahlte. »Sieht richtig bedrohlich aus.«

»Ja. Namibia war mal Deutsch-Südwestafrika. Also ehemals deutsches Territorium. Das Fort wurde schon vor dem Ersten Weltkrieg gebaut.«

»Hat es einen Namen?«, fragte Max.

Farentino schwieg für einen Moment. Es kursierten Geschichten über dieses Fort, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen. »Sie nennen es Skeleton Rock, Skelettfelsen«, antwortete er leise.

Max betrachtete Farentinos Gesicht. Es kam ihm vor, als wären Farentinos Augen die Tore zu seinen heimlichen Gedanken. Max’ Vorahnung, was nun kommen würde, war richtig. Der Italiener nickte fast unmerklich. Er hatte eine Entscheidung getroffen.

»Max, ich muss Verschiedenes mit dir besprechen. Es gibt ein paar Dinge, die du über deinen Vater wissen solltest.«

 

Eine Stunde später buchte Max mithilfe der Kreditkarte, die er laut seines Vaters bedenkenlos benutzen konnte, ein Flugticket. Air Namibia bot einen Direktflug von London-Gatwick an, aber falls seine Verfolger damit rechneten, dass er sich auf die Suche nach seinem Vater machte, würden sie diesen Flug bestimmt überwachen. Deshalb entschied sich Max lieber für Heathrow. Schließlich hatte er Farentino noch um einen Gefallen gebeten, der zwar nicht leicht zu erfüllen war, dennoch regelte der Italiener alles in rekordverdächtiger Zeit.

Als es dunkel wurde, fuhren sie zum Flughafen. Max saß schweigend da. Er hatte keine Fragen mehr. Farentino hatte ihm nicht nur gesagt, wie seine Mutter gestorben war, sondern auch das Geheimnis anvertraut, das die Arbeit seines Vaters umgab. Sein neues Wissen war eine große Bürde, doch Max war nun umso entschlossener, seinen Vater zu finden.

Max versprach Farentino, in Kontakt zu bleiben, soweit es möglich war. Allerdings würden ihm alle Informationen stets auf elektronischem Weg über einen Mittelsmann namens Magier zukommen.

Farentino machte sich bald Vorwürfe, dass er Max erlaubte, auf eigene Faust loszuziehen. Ihn tröstete nur, dass Max ihm versicherte, er hätte sich ohnehin aufgemacht. So wusste Farentino wenigstens Bescheid und konnte Max von London aus möglicherweise helfen.

Am Terminal 3 in Heathrow schloss Farentino den Jungen in die Arme und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. Max umarmte seinen Freund ebenfalls – und fühlte sich gleich ein bisschen erwachsener. Farentino nickte ihm anerkennend und respektvoll zu.

 

Max bahnte sich seinen Weg durch das Gewimmel im Flughafen. Er versuchte dabei, unauffällig nach irgendwelchen Gestalten Ausschau zu halten, die ihm komisch vorkamen. Der iPod-Mann und die Frau mit der teuren Tasche waren jedenfalls nirgendwo in Sicht. Max sah auf die Uhr. Die Zeit wurde langsam knapp. Der Schalter von Air Canada war in Zone D. Er stellte sich in der Business-Class-Schlange für Toronto an. Es standen nur ein paar Leute vor ihm an, und während er wartete, schaute er sich weiter um. Plötzlich begann sein Herz zu rasen, und eine unsichtbare Faust schien auf seine Brust zu schlagen. Da stand Mr Peterson. Max konnte seinen Schrecken kaum verbergen, als er nach Verfolgern Ausschau hielt und daraufhin seinen Vertrauenslehrer entdeckte.

Er atmete kontrolliert und langsam, um sich zu beruhigen, dennoch spürte er, wie sich sein Magen zusammenkrampfte – Angst. Mr Peterson telefonierte mit dem Handy und drehte sich halb seitwärts. Max schaute geradeaus und unterdrückte den Impuls, Mr Peterson anzustarren. Er ließ stattdessen den Blick über die Menge schweifen für den Fall, dass Peterson ihn aus den Augenwinkeln beobachtete. Max konnte Peterson gut leiden. Er war ein toller Lehrer. Trotzdem war er hier und konnte zu jenen gehören, die sich gegen Max verschworen hatten, ihn aufspüren und töten wollten. Vertrau niemandem.

Die Dame am Check-in-Schalter rief Max auf und riss ihn aus seiner Starre. Er reichte der Frau den Pass und das Ticket, doch die Magenkrämpfe wollten nicht aufhören.

Mr Peterson war erst seit ein paar Monaten an der Schule. Er kannte Max’ Tagesplan, und vermutlich war er es gewesen, der sein Zimmer durchsucht hatte. Wer bezahlte Peterson für seinen Verrat an Max? Er hatte jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken.

»Das ist aber ein Ticket für die Economy-Class«, erklärte die Frau am Schalter lächelnd.

Das wusste Max natürlich. Er setzte darauf, dass die freundlich wirkende Frau ihn trotzdem einchecken würde, wenn er den Ahnungslosen spielte. »Oh, tut mir furchtbar leid«, sagte er breit grinsend. Und fügte hinzu: »Ich bin noch nie mit so einem großen Flugzeug geflogen«, was eine Lüge war.

Mit schnellen Fingern tippte die Frau etwas in ihren Computer ein. »Ach, das macht nichts. Ich checke Sie einfach hier ein. Sie sind bestimmt unheimlich aufgeregt.« Max nickte eifrig. »Wollen Sie Gepäck aufgeben?«, fragte die Frau, während sie auf den Monitor sah.

»Nein, ich hab bloß meinen Rucksack.«

Sie stellte ihm noch ein paar Sicherheitsfragen und legte dann das Ticket, seinen Pass und die Bordkarte vor ihn hin. »Ich habe Sie auf einen Fensterplatz gesetzt. Guten Flug.« Sie zeigte ans Ende der Halle. »Sicherheitscheck und Abflugschalter sind dahinten. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Aufenthalt in Kanada, Mr Lawrence.«

Max bedankte sich und trat vom Schalter zurück. Peterson war immer noch da, er hatte sich in den Bereich der Wartehalle zurückgezogen. Anscheinend gab er sich damit zufrieden, dass Max zu seinem Vormund nach Toronto reiste, denn er klappte sein Handy zu und machte auf dem Absatz kehrt. Seine Aufgabe war erledigt. Max war erleichtert, aber er musste trotzdem noch in das Flugzeug nach Südafrika gelangen – und das, ohne gesehen zu werden. Gut möglich, dass noch mehr Leute hier auf dem Flughafen nach ihm Ausschau hielten.

Die Maschine nach Toronto sollte um 21:30 Uhr abfliegen. Das Check-in für das Flugzeug nach Johannesburg war in Zone A, es startete um 20:05 Uhr. Das Boarding hatte bereits begonnen. Max musste pünktlich am Flugsteig sein, und wenn er nicht in der nächsten Viertelstunde dort hinkam, war der ganze Plan im Eimer. Er beschleunigte seinen Schritt, huschte durch die Menge, und dann sah er einen anderen Jungen, der ungefähr in seinem Alter war. Genau wie Max trug er eine Cargohose, ein Sweatshirt, Turnschuhe und eine leichte Fleecejacke. Seine Haare waren allerdings ein Stück länger. Zudem wirkten seine Schultern schmaler – Max hatte schon viele Wildwasserfahrten in den Stromschnellen des Dart Rivers hinter sich und dadurch Arm- und Rückenmuskeln aufgebaut. Obwohl Max diesen Jungen noch nie zuvor gesehen hatte, erkannte er ihn an seiner orangefarbenen Fleecejacke.

Der fremde Junge schaute sich suchend in der Menge um, dann fiel sein Blick auf Max. Er wechselte seinen Rucksack auf die andere Schulter, und als die beiden Jungen aneinander vorübergingen, streiften sie sich kurz. Nur eine blitzschnelle Berührung, eine hastig genuschelte Entschuldigung, schon ging jeder wieder seiner Wege. Aber in diesem flüchtigen Moment tauschten Martin Lawrence, der Sohn eines Kunden von Angelo Farentino, und Max Gordon Flugtickets, Pässe und Bordkarten. Martin freute sich, umsonst nach Kanada fliegen zu können – fürs Snowboarden herrschten dieses Jahr ausgezeichnete Bedingungen. Max hielt jetzt wieder seinen eigenen Pass und sein Ticket in den Händen, mit dem Martin Lawrence ihn für die Maschine nach Südafrika eingecheckt hatte. Die beiden Jungen sahen sich recht ähnlich, zumindest ähnlich genug, dass eine viel beschäftigte Schalterangestellte keinen Verdacht schöpfte.

So weit, so gut. In elf Stunden würde er in Südafrika landen. Damit wäre ein weiterer Schritt getan, um herauszufinden, was mit seinem Vater geschehen war. Die letzten vierundzwanzig Stunden waren sehr nervenaufreibend gewesen. Egal welcher Film im Flugzeug laufen würde, er musste dringend schlafen.

Draußen vor dem Flughafengebäude wartete Peterson einen kurzen Moment, bis ein Wagen im Abholbereich vorfuhr. Darin saßen der iPod-Mann und die Frau mit der Handtasche. Peterson stieg ein. »Er sitzt im Flieger nach Toronto. Fahren wir.«

Als sich das Auto langsam in den abendlichen Verkehr einfädelte, rollte ein Airbus 343 mit Flugziel Johannesburg über die Startbahn. Max saß in eine dünne Decke gehüllt auf seinem Platz am Fenster und schaute auf die blinkenden Lichter Londons hinunter – ein Meeresgrund voller Diamanten. Als die Maschine ihre Flughöhe erreicht hatte, schlief er bereits. Wirre Träume quälten seinen erschöpften Geist: Verschwommene Bilder einer unwirtlichen Landschaft wetteiferten mit düsteren Visionen von einer abschreckenden Festung in der Wüste – Skeleton Rock.