21

Satans Engel hatte Ferdie van Reenen im Krieg die russischen Kampfhubschrauber genannt, und Kallie war überzeugt, dass der schwarze, schnell heranfliegende Helikopter am Horizont ein naher Verwandter von denen war. Der wollte mit Sicherheit zu ihr.

Kallie war eine Zickzackroute geflogen, immer hinter Lastwagen her, die von Walvis Bay in die Wüste fuhren und riesige Staubwolken aufwirbelten. Alle zwei Stunden wurden ein Dutzend Container transportiert. Die Konvois fuhren nach Süden zu dem Staudamm und verschwanden dort in einem riesigen unterirdischen Bunker. Der Eingang sah aus wie die Zufahrt zu einem Parkhaus. Es wurde Zeit, von dort wegzukommen und irgendjemandem Bericht zu erstatten. Sie wusste nur nicht, wem. Mike Kapuo schien für Peterson in England zu arbeiten, und Sayid konnte sie nicht erreichen. Aber das Gefühl ihrer Hilflosigkeit verwehte wie ein Blatt im Sturm, als sie diesen Brummer heranrücken sah.

Sie trat das Seitenruderpedal durch, ging in die Schräglage und tauchte ab.

Zeit, sich zu verstecken.

 

Angelo Farentinos Zigarre war auf den Rand des Aschenbechers gelegt worden und brannte langsam herunter. Noch wenige Minuten, und sie würde ausgehen; dann wäre lediglich Asche von ihr übrig, und Angelo, der an den schönen, handgeknüpften Perserteppich dachte, hoffte, dass die Asche nicht darauffiel und ihn beschmutzte. Stunden zuvor hatte er aus dem Fenster seines Wohn- und Geschäftshauses am Soho Square geschaut und das Hin und Her der Leute auf der Straße beobachtet. Das erste verräterische Anzeichen war der Wagen von den Gaswerken gewesen, der seine Absperrungen um den Deckel eines Einstiegschachts aufgebaut hatte. Es gab hier aber keine Gasleitungen; die Männer hatten die Sperren um den Einstieg zu einem Abwasserkanal gestellt. Dann der Umzugswagen, der alle anderen Verkehrsteilnehmer seit Stunden nervte und weder be- noch entladen wurde. Ein weiterer großer Fehler seiner Feinde war der, dass sie den hässlichen Verkehrspolizisten, der hier sonst immer gnadenlos seine Knöllchen verteilte, durch eine sehr attraktive junge Frau ersetzt hatten, die einen äußerst fitten Eindruck machte und gar nicht daran dachte, Verwarnungen zu erteilen oder Autos abschleppen zu lassen. Und ihr vierter und letzter Fehler war, dass sie Angelo Farentino unterschätzten.

Er hatte seine Flucht schon lange, bevor die Situation wirklich brenzlig wurde, geplant. Als der Arbeiter von den Gaswerken den Einsatzbefehl in sein Funkgerät sprach und seine Partnerin, die Politesse, sich im Laufschritt Farentinos Haustür näherte, sprangen sechs finster aussehende Burschen aus dem Möbelwagen und sicherten sämtliche Ausgänge. Die Straße war blockiert, die schwarz glänzende Haustür wurde eingetreten, und die Gangster stürzten in das herrlich kühle, zeitlos elegante Haus hinein. Und als die Tür aufgerissen wurde, fiel der Rest der kalten Zigarrenasche ordentlich in den Kristallaschenbecher.

 

Einige Stunden, bevor es Max gelang, die entscheidenden Informationen abzuschicken, hatte Sayid das Gefühl, als habe sich die Dose mit Würmern, die er geöffnet hatte, in ein Fass voller Schlangen verwandelt. Sie befanden sich im Zimmer des Direktors. Mr Jackson stand am Kamin und sah sie schweigend an. Die Hände vergrub er in den Taschen seiner Cordhose. Sayid hatte mit seiner Mutter auf dem zerknitterten Sofa Platz genommen und Mr Peterson saß ihnen gegenüber. Die uniformierte Dorfpolizistin war von einem Hauptkommissar der für Devon und Cornwall zuständigen Kriminalpolizei und einem örtlichen Mitarbeiter der Staatssicherheitspolizei aus dem Zimmer geführt worden. Die Hilfspolizistin war absolut bedeutungslos im Vergleich zu den Leuten, die jetzt in Mr Jacksons Zimmer standen.

Sayid beobachtete die beiden Gesetzeshüter aus London: Nummer eins war ein cooler Typ in maßgeschneiderten Jeans und sportlichem Jackett, mit schmächtiger Gestalt, aber irgendwie gefährlich wirkend; er starrte zurück, ohne zu blinzeln, ohne zu lächeln – aber hier lachte im Augenblick sowieso keiner. Nummer zwei, spindeldürr und supercool, sah aus, als würde er lieber ein Surfbrett unter den nackten Füßen haben, als in dieser teuren Hose herumlaufen zu müssen. Dieses ungleiche Paar war vom MI6. Nicht direkt das, was Sayid sich unter Geheimagenten vorgestellt hatte. Sag niemals Esel zu einem Pferd, auch wenn es so aussieht. Es könnte ein Araberhengst darin stecken. Das war zwar einer der blöderen Sprüche seines Großvaters gewesen, aber vielleicht war ja doch was dran.

Und Mr Peterson war die größte Überraschung von allen.

»Sayid, du hast genau das Richtige getan. Hundert Prozent«, sagte Mr Peterson.

»Ich kriege keine Schwierigkeiten?«, fragte Sayid.

»Der MI6 ist nicht allzu glücklich«, sagte er und sah die beiden coolen Typen an. »Aber das kann ich in Ordnung bringen. Außerdem wäre die Lage ohne dich noch sehr viel schlimmer.«

»Ich dachte, Sie sind einer von den Bösen, und als ich Ihr Telefonat belauscht habe, hat sich das angehört, als ob Sie hinter Max, seinem Vater und Angelo Farentino her wären.«

»Okay, kurz gesagt, die Sache ist die …«

Mr Peterson erklärte es rasch und ohne Umstände. Er ließ viele Hintergrundinformationen weg, aber alles Wichtige kam zur Sprache. Er hatte Max’ Vater bei der Armee kennengelernt. Sie waren beide Abenteurer und wurden gute Freunde. Deswegen hingen die von Max’ Vater gemalten Gebirgslandschaften bei ihm an der Wand. Nach der Armee arbeiteten sie für die Regierung – nicht beim MI6 oder MI5, auch wenn sie von diesen Leuten ausgebildet wurden und ihnen oft wichtige Informationen zukommen ließen. Man konnte sie als internationale Wachhunde bezeichnen. Große Wirtschaftsunternehmen, korrupte Regierungen, illegaler Waffenhandel, Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen, Gefährdung vom Aussterben bedrohter Arten – alles, was einen nicht wiedergutzumachenden Schaden anrichten konnte, versuchten sie aufzuhalten. Aber Tom Gordon und seine Frau, als sie noch lebte, erkannten zusammen mit Peterson und einigen anderen, dass sie diese Aufgabe als Angestellte der Regierung niemals richtig durchführen konnten. Also nahmen sie zusammen mit gleichgesinnten Wissenschaftlern die Probleme selbst in die Hand. Manchmal wurden sie auch von Regierungen eingesetzt, wenn diese nicht als Beteiligte auftreten wollten.

Auf diese Weise konnten alle nur gewinnen. Und in dem Telefonat, das Sayid belauscht hatte, hatte Peterson den MI6 um Hilfe gebeten – man war ihm noch eine Menge schuldig. Als Tom Gordon in Namibia mit seinen Nachforschungen begann, gab es bereits Hinweise, dass das außerordentlich gefährlich werden könnte. Peterson war erst seit wenigen Monaten an der Dartmoor High und arbeitete dort als verdeckter Ermittler.

Um Max zu schützen.

Nur dass er weder irgendetwas von der Nachricht wusste, die Tom Gordon für seinen Sohn im Tresor hinterlegt hatte, noch von den Briefen, die Sayid seinem Freund direkt ausgehändigt hatte. Und Tom Gordon hatte wiederum nicht gewusst, dass Peterson jetzt hier war, um auf Max aufzupassen.

»Aber Angelo Farentino war doch da, um Max zu helfen. Das hat ihm sein Vater zumindest geschrieben.«

»Nein, diese Nachricht sollte ihn vor Farentino warnen. Ich nehme ganz stark an, Max’ Vater hatte begriffen, wer hinter all dem steckt – schon vor Jahren. Ein perfektes Leben im Verborgenen: Farentino gibt sich als großer Umweltschützer aus, in Wirklichkeit aber baut er sich eine gewaltige Machtbasis auf. Ich habe gedacht, Max geht nach Kanada, aber als ich erfuhr, dass er nach Afrika geflogen war und dass am Flughafen jemand versucht hatte, ihn umzubringen, da wusste ich, dass Farentino damit zu tun hatte.«

»Ich habe Farentino gewarnt, dass man ihn beobachtet.« »Das ist nicht deine Schuld.«

»Aber er ist entwischt.«

»Wir werden ihn finden.«

Ein schmuddeliger Bursche, etwa vierundzwanzig Jahre alt, bekleidet mit T-Shirt, Pullover und zerrissenen Designerjeans, stieß die Tür auf: Dr. Lee Mathews, ein IT-Experte. Er hatte Sayids Computer überwacht. »Von Max Gordon gibt’s nichts Neues. Aber wir haben eine Nachricht aus Namibia. Von einem Mädchen namens Kallie van Reenen.« Er gab Mr Peterson einen Computerausdruck. »Hab’s an meinen Chef weitergeleitet. Nur für die Oberste Etage bestimmt«, sagte er.

Sayid starrte den Computerfreak an; die Leute hier schienen alles hohe Tiere zu sein. Und Sayid wusste, die Oberste Etage bedeutete, dass die Regierung mit im Spiel war: der Premierminister, der Außenminister und der Leiter des MI6.

Und dann ging alles sehr schnell. Jeder schien zu wissen, was zu tun war, als Peterson sagte: »Es geht los.«

Sofort hatten die coolen Typen ihre Handys am Ohr. Türen gingen auf, Schritte hasteten über den Korridor. Peterson zerrte Sayid im Laufschritt hinter sich her. Er hatte Mr Jackson zugenickt, der Sayids Mutter beruhigend einen Arm auf die Schulter legte, als ihr Sohn fortgebracht wurde.

»Mr Peterson! Was geschieht jetzt?«, fragte Sayid. »Was ist mit Max?«

Sie waren im Freien, und Sayid sah und hörte den Militärhubschrauber auf dem Rugbyfeld der Schule. Zwei bewaffnete Soldaten warteten davor und schoben die Tür des Hubschraubers auf, als Mr Petersons Stimme sich über den Lärm der Rotoren erhob.

»Wir wissen nicht, wo er ist. Wir haben die ganze Zeit auf eine Bestätigung aus Namibia gewartet. Jetzt haben wir endlich etwas.«

Die beiden Soldaten halfen Sayid, indem sie ihn an den Armen packten und ihn in den Helikopter zogen. Sie schlugen die Tür zu, als auch Peterson eingestiegen war und dem Piloten mit erhobenem Daumen das Zeichen zum Abflug gab. Dann schnallte er sich selbst und Max’ Freund an, setzte einen Kopfhörer auf und reichte Sayid einen. Sayid hielt sich fest, als der Hubschrauber aufstieg und scharf in die Kurve ging.

»Es kann sein, dass wir Max und seinem Vater zurzeit noch nicht helfen können. Wir müssen zuerst Angelo Farentino und Shaka Chang aufhalten. Dazu brauchen wir die Hilfe der namibischen Regierung«, sagte Peterson. Seine Stimme klang durch das Mikrofon an seinem Kopfhörer ganz kratzig.

»Wie wollen Sie das machen?«

»Ich arbeite mit einem höheren Offizier in Namibia zusammen. Er hat, ich weiß nicht wie, eine von Tom Gordons Karten in die Hand bekommen. Und wenn wir berücksichtigen, was diese Kallie ihm erzählt hat, können wir es wagen, eine kleine unauffällige Aktion zu starten. Möchte man Regierungen dazu bringen, rechtzeitig etwas zu unternehmen, kann man ebenso gut versuchen, einen Öltanker in voller Fahrt zu stoppen – es dauert einfach viel zu lange. Unsere Regierung wird nicht direkt daran beteiligt sein, ist aber diplomatisch aktiv.«

»Eine Aktion?«, fragte Sayid. »Sie meinen einen Angriff?«

»Nein, wir gehen da als Berater rein; wenn wir etwas Konkreteres erfahren, werden wir die Situation neu bewerten. Es gibt in der Wüste einen verlassenen Militärflugplatz. Wir werden den Namibiern helfen, eine Kampftruppe auf die Beine zu stellen.«

»Wer ist wir

»Ein paar Freunde von denen da«, er sah zu den grimmig dreinschauenden jungen Soldaten hinüber, die ihre Gesichter mit Tarnfarben angemalt hatten und ziemlich exotische Waffen trugen, »werden uns begleiten.«

Sayid sah sie aufmerksam an.

»Spezialeinheiten?«

»Vor langer Zeit, das war noch bevor du auf die Welt gekommen bist, waren Max’ Vater und ich auch dabei.« Mr Peterson legte lächelnd einen Finger auf die Lippen. »Aber sag das bitte nicht weiter.«

Sayid lauschte dem Dröhnen der Motoren, das durch die Kopfhörer stark gedämpft wurde. Der Helikopter hatte Dartmoor im Tiefflug überquert und wandte sich jetzt nach Süden in Richtung Plymouth. Sayid konnte ihr Ziel schon sehen – ein kleines Flugfeld. Auf dem örtlichen Zivilflughafen sah man häufig auch Rettungshubschrauber der Marine landen, da fiel dieser kleine Militärhubschrauber nicht besonders auf.

Am Rand des Flugfeldes wartete ein zweimotoriger Jet, der ebenso zivil aussah wie das halbe Dutzend Männer, die davorstanden. Sie hatten dennoch Militärrucksäcke dabei, die gerade in den Frachtraum geladen wurden.

»Das ist eine Citation X«, erklärte Peterson. »Fliegt etwas unter Mach 1. Steht für besondere Operationen zur Verfügung, wenn es ein wenig unauffälliger zugehen soll. Sie gehört einem bekannten Geschäftsmann, der zufällig Inhaber eines Hotels in Südafrika ist – eine ganz gute Tarnung also. Ein Tankstopp in Lagos, und wir sind da.«

Sayid fühlte sich allmählich überfordert. Große Abenteuer und Gefahren – das war etwas für Max, aber nicht für ihn. »Warum muss ich mit?«

»Wegen Kallie van Reenen. «

»Sie ist aber davon überzeugt, der Polizist da drüben arbeitet für Sie, Mr Peterson … ich meine gegen Max’ Vater.«

»Ganz genau. Man wird ihr gut zureden müssen, bis sie uns alles erzählt, was sie weiß. Vielleicht fällt ihr das leichter, wenn sie dich sieht.«

»Sie ist diesem Polizisten weggelaufen.«

»Er hat sie wieder aufgelesen.«

»Woher wissen Sie das?«

»Sie hat es ihrem Vater erzählt.«

 

Als Ferdie van Reenen Kallies Funkspruch bekam, bezahlte er mit seiner Kreditkarte ein anderes Unternehmen, die Safari seiner Kunden weiterzuführen, tankte die zweimotorige Baron auf und flog auf direktem Weg dorthin, wo seine Tochter gelandet war. Er jagte im Tiefflug übers Land, denn die alten Fliegertricks aus dem Krieg hatte er nie vergessen. Unterwegs hielt er Mike Kapuo eine gepfefferte Predigt darüber, was er von dessen verdammter Nachlässigkeit und Verantwortungslosigkeit hielt. Sein Freund hatte Kallie in Gefahr geraten lassen. Beim Schimpfen benutzte van Reenen Ausdrücke, die ganz entschieden nicht den Gepflogenheiten des Funkverkehrs entsprachen.

Kapuo brauchte ein paar Minuten, um van Reenen alles zu erzählen, währenddessen dieser wieder einmal spürte, wie heiß und innig er seine Tochter liebte. Wer in einer Gegend wie dem namibischen Hinterland lebte, musste natürlich stark und unabhängig sein, aber vielleicht hatte er seine Tochter doch zu oft allein gelassen. Er schwor sich, das wiedergutzumachen und mehr Zeit mit ihr zu verbringen, trotzdem erfüllte es ihn mit tiefem Stolz, was sie getan hatte.