16

In seinem kurzen Leben hatte ! Koga bereits furchtbare Angst ausgestanden. Damals, als die Jäger, die einen Spießbock erlegt hatten, von einem Löwen angegriffen wurden, sah er sich plötzlich einer wütend knurrenden Löwin gegenüber. Er war so in Panik geraten, dass er kreischend Steine nach ihr geworfen hatte, bis sie unter dem Hagel seiner Geschosse zurückgewichen war. Das hatte ihm den Respekt der anderen Männer eingebracht. Aber es war nicht die Angst vor der Löwin, die sich in seinem Herzen eingenistet hatte, sondern der Anblick des sterbenden Spießbocks. Er war zu dem Tier von der Größe eines kleinen Pferdes hinübergegangen und hatte sein Messer gezogen. Das Pfeilgift entfaltete seine Wirkung nur langsam, aber jetzt war das zentrale Nervensystem des Tieres gelähmt, und es lag hilflos vor ihm.

!Koga kniete sich neben seinen Kopf und dankte dem Spießbock, dass er sich dem Geschick der Jäger zum Opfer dargeboten hatte. Er legte seine Hand auf die weiche Schnauze und zögerte. Die braunen Augen des Spießbocks blickten wie die eines Bruders zu ihm auf. ! Koga erstarrte und ließ das Messer fallen. Der Bock sah ihn bis zum letzten Herzschlag an. Und als dann das Leben aus seinen Augen wich, ahnte ! Koga etwas von der langen einsamen Reise, die eines Tages mit seinem eigenen Tod für ihn beginnen würde. Und das machte ihm Angst. Nicht der Tod, sondern die Reise danach. Es war dieselbe Angst, die auch jetzt sein Herz berührte, nachdem Max ihn gebeten hatte, ihn eine Weile allein zu lassen.

Max saß auf dem Pilotensitz. Irgendwo da draußen war das Ungeheuer, das der Atem des Teufels genannt wurde, und er musste den Weg dorthin finden. Aber mehr noch als der verzweifelte Wunsch, seinen Vater zu retten, beunruhigte ihn jetzt etwas anderes. Ein Grauen erfasste ihn, eine Stille, die alles verschluckte, was man mit Ohren hören konnte. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Leise, beinahe flüsternd, bat er !Koga, das Tarnnetz herunterzuziehen und im hohen Gras auf ihn zu warten. Ein letzter vernünftiger Gedanke: Das Flugzeug musste in seinem Versteck bleiben.

!Koga hatte Max in die Augen gesehen und erkannt, dass nun die Reise des Todes begann. Er konnte sich nicht vorstellen, was sein Freund jetzt sah oder wohin der Gestaltwandler in seinem Kopf ihn führen würde, aber es war unbekanntes Land, und ! Koga wusste wie alle Jäger, dass jede Wildnis ihre eigenen grausamen Bestien beherbergte. Max’ Augen sahen aus wie die des sterbenden Tieres, an die ! Koga sich so gut erinnerte. Voller Angst, dass die Reise seines Freundes auch seine eigene Seele ins Unbekannte mitnehmen könnte, schlich er lautlos davon.

Was auch immer geschehen war, als Max diese übernatürliche Energie verspürt hatte, er verstand es nicht. Bakoko, der Gestaltwandler, hatte diese Fähigkeit in ihm freigesetzt, aber Max dachte unsinnigerweise, das sei so, als lerne man Motorradfahren. Ihm stand eine Macht zur Verfügung, die ihn erschreckte und begeisterte, und die ihn, wenn er nicht richtig damit umzugehen verstand, töten konnte. Doch es war niemand da, der ihm sagen konnte, wie er diese ungeheuren Gefühle beherrschen sollte. Wenn ein Gestaltwandler genug Erfahrung gesammelt hatte und die Energien richtig nutzte, würde sich seine körperliche Gestalt verändern. Bis zu seiner ersten eigenen Erfahrung damit, hatte der Gedanke, eine andere Kreatur werden zu können, seinem rationalen Wesen sehr ferngelegen – totaler Quatsch, hätte er dazu gesagt. Und nun wurde er wieder in diese Macht hineingezogen: Sie rief ihn aus dem Innersten seines Körpers an.

Max hatte das Gefühl, in seinem eigenen Körper zu sitzen und nach draußen zu schauen. Und als ! Koga das Tarnnetz über die Nase des Flugzeugs zog – ganz vorsichtig, damit es sich nicht im Propeller verfing –, schien für Max die Zeit stehen zu bleiben. Er hörte nichts, er sah nichts, außer so etwas wie das Dämmerlicht eines Höhleneingangs. ! Koga legte die Zweige auf das Netz zurück, sodass es im Cockpit noch dunkler wurde und nur noch einzelne Lichtstrahlen zu ihm durchdrangen.

Er wartete schweigend, versuchte, sich auf einen Ort zu konzentrieren, der still und abgeschieden war wie ein Teich im Wald. Sein Kopf sank nach vorn, die Müdigkeit überwältigte ihn, ein schlafähnlicher Zustand trug ihn fort.

Ein heftiger Ruck durchfuhr ihn, und er stöhnte auf. Als hätte eine Riesenhand ihn gepackt und hochgeschleudert. Ein eisiges Glühen schoss seine Wirbelsäule hinauf.

Es war schlimmer, als er befürchtet hatte. Mit ungeheurer Energie wurde er himmelwärts gerissen und schwebte dann lautlos in der Luft, höher als ein Wolkenkratzer. Dabei ergriff ihn ein Entsetzen, als hinge er tatsächlich über dem Rand eines solch hohen Gebäudes. Er zitterte am ganzen Körper. Sein Schreckensschrei bohrte sich in den Himmel. Unten auf der Erde bewegten sich Schatten, und er lenkte seinen Blick auf eine Stelle, wo ein kreisrundes Nebelfeld dicht über dem Boden hing. Er sah über die Schulter, die mit dichtem graubraunem Gefieder bedeckt war. In der Ferne, weit hinter dem Horizont, sah er Buschwerk und niedrige Bäume neben dem dünnen Strich des Elefantenpfads und eine winzige Gestalt: seinen Freund.

»!KOGA!«, schrie er, aber den Schrei, der da aus seiner Kehle drang, verstand er selbst nicht. Er stöhnte; er konnte nicht in der Luft schweben. Schön und gut, er war ein Vogel, aber diesmal kein Falke oder Adler oder sonst ein Raubvogel wie beim ersten Mal. Jetzt war er eine Taube und die besaß nicht die Fähigkeit dahinzuschweben. Stattdessen schoss er pfeilschnell umher und geriet in Panik. Eine Achterbahnfahrt ohne etwas, woran er sich festhalten konnte. Aber er sah die Richtung, die er einschlagen musste. Hinter dem Elefantengras und dem Wald erstreckte sich eine Ebene, an deren kleinen Plateaus und Wildpfaden er sich kilometerweit orientieren konnte. Jenseits der Schluchten und dichter bewachsenen Buschlandflächen war ein seltsam geformtes schwarzes Loch in die Erde gestanzt. Vom Boden aus konnte man nicht erkennen, dass es wie eine wütende Fratze aussah. Nur ein Pilot oder ein Vogel konnte sehen, wie das Land vor Millionen Jahren durch den Einschlag eines Meteoriten verformt worden war. Zerschmetterte Felsen bildeten die Augenbrauen, und die riesige Steinplatte darunter sah aus wie eine gebrochene Nase. Aus dem klaffenden Schlund voller schiefer Zähne stieg der saure Dunst auf, der die Vegetation am Leben erhielt. Es war der Eingang zur Hölle, der Ort, vor dem sich die Buschmänner am meisten fürchteten.

Er ließ die Stelle nicht aus dem Blick, sah aber auch jenseits der zertrümmerten Erde das ferne Glitzern von Wasser. Ein Fluss lag dort wie eine fette Gabunviper. Max sah Schilf und Sandbänke, auf denen reglose Kreaturen lauerten: Krokodile. Große Krokodile. Er lernte jetzt, Einzelheiten zu erkennen, indem er den Kopf hin und her drehte und die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtete, und allmählich trat die auffälligste der Felsformationen unter ihm deutlich hervor. Viereckige Blöcke, zwischen denen sich Gestalten bewegten und Staubfahnen hinter Fahrzeugen aufstiegen. Ein Fort. Skeleton Rock.

Max wollte umkehren, er musste zu ! Koga zurück, aber als Vogelneuling hatte er den Bogen noch nicht richtig raus. Er flatterte hilflos umher, als sei er in einen Sturm geraten, und seine Panik jagte Schockwellen durch die Luft. Wieder fuhr ein Schrei durch den Himmel, so grausam und durchdringend, dass er von einer instinktiven Angst gepackt wurde. Hoch über ihm kreiste auf ruhiger Bahn eine dunkle Silhouette mit gezackten Schwingen. Eine Erinnerung blitzte auf – Paviane, die schon beim Anblick des Schattens eines Kampfadlers vor Panik aufkreischten. Jetzt hatte einer ihn als Beute erspäht.

Der Adler legte die Flügel an und stürzte in perfekter Angriffshaltung durch den Himmel auf ihn herab. Nur noch Sekunden und seine scharfen Krallen würden kurzen Prozess mit ihm machen. Max versuchte zu fliehen. Dreihundert Meter unter sich sah er die winzige Gestalt !Kogas im Schatten hocken. Er rief ihn, aber der Junge hörte natürlich nichts. Messerscharfe Krallen zischten um Federbreite an Max’ Gesicht vorbei, doch kaum hatte der Adler sein Ziel verfehlt, machte er mitten im Sturzflug ein unglaubliches Wendemanöver, griff von Neuem an und erwischte Max mit gestreckter Fersenkralle, sodass die Federn stoben.

Max stürzte ab. Aus der schwindelerregenden Achterbahnfahrt war ein unkontrolliertes Trudeln geworden. Aber wie oft hatte man ihm gesagt, er sei ein sportliches Naturtalent? Max brauchte nur bei etwas zuzusehen, und schon konnte er es nachmachen. Man musste ihm nur zeigen, wie man sich in einem Wildwasserkajak bewegen oder in welcher Haltung man eine steile Piste auf Skiern hinunterfahren sollte, und schon hatte er es in seinem fotografischen Gedächtnis gespeichert und konnte es jederzeit abrufen. Adler schossen wie Pistolenkugeln im Angriffsflug auf ihre Beute herab. Das konnte Max auch. Die Konzentration darauf drängte seine Panik in den Hintergrund. Und plötzlich war alles anders. Er gewann die Kontrolle zurück und drückte die Arme – oder waren es Flügel? – an die Seite. Der Wind schlug ihm ins Gesicht, die Erde raste ihm entgegen, es riss ihm fast die Arme aus, als er die Flügel spreizte, aber das verlangsamte seinen Sturz, und er jagte im Gleitflug zwischen die Bäume. Noch zu hastig! Äste und Zweige peitschten ihn von allen Seiten.

Und dann war alles schwarz.

Er erwachte im hinteren Teil des Cockpits, zusammengerollt wie ein Jockey, der beim Rennen vom Pferd gestürzt war und wusste, dass hundert mit Eisen beschlagene Hufe auf ihn zugedonnert kamen.

Max schleppte seinen schmerzenden Körper aus dem Flugzeug und ruhte sich kurz im warmen Schatten aus. Er nahm eine Handvoll Erde und roch daran. Der Erdgeruch Afrikas gab ihm das beruhigende Gefühl, wieder festen Boden unter den Füßen zu haben.

!Koga wartete nervös am Rand des Elefantenpfads und war sichtlich erleichtert, als Max durch die Bäume auf ihn zutrat. Er berührte die Schnittwunde an Max’ Schulter. Sie hatte die Länge einer Handfläche und war nur oberflächlich, brannte aber wie Feuer.

»Ich muss im Cockpit nach hinten gefallen sein«, beantwortete Max seinen fragenden Blick. Die Wahrheit machte ihm genauso viel Angst wie das, was er erlebt hatte. Wenn er fähig war, die Gestalt eines Vogels anzunehmen, dann bestand die durchaus realistische Gefahr, dass er angegriffen und verletzt oder getötet werden konnte.

Vielleicht hatte er sich das alles nur eingebildet. Vielleicht hatte er sich die Schulter tatsächlich bei einem Sturz im Flugzeug verletzt. Zumindest konnte er sich das vorläufig einreden.

 

Sie brachen auf, und während sie in gleichmäßigem Tempo durch die Savanne marschierten, prägte sich das Gelände wie eine dreidimensionale Karte in Max’ Gedächtnis ein. Als nach ein paar Stunden die Vormittagshitze unerträglich wurde, machten sie im Schutz eines überhängenden Felsens Rast. Max breitete die Landkarten aus. Seine eigene war so zerknittert, dass sie kaum noch brauchbar war. Das Messtischblatt seines Vaters war da schon nützlicher. Und die hydrologische Karte. Er verglich die beiden Karten seines Vaters mit dem, was er aus der Luft vom Atem des Teufels gesehen hatte, und bemerkte, dass eine der blauen Adern als unterirdischer Strom direkt von dem klaffenden Loch zu Skeleton Rock führte. Rätselhaft blieb die dünne Linie, die davon abzweigte, aber vielleicht wurde das Flusssystem von dem unterirdischen Wasserlauf gespeist. Max machte sich heftige Vorwürfe. Wie dumm von ihm! Er hatte das Fort doch buchstäblich aus der Vogelperspektive gesehen. Er hätte alles erkunden können, was er wissen musste. Der Fluss und die Krokodile bildeten ein natürliches Hindernis, aber er hätte ja ohne Weiteres in die Festung hineinfliegen können. Er hätte herumspionieren können. Mussten dort nicht Vorräte angeliefert werden? Holten sie ihr Trinkwasser aus dem Fluss? Wenn ja, gab es eine Filteranlage? Und woher nahmen sie den dafür nötigen Strom? Antworten auf diese Fragen hätten ihm vielleicht einen Weg in das Fort weisen können. Alles hatte ihn nach Skeleton Rock geführt. Max zweifelte nicht daran, dass er dort genauere Hinweise auf den Aufenthaltsort seines Vaters finden würde. Aber die Erinnerung an seinen letzten Flug versetzte ihn in Panik. Schon zitterten seine Hände wieder. Der stechende Blick des Adlers, die Krallen, die nach seinem Kopf geschlagen hatten. Er glaubte zu spüren, wie sie seine Brust packten, wie sie ihm Herz und Lungenflügel durchbohrten, und wie ihn dann in diesen qualvollen Sekunden der scharfe Schnabel in Stücke riss. Der reine Horror! Die Wahrheit war, er hatte sich das Fort nicht genauer angesehen, weil er solche Angst gehabt hatte.

Natürlich war er auch fasziniert davon, dass er die Gestalt eines Tieres annehmen konnte, aber das jähe Eintauchen in diese Zwischenwelt hatte ihn extrem mitgenommen.

Es war ja auch nicht so, dass er das tun konnte, wann immer er wollte. So einfach war die Sache nicht, wie einen Mantel an- oder auszuziehen, sondern es hing offenbar von den Umständen ab. Wahrscheinlich spielten seine Gefühle dabei eine Rolle, vielleicht lösten sie diese Fähigkeit in ihm aus. Er kam nicht dahinter.

!Koga, der ihn beobachtet hatte, berührte seine zitternden Hände.

»Entschuldige, ich hab wohl viel zu viel Sonne abgekriegt«, sagte Max.

»Was müssen wir tun?«, fragte !Koga.

»Es wäre nicht schlecht, wenn wir die Luftwaffe holen könnten, und wenn das nicht geht, wenigstens die Kavallerie, und falls die schon was anderes vorhaben, bleiben nur noch wir beide, du und ich. Besonders für mich könnte es ein bisschen verrückt werden. Und es wäre nicht wirklich hilfreich, wenn ich hier draußen den Verstand verlieren würde, stimmt’s?«

!Koga wartete, bis Max’ wirres Gerede etwas klarer wurde. Max zeigte ihm ihre Route auf der Karte seines Vaters. »Wir sind von hier gekommen, glaube ich, und wir gehen dorthin, hoffe ich. Fest steht jedenfalls, !Koga, dass ich in das Fort muss. Weißt du etwas über diese Festung?«

!Koga schüttelte den Kopf.

»Und Shaka Chang? Schon mal von ihm gehört?«

»Nein. Diesen Namen kenne ich nicht. Aber hier …« Er strich mit dem Handrücken über die Stelle auf der Karte, auf die Max gezeigt hatte. »Ist das der Ort, wo das Ungeheuer wohnt? Unter der Erde. Der böse Ort?«

Max hatte versucht, seine Angst zu verbergen, aber nun sah er, dass auch !Koga damit zu kämpfen hatte. Er zwang sich für seinen Freund zu einem Lächeln.

»Das Gute an der Angst ist immerhin, dass sie einen vorsichtig macht.«

»Ich würde lieber keine Angst haben«, sagte ! Koga.

 

Bei Einbruch der Dunkelheit erreichten sie ein höher gelegenes Gelände, ein kleines Plateau von etwa hundert Quadratmetern. Der Horizont verfärbte sich von leuchtend rot über gold bis zu dunkelblau, und gleich darauf herrschte stockfinstere Nacht und machte die Hitze und Härte des Tages vergessen. Max lag auf dem Rücken, die Milchstraße schien zum Greifen nah. So viele Sterne und Planeten gab es, so viele Universen und Welten, und er musste ausgerechnet hier in dieser Welt landen, die er kaum noch durchschaute. Doch als etwa einen Kilometer entfernt die Lichter im Fort angingen, war wenigstens eine Frage beantwortet: Es gab dort Strom. Das hieß, sie hatten einen Generator. Da sie keine Sonnenkollektoren hatten, mussten sie über eine andere Stromquelle verfügen. Der Fluss war zu ruhig. Woher sonst konnte die Energie kommen? Dieselgeneratoren waren noch eine weitere Möglichkeit, aber davon hätte man bei der riesigen Anlage sehr viele gebraucht, und von ihrem typischen Summen war nichts zu hören.

Als er aufwachte, stand der Mond hoch am Himmel, und der frühe Morgen wärmte bereits die Luft. ! Koga war schon wach, er hockte auf der Erde, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und sah zu der schwarzen Grube in der Ferne hinüber. Max rieb sich mit beiden Händen kräftig das Gesicht, um die Müdigkeit endgültig zu vertreiben.

»Du hättest mich wecken sollen«, sagte er.

!Koga erwiderte lächelnd: »Wir haben den ganzen Tag. Wir müssen nicht immer hetzen. Wo gehen wir heute hin? Zum schrecklichen Fort?«

»Noch nicht«, sagte Max und wandte sich ab, denn er fürchtete, wenn er ! Koga nun erklärte, was er herausgefunden hatte, würde der Junge ihn nicht begleiten wollen. Und Max brauchte jetzt dringend einen Freund an seiner Seite.

Eine Stunde später bestätigte ihnen der üble Geruch, den die Vegetation um den Rand des gewaltigen Einschlagtrichters verströmte, dass sie sich dem Atem des Teufels bis auf hundert Meter genähert hatten. Auch wenn sie noch nicht in die Tiefe blicken konnten, schien das Loch jeden verschlingen zu wollen, der so dumm war, sich zu nahe heranzuwagen. Der Boden war mit glitschigem Zeug bedeckt, das an Seetang erinnerte. Das Loch musste ein Geysir sein, und die brachen normalerweise in regelmäßigen Abständen aus. Die Frage war nur, wann? In den letzten Stunden, während sie schliefen, war es nicht passiert, aber das feuchte Gras und Moos war am Tag zuvor nicht getrocknet, also musste der Geysir mindestens zweimal täglich ausbrechen.

Max wünschte, er hätte in Mathe und Physik besser aufgepasst. Diese Fächer waren ihm so unwichtig vorgekommen, als er aus dem Klassenzimmer auf die Moore von Devon hinausgesehen und von anderen Dingen als trockenen mathematischen Formeln geträumt hatte. Sein Vater war beim Anblick seiner schlechten Noten oft verzweifelt, und immer wieder hatte Max ihm versprochen, sich mehr Mühe zu geben. Die Mathematik helfe einem, natürliche Muster und Strukturen zu verstehen, hatte sein Dad ihm erklärt. Wer sich mit Mathe und Physik auskennt, verstehe auch die meisten anderen Dinge, zum Beispiel Sprache, Musik und Kultur. Und Geysire, dachte Max jetzt. Nun, er ließ sich lieber etwas zeigen, nicht bloß erklären. Deswegen begleitete er seinen Vater so gern auf seinen Exkursionen und ließ sich von ihm vorführen, wie die Dinge funktionierten. Außerdem konnte ihm Sayid in der Schule helfen, wenn es beim Büffeln für Klausuren einmal eng wurde. So dumm war er ja gar nicht, nur faul. Es gab viel zu viele andere Dinge zu tun – da stand die Schule nur im Weg. Aber jetzt hätte er ein bisschen Mathe und Biologie gebrauchen können, um auszurechnen, in welchen Abständen der Geysir in diesem ungeheuren Loch ausbrach, denn davon konnte sein Leben abhängen. Und auf die praktische Erfahrung konnte er diesmal gerne verzichten.

»Warte hier«, sagte er zu !Koga. »Ich geh mal etwas näher heran.«

»Das halte ich für keine gute Idee.« !Koga murmelte noch etwas, was Max nicht verstand, und hielt ihn am Arm fest, sodass er nicht weitergehen konnte.

»Ich muss so viel sehen wie möglich, bevor es richtig hell wird. Hier gibt es nicht viel Deckung; und sieh dir diese Wasserlöcher an, da kommen bestimmt Tiere zum Trinken. Ich gehe jetzt, und dann sehen wir uns nach einem Versteck um«, erklärte Max.

»Wir dürfen nicht hier sein«, beharrte !Koga. »Ich habe ein schlechtes Gefühl, Max. Du kannst das nicht verstehen.«

»Ich verstehe eine ganze Menge nicht, aber ich muss mir das ansehen. Bleib hier«, erwiderte er.

Er wand sich aus ! Kogas Griff und schlüpfte vorsichtig zwischen den Felsbrocken hindurch. Die feuchte Erde schmatzte unter seinen Füßen. Je weiter er vordrang, desto deutlicher wurde, dass das Loch viel größer war, als er es sich vorgestellt hatte. Um den Rand des Kraters ragten schartige Vorsprünge wie lange Zähne aus dem felsigen Untergrund. Noch war es nicht hell genug, um zu erkennen, wie tief das Loch war, aber die Schatten endeten jedenfalls in völliger Finsternis.

Da nahm er eine Bewegung hinter sich wahr. Das Herz schlug ihm an die Rippen und beruhigte sich erst wieder, als er !Koga erkannte.

»Tu mir einen Gefallen, ! Koga. Das nächste Mal sagst du etwas, wenn du dich an mich ranschleichst, ja? Ich hab mich fast zu Tode erschreckt.«

»Du wirst dich noch mehr erschrecken, wenn das Ungeheuer dich auffrisst.«

»Wenn du solche Angst hast, warum bist du mir dann nachgegangen?«

»Weil ich dich beschützen soll.«

Max fühlte sich beschämt. Der Junge hatte seine Angst überwunden, um seine Pflicht zu erfüllen. Jetzt blieb Max nichts anderes übrig, als eine möglichst tapfere Miene aufzusetzen und seine eigene Angst zu unterdrücken. Er lächelte. »Da ist kein Ungeheuer, ich versprech’s dir, ! Koga. Das ist nur ein Geysir. Da unten baut sich Druck auf, der Wasser aus dem unterirdischen Fluss nach oben schießen lässt, und ich vermute, dass man das auch im Fort als Energiequelle nutzt. Ein Wasserkraftwerk. Ähnlich wie der große Damm, den man in den Bergen errichtet hat. «

!Koga sah ihn so verständnislos an, wie er wohl selbst immer dreingeschaut hatte, wenn Mr Lewis, der Mathelehrer, etwas zu erklären versuchte, das ihm nicht in den Kopf wollte. Aber bevor er dazu kam, sein eigenes beschränktes Wissen über Wasserkraftwerke darzulegen, begann auf einmal die Erde zu beben. Es geschah so plötzlich, dass sie wie erstarrt stehen blieben. Sie fuchtelten mit den Armen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, weil das Zittern des Erdbodens ihnen die Kraft aus den Beinen sog. Und mit dem Beben kam ein Grollen aus der Tiefe des bodenlosen Lochs. Max hielt !Koga fest, während sie sich beide mit dem Rücken an einen Felsblock pressten, um nicht umzufallen. Gurgelnd und zischend stob Dampf gut zwanzig Meter aus dem Loch hervor und durchnässte alles im Umkreis von fünfzig Metern. Der Nebel fiel wie Tau herab. Schon ließ der Wasserdruck nach, und die Dampfsäule fiel geräuschvoll in sich zusammen. Der Ausbruch hatte weniger als dreißig Sekunden gedauert, aber die Kraft, die da unter der Erde wirkte, schüttelte nicht nur die Knochen, sondern auch die Nerven gehörig durcheinander.

Die Plötzlichkeit des Ausbruchs und die unmittelbar darauf eintretende Stille hatten sie betäubt. Es dauerte eine Weile, bis das Pfeifen in ihren Ohren nachließ. Max zupfte ein schleimiges Gebilde von ! Kogas Kopf, ein zerfetztes Pflanzenteil, und hielt es ihm hin.

»Geschenk vom Ungeheuer«, sagte er, aber darüber konnte !Koga nicht lachen. Ohne den Krater aus den Augen zu lassen, wich er langsam zurück.

» ! Koga, alles in Ordnung. Ehrlich. Der tut uns nichts.«

Max’ Freund blieb stehen und schüttelte den Kopf. »Wir müssen weg von hier. Das war eine Warnung. Wir sind hier nicht willkommen. Das ist ein böses Zeichen. Genau, wie mein Vater gesagt hat: Das ist ein böser Ort.«

Max wusste, gegen einen so tief verwurzelten Glauben an Naturgeister konnte er mit Argumenten nichts ausrichten. Und er würde sich niemals über so starke Gefühle lustig machen. Seine bisherigen Erfahrungen hatten ihn gelehrt, dass die Geheimnisse der Buschmänner und ihre Einsichten in die Natur alles übertrafen, was ihm jemals untergekommen war. Er fügte sich seinem Freund und wies auf ihren Ruheplatz, von wo aus sie einen guten Überblick hatten.

»Komm, gehen wir wieder da rauf.« Er wandte sich ab, aber !Kogas Hand hielt ihn zurück.

»Warte! Du hast doch etwas vor.«

Max nickte. Es gab keinen richtigen Zeitpunkt, um !Koga von seinem Plan zu erzählen, also konnte er es genauso gut jetzt tun. Aber die Scheu, seinen Freund zu verängstigen, ließ ihn nicht los. »Es könnte sein, dass mein Vater in diesem Fort ist. Wenn nicht, wissen die Leute da drin vielleicht, was ihm zugestoßen ist. Ich bin mir sicher, dort wenigstens ein paar Hinweise zu erhalten.«

Er ließ den Blick über die Landschaft schweifen. In einer Stunde würde die Sonne vom Himmel brennen, und dann wäre es schwierig, Schutz zu finden, und zwar nicht nur vor der Hitze, sondern auch vor wachsamen Blicken.

»Max, wenn dein Vater dort ist, wie sollen wir da reinkommen? Die Männer im Fort sind womöglich dieselben, die uns angegriffen haben. Sie haben nach uns gesucht, und wir sind ihnen entkommen; und jetzt willst du bei ihnen anklopfen. Heißt das, wir geben auf?«

»Nein. Wir kommen auch so hinein. Es gibt einen Geheimgang, der in die Festung führt. Jedenfalls nehme ich das an. Komm, ich zeig’s dir.«

Er wandte sich dem Loch zu und hoffte, dass !Koga ihm folgte. Als er den Rand des Abgrunds erreichte, blieb er ein paar Meter entfernt davon stehen; das Gefälle machte ihn nervös, obwohl der Felsboden ihm einigermaßen sicheren Halt bot. Er drehte sich um. !Koga kam ihm ängstlich nach, vorsichtig wie ein Tier, das sich zum Trinken einem gefährlichen Wasserloch nähert. Aber er ging weiter, bis er Max erreicht hatte. Max streckte ihm eine Hand entgegen – wie ein furchtsames Schulmädchen, dachte er. Gleichzeitig wollte er aber ! Koga damit zeigen, dass er ebenso große Angst hatte, allein noch näher an die Kante heranzutreten. Sie stützten sich gegenseitig, schoben sich schwankend weiter nach vorn und starrten schließlich in einen bodenlosen Schlund, dessen Wände mit scharfkantigen Felszacken übersät waren.

Ein grässlicher Gestank waberte ihnen feindselig entgegen. Mit zischendem Flüstern lockte das unsichtbare Wasser sie zu sich heran. Macht noch einen Schritt, seht euch an, was da unten ist, wie tief ihr stürzen werdet. Max schob sich wie hypnotisiert bis an die äußerste Kante vor, den Blick fest auf das kalte schwarze Auge unter ihm gerichtet, dort wo das Licht endete und etwas völlig Unbekanntes begann. Das Loch war mindestens vierhundert Meter tief. Eine solche Wassermenge konnte, wenn der Druck ausreichte, einen Doppeldeckerbus zum Mond schießen. Aber was hielt diese geballte Kraft zurück? Wie kam es, dass das Wasser scheinbar niemals in großen Mengen an die Oberfläche stieß? Die ganze Gegend hier hätte eigentlich ein Sumpfgebiet sein müssen.

Max war so konzentriert, dass ! Koga fürchtete, er wolle in den Abgrund springen. Er flüsterte Max’ Namen.

Max drehte sich um und sah ihn an. »Folge mir. Ich glaube, ich weiß nun, was wir zu tun haben«, sagte er grimmig.

Die beiden hockten jetzt auf der anderen Seite des Kraters und beobachteten, wie die Sonnenstrahlen in der Tiefe verschwanden. Selbst wenn im Fort jemand Wache schob, was eher unwahrscheinlich war, bestand keine große Gefahr, dass sie entdeckt wurden. Nicht aus dieser Entfernung, zumal jedem Beobachter im Fort die Sonne direkt in die Augen scheinen würde. Max zeigte nach unten. In etwa sechzig Metern Tiefe war ein zweites, kaum erkennbares Loch auszumachen, das aussah wie ein Höhleneingang. Es hatte ungefähr einen Durchmesser von fünf Metern. Drumherum waren in der Felswand ein Dutzend kleinere Löcher zu erkennen, keins davon breiter als einen Meter.

»Ich vermute, das ist der unterirdische Gang«, sagte Max und zeigte auf den Höhleneingang.

»Das kannst du nicht wissen. Das ist nicht sicher.«

»Richtig. Aber sieh dir das an.« Max schlug die hydrologische Karte auf. Die dünne, fast wie zufällig wirkende Linie, die sich vom Atem des Teufels zum Fort schlängelte, konnte gar nichts anderes sein als der Tunnel, dessen Eingang da unten vor ihnen lag. Das jedenfalls versuchte Max sich einzureden. »Ich nehme an, wenn das Wasser hochschießt, wird es auch in diesen Gang gepresst – und der Druck reicht bestimmt aus, um eine Turbine in der Nähe der Festung anzutreiben.«

!Koga schien unsicher. Er kannte die Kraft des Wassers bei Sturzfluten. Er hatte gesehen, wie Felsbrocken, größer als Elefanten, flussabwärts gerissen wurden, aber was Max ihm hier beschrieb, verstand er nicht. Er nickte, um nicht ahnungslos zu erscheinen in einer Sache, die für seinen Freund offenbar selbstverständlich war.

Max kratzte sich am Kopf und betrachtete den Dreck, der sich unter seinen Fingernägeln gesammelt hatte. »Jedenfalls glaube ich, dass es so funktioniert. Das nennt man Kammerdruck, wenn ich nicht irre. Hätte ich doch bloß in Physik besser aufgepasst!«

!Koga war erleichtert, dass nicht alles so einfach war, wie es schien, und fühlte sich ermutigt, die Sache noch genauer zu hinterfragen. »Und diese anderen Löcher?«

»Äh … ja. Weiß nicht genau, wahrscheinlich eine Art natürliches Entlüftungssystem. Ich denke, der Druck ist so stark, dass das Wasser, wenn es hochschießt, in dieses große Loch eindringt, und durch die kleineren Löcher kann der Druck dann wieder entweichen, oder aber …« Max wusste nicht mehr weiter. Er sah !Koga an, der jetzt zum ersten Mal lächelte.

»Du weißt es nicht.«

»Nicht hundertprozentig. Ich schätze, es geht irgendwie darum, den ursprünglichen Druck wieder abzuschwächen.« Er verstummte und dachte: Mein Dad wüsste das bestimmt.

Beide schwiegen. ! Koga traute dem Ungeheuer immer noch nicht ganz; ab und zu legte er eine Hand auf den Boden, als fühle er nach dem Puls des Wesens, das da tief unter der Erdoberfläche lauerte, und als könne er so das Herannahen des nächsten Ausbruchs ertasten. Es war Zeit zu schweigen. Wie bei Jägern, die sich an ihre Beute heranschlichen. Die konnten stundenlang warten und verständigten sich nur mit unauffälligen Handzeichen. Geduld war das Wichtigste. Jetzt wartete !Koga. Max würde zu einer Entscheidung kommen. Er war der Anführer, das wusste !Koga seit diesem Vorfall im Dorf; und dass Max ein wenig von dem Ungeheuer verstand, hatte ihn ebenfalls beeindruckt. Also wartete er, erinnerte sich daran, wie er in früheren Situationen seine Angst besiegt hatte, und wusste, dass ihm das auch diesmal wieder gelingen würde.

Schließlich sagte Max: »Es sieht nicht so aus, als ob das Ding sehr bald wieder ausbricht. Wahrscheinlich erst gegen Abend. Ja, das klingt irgendwie vernünftig. Zweimal am Tag. Morgens und abends.« Es hörte sich an, als versuche er, sich selbst zu überzeugen.

»Wir gehen da runter?« !Koga hoffte, dass seine Stimme nicht allzu ängstlich klang.

Max schüttelte den Kopf. Er hatte seinen Entschluss bereits gefasst. »Ich gehe allein.«

!Koga sprang auf. »Nein! Ich habe keine Angst!«

»Das hat auch niemand behauptet. Aber ich habe Angst, nur dass ich in den letzten Wochen sowieso schon mehr Angst hatte als in meinem ganzen Leben. Da kommt es auf einmal mehr oder weniger auch nicht an.«

»Ich lasse dich nicht alleine gehen! Mein Platz ist an deiner Seite!«

»Aber ich kann nicht riskieren, dass wir beide verletzt oder gefangen werden. Das darf nicht passieren, ! Koga, nicht jetzt, nachdem wir diesen ganzen Mist durchgemacht haben.«

!Koga verstummte und schüttelte langsam den Kopf. Er dachte an die Vorwürfe, die seine Leute ihm machen würden. Wenn Max das nicht überlebte, würden sie ihn dafür verantwortlich machen.

Max legte ihm eine Hand auf die Schulter. » ! Koga, du wirst immer bei mir sein. Ich trage deine Freundschaft in mir. Aber für dich habe ich eine andere Aufgabe.« Max schlug das Messtischblatt seines Vaters auf. »Du erinnerst dich an den Ort, wo die Erde blutet? Die Zeichen, die mein Vater auf seiner Karte eingetragen hat? Dort, wo Buschmänner gestorben sind? Und diese anderen Zeichen, die stehen für weitere Orte, die mein Vater gefunden hat. Und das hatte er melden wollen. Ich weiß schon, als Beweis reicht das noch nicht, aber das ist nun mal alles, was wir haben. Mein Vater war an diesen Orten … deswegen!« Er hielt die kleinere hydrologische Karte hoch. »Er hat herausgefunden, was deine Leute getötet hat. Vielleicht gibt es noch viel mehr, was wir nicht wissen. Ich bin überzeugt, dass er irgendwo weitere Beweise versteckt hat, handfeste Beweise, irgendetwas Konkretes, das niemand abstreiten kann. Aber zuerst muss ich ihn finden, und du musst gehen.« Er sah in den senkrechten Schlund hinab. »Bis zu dem Eingang werde ich ja wohl klettern können, und dann bin ich in ein paar Stunden unter dem Fort. ! Koga, mach es mir nicht schwer, ich brauche dich! Du musst Dads Karte zur Polizei bringen.«

»Zur Polizei?«

»Du hast gesagt, nur wenige Tagesmärsche von hier ist ein Polizeiposten. Da gehst du hin, aber du gibst ihnen nicht die Karte, sondern das hier.« Max löste seine Armbanduhr. Die alte Uhr aus rostfreiem Stahl hatte sein Vater getragen, als er vor zwanzig Jahren den Mount Everest bestiegen hatte, und er hatte sie Max zum zwölften Geburtstag geschenkt, als er auf die Dartmoor High gekommen war. Auf der Rückseite prangte eine Gravur: Für Max. Nichts ist unmöglich. Dad.

Er befestigte die Uhr an !Kogas Handgelenk. »Du gibst der Polizei diese Uhr. Damit beweist du ihnen, dass du mich gesehen hast. Sag ihnen, du weißt, wo der Sohn des vermissten weißen Mannes ist. Aber sag ihnen nicht, wo ich bin. Sie sollen sich mit Kallie van Reenen in Verbindung setzen. Sie soll kommen. Und ihr gibst du die Karte. Erzähl ihr, was wir herausgefunden haben. Sie wird wissen, was zu tun ist. Du musst das tun, ! Koga – um uns alle zu retten.«

Max war sich bewusst, dass sein Dad etwas Ähnliches von !Kogas Vater gewollt hatte. Er hatte die Buschmänner zu van Reenens Farm geschickt, um seine Aufzeichnungen in Sicherheit zu bringen, während er seine Suche fortsetzte. Das Schicksal hatte alle zusammengebracht – Max, !Koga und Kallie. Nun schwebten sie alle in großer Gefahr.

Aber Max fühlte sich stark. Er kam jetzt seinem Vater näher – das wusste er –, und das trieb ihn an. »Ich gehe los, wenn die Sonne noch ein Stück weitergewandert ist, dann habe ich da unten ein bisschen Schatten. Schätze, das wird eine nette Kletterei!« Eine nette Kletterei? Wie es aussah, würde die Aktion all seine Kräfte erfordern. Und er würde sein ganzes Geschick aufbieten müssen, um den richtigen Weg nach unten zu finden.

Sie verabredeten, dass ! Koga bis zum Einbruch der Dunkelheit warten sollte, denn erstens kam er dann schneller voran, und zweitens bestand kaum Gefahr, dass er entdeckt wurde. Aber nachts fühlten sich Buschmänner im Freien nicht wohl. Zu dieser Zeit scharten sie sich am liebsten um ein Feuer. Dort kochten und aßen sie, tanzten und erzählten sich Geschichten von Jagdabenteuern, von Göttern, die Tiere waren, und von Sternen, die Liebende waren. Wärme und Trost des Feuers gehörten so sehr zu ihrem Leben wie die aufgehende Sonne und der Mond, der sie vertrieb. !Koga würde allein durch die feindselige nächtliche Wildnis wandern müssen. Zur Orientierung konnte er sich nur auf sein Gedächtnis verlassen, aber der Nachthimmel würde ihm den Weg weisen, und das Mondlicht konnte ihn vor wandelnden Schatten warnen.

Er würde es tun, damit Max Gordon, der Junge von den alten Höhlenzeichnungen, ihm helfen konnte, sein Volk zu retten.

Und weil der weiße Junge sein Freund war.

 

Zwei Stunden später machte Max sich an den Abstieg. !Koga hatte sich zwischen die Felsen am Rand des Kraters verzogen. Von dort konnte er Max beobachten, und wenn er den Höhleneingang erreicht hatte, würde er selbst zu dem kleinen Plateau zurückkehren, wo sie letzte Nacht geschlafen hatten. Dort gab es Schatten, und er konnte ausruhen, bevor er seine Reise durch die Dunkelheit antrat.

Max hatte schon zwanzig Meter geschafft und klammerte sich mit der rechten Hand hoch über seinem Kopf an einer schmalen Ritze fest, während er mit beiden Füßen nach Halt suchte. Die Bänder und Sehnen in seiner rechten Schulter waren zum Zerreißen gespannt, und um sie etwas zu entlasten, krallte er die linke Hand um einen winzigen Vorsprung in der rauen Felswand. Er holte mit den Beinen aus und schwang sich einen halben Meter nach links – ein sehr gefährliches Manöver. Seine Finger rutschten ab, auch die rechte Hand löste sich, und sein Magen krampfte sich zusammen, als er plötzlich abstürzte.

»Max!«, schrie !Koga.

Max hatte sich bei dem Sturz die Knie und die Innenseite seines Arms aufgeschrammt, aber er war nicht sehr tief gefallen, höchstens einen halben Meter. Es hatte sich nur weitaus schlimmer angefühlt, als es war. Ohne nach oben zu sehen, rief er !Koga beruhigend zu: »Alles in Ordnung! Nichts passiert!«

Er brachte seine Atmung wieder unter Kontrolle und sprach sich leise Mut zu: »Es geht doch. Ich komme voran. Kein Grund zur Panik. Nur ein kleiner Ausrutscher. Was regst du dich so auf? Trottel!«

!Koga hockte sich wieder hin, sein Herz hämmerte laut.

Beim Klettern, egal ob aufwärts oder abwärts, kommt man irgendwann in einen gewissen Rhythmus hinein, und Max hatte jetzt sein Tempo gefunden. Die Felswand war freundlich zu ihm, und die nächsten zehn Meter schwang und stieß er sich mit festem Griff und zügigen Bewegungen hinab. Die Schürfwunden brannten, aber das Adrenalin spülte den Schmerz aus seinen Gedanken. Er fühlte sich gut, und unter sich sah er jede Menge scharfkantige Vorsprünge im Gestein, die ihm weitere Haltepunkte boten. Und immer wieder gab es mit Moos und Flechten bewachsene Stellen, an denen er sich kurz ausruhen und seinen Rücken entlasten konnte, während er sich auf den nächsten Schritt nach unten vorbereitete. Alles war mit einem feuchten Glanz überzogen, der ihn an seine Heimat Devon erinnerte. Wenn er zu Hause in den Steinbrüchen kletterte, um sich auf die schwierigeren Partien in Schottland vorzubereiten, waren die Wände auch meistens feucht, nur dass er dort nie ohne Sicherheitsleine unterwegs war. Und in einem mit Felsbrocken übersäten Steinbruch war es auch nur vernünftig, mit Leine zu klettern. Aber hier war es anders, hier brauchte er sich darum keine Sorgen zu machen, scherzte er mit sich selbst. Wenn er hier abstürzte, landete er ja nur ein paar Hundert Meter tiefer im Wasser, auch wenn das aus dieser Höhe in etwa das Gleiche wäre, als ob er auf Beton prallen würde. Nicht daran denken. Wahrscheinlich würde ihn bei einem so tiefen Sturz schon der Schock töten, bevor er überhaupt unten angekommen war. Am besten stellte man sich einfach vor, man wäre mit einer Leine gesichert. Na bitte, er hatte schon wieder fünf Meter geschafft, ohne darüber nachzudenken.

Die Zeit verdichtete sich zu Sekunden – auf jeden einzelnen Zentimeter seines Abstiegs konzentriert, konnte er sich längere Aufmerksamkeitsspannen gar nicht leisten, aber eine Stimme in seinem Kopf sagte ihm, dass er wahrscheinlich schon mehr als eine Stunde in dem Felsschacht hing. Die Sonne war weitergewandert und stand jetzt fast senkrecht über ihm, und ihm fehlten immer noch dreißig Meter. Er verkantete seine Hand in einer breiteren Ritze und ruhte erst einmal aus. Mit der freien Hand wischte er sich Schweiß und Schmutz von den Augen. Dass er Pfeil und Bogen mitgenommen hatte, erwies sich jetzt als Fehler, denn sie gerieten ihm jedes Mal in die Quere, wenn er sich mit dem Rücken abstützen wollte. Er fluchte. Er hätte die Sachen bei ! Koga lassen sollen. Aber egal. Noch eine Stunde – höchstens – in diesem Tempo, und er würde in den Höhleneingang hineinschwimmen können.

Jetzt steckte er fest. Er konnte sich nicht weit genug drehen, um den nächsten Halt zu fassen zu bekommen. Der Bogen, den er um die Schulter trug, hatte sich irgendwo verhakt. Er musste ihn loswerden. Sein Handgelenk schmerzte höllisch, so sehr verdrehte er es bei dem Versuch, sich auf die andere Seite herüberzuschwingen. Eine Wange ans Gestein gepresst, rang er nach Luft; mit dem freien Arm griff er hinter sich, packte den schlanken Bogen und zog ihn sich wie ein Verrenkungskünstler über Kopf und Schulter.

Ein kleiner Triumph, und sosehr ihm die handgeschnitzte Waffe auch ans Herz gewachsen war, er streckte jetzt die Hand aus, um sie fallen zu lassen. Als er dazu ein wenig sein Gewicht verlagerte, gab der Fels, in den er sich mit der anderen Hand gekrallt hatte, nach. Das feuchte Gestein bröckelte, und er stürzte ab.

Er hatte kaum Zeit zu schreien. All seine Reflexe wurden aktiviert, und zig Millionen Berechnungen führten nach einer Millisekunde dazu, dass sein Arm nach vorne schoss und die Hand, die den Bogen hielt, gegen den Fels schlug. Die Bogensehne verhakte sich an einem Vorsprung und stoppte seinen Fall. Er hing senkrecht nach unten, sein Rücken scheuerte an der Wand. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihn, und er dachte schon, er stürze weiter ab, denn die aufs Äußerste gespannte Sehne schien kurz davor, das elastische Greviaholz des Bogens zu knicken. Er konnte nur darauf vertrauen, dass der Bogen sein Gewicht noch ein paar Sekunden hielt. Er packte ihn mit beiden Händen und zog sich ein Stück hinauf. Offenbar hatte er sich einen Muskel gezerrt, vielleicht auch eine Rippe angeknackst oder gebrochen. Der Schmerz schnürte ihm die Luft ab. Er hielt sich fest, so gut es ging, zog sich ein letztes Mal an dem Bogen hoch und tastete mit den Füßen unter sich umher.

Als der Bogen schließlich nachgab und brach, hatte er tatsächlich einen Halt gefunden. Sein Mut verließ ihn so schnell wie der Bogen, der unter ihm in der Tiefe verschwand. Max klammerte sich verzweifelt fest, kniff die Augen zu und zwang sich, nicht aufzugeben. Jetzt war keine Zeit mehr für flapsige Sprüche, keine Scherze mehr mit seiner inneren Stimme. Die Welt ging unter, und er war vor Panik erstarrt.

Der Sturz hatte ihn bis zehn Meter über den Tunneleingang befördert. In seinem Kopf tobte alles durcheinander und schrie, dass er nachdenken solle. Er war mindestens fünf Meter tief gestürzt, nein, eher mehr, hatte aber keine ernsthaften Verletzungen erlitten – sein ganzer Körper schmerzte, aber er lebte noch. Durchhalten. Fast geschafft. Reiß dich zusammen und mach weiter. Halt die Augen offen. Mach sie auf!

Jemand rief nach ihm. Seine Ohren weigerten sich, dieses Flüstern aus der Ferne wahrzunehmen. Konzentriere dich auf die Stimme. Hör genau hin. Die Stimme. Wer schrie da? ! Koga. Sein schwindendes Bewusstsein senkte sich wie eine dunkle Wolke auf ihn herab. Wenn er nun ohnmächtig wurde, war er erledigt. Er war jetzt im Schatten, und die kühle Luft half ihm, wach zu bleiben. Was schrie ! Koga da? Warum trampelte er so wild auf dem Boden rum? Um Gottes willen, sei still, !Koga! Ich bin verletzt, schrie er, aber aus seinem Mund kam kein einziger Ton.

!Koga kreischte seinen Namen, als er ihn in die Schatten stürzen gesehen hatte. Er konnte gerade noch erkennen, wie Max sich in Zeitlupe hin und her wand, nach Halt tastete, noch weiter abrutschte und einen Arm hochriss, wie die Bogensehne sich verfing, der plötzliche Ruck, das Knacken des Bogens, und wie Max dann seinen zerschundenen und blutenden Körper an den Felsen drückte. Aber ! Kogas Schreie verhallten ungehört. Und der Grund dafür war nicht Max’ Ringen, bei Bewusstsein zu bleiben, sondern das Beben der Erde und das Tosen der Luft, die aus der Höhle des Teufels aufstieg.

Als !Koga über den Rand in das Antlitz des Bösen hinabspähte, schlug ihm ein übler Gestank und ein Dampfschwall entgegen, hinter dem die darunter aufschießenden gewaltigen Wassermassen nicht zu sehen waren.

Der Dunst quoll ihm entgegen, noch wenige Sekunden, und der Nebel umhüllte Max, bevor das Wasser ihn verschlingen würde. Die Panik machte ! Koga blind für die Gefahr, in der er selbst schwebte. Sein Freund war verletzt, gleich würde er sterben, und er konnte ihm nicht helfen. Er schrie Max’ Namen, aber sein Schrei drang nicht durch das Getöse. Der Nebel hatte ihn fast erreicht.

Entsetzt musste er noch mit ansehen, wie Max’ Hand von dem feuchten Gestein abrutschte, wie er rücklings und mit ausgebreiteten Armen abstürzte und ihm dabei direkt in die Augen sah.

Und dann war Max in dem Chaos da unten verschwunden. Verschlungen von dem Ungeheuer, von dem !Koga schon immer gewusst hatte, dass es existierte.