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Im Nordwesten des Tals der Toten, hinter einer roten Dünenlandschaft, die sich bis zur Küstenlinie erstreckte, verhinderte dichter Atlantiknebel alle Flüge, die Kallies Dad für die nächsten Stunden geplant hatte. Irgendwann würden sich die Schleier auflösen, doch insgeheim waren die Teilnehmer der Vogelbeobachtungssafari dankbar für diese kleine Erholungspause von der sengenden Sonne.

Ferdie van Reenen war ein großer, kräftiger Mann mit struppigem Bart und einem Gesicht, dem man ansah, dass er in jungen Jahren geboxt hatte. Er hatte viele Kämpfe ausgefochten, Überschwemmungen und Dürren auf seiner Farm überstanden, doch sein größter Schmerz stand ihm noch bevor, wenn eines Tages seine Tochter Kallie erwachsen werden und von zu Hause fortgehen würde.

Heute sollte er seine Kunden nach Norden fliegen, an den Kunene-Fluss nahe der angolanischen Grenze. Ein Kinderspiel für die zweimotorige Beechcraft Baron, die eine Reichweite von fünfzehnhundert Kilometern hatte. Kallie hatte ihn mit neuen Vorräten versorgt. Er war wie immer gut auf die bevorstehende Reise vorbereitet. Und seine Tochter hatte ihm von Max und !Koga berichtet.

Van Reenen sicherte das volle Gepäcknetz im Heckraum seiner Maschine. Seine Stimme, rau wie Leder, fiel auch wegen ihres Dialekts auf, einer Mischung aus Holländisch und Deutsch. »Das war ganz schön dumm, mein Mädchen. Wenn wir diesem Jungen helfen, handeln wir uns Ärger ein – du wirst es erleben!«

Kallie hakte den letzten Artikel auf der Lieferliste ab – sie führte immer genau Buch über die Konten der Farm. Es kursierte die Geschichte, ihr Vater hätte als Soldat bei der südafrikanischen Luftwaffe ein Hercules-Transportflugzeug mit dreihundert Knoten durch ein Nadelöhr steuern können, und zwar voll beladen, mit dem Flugzeugbauch nach oben. Doch heutzutage stellte das tägliche Geldverdienen für ihn eine weitaus größere Herausforderung dar, die ihn manchmal an den Rand der Verzweiflung brachte. So, wie es im Moment auch seine Tochter Kallie tat.

»Ach komm, hör auf zu meckern, Pa.«

»Hör auf zu meckern? Du fliegst nach Windhoek, du schickst ihn einfach mit meinem alten Landrover los, meinem Lieblingslandrover …«

»Pa, es ist der einzige Landrover, den wir haben.«

»Genau. Und den halte ich in Ehren. Aber darum geht’s doch gar nicht. Max ist noch ein Kind!«

»Er ist fünfzehn«, fiel sie ihm ins Wort.

»Ein Kind, sag ich doch!«

»Du hast mit fünfzehn ein Vierteljahr als Jäger im Busch verbracht, du hast fünfhundert Rinder für deinen Vater zusammengetrieben …«

»Es waren tausend Rinder. Aber ich bin doch kein Maßstab. Max ist ein englischer Schuljunge, der vermutlich noch nie für eine längere Zeit der Sonne ausgesetzt war. Der verbrutzelt doch da draußen! Und jetzt hat er sich zu dieser hirnrissigen Expedition aufgemacht, um seinen Vater zu finden, von dem niemand weiß, wo er steckt!« Verärgert zog Ferdie van Reenen das Seil straff. Kallie schwieg. Es hatte jetzt keinen Sinn, mit ihm zu streiten.

»Weißt du eigentlich, was passiert, wenn ihm etwas zustößt? Wir haben ihm geholfen. Wir haben ihn da rausgeschickt – vermutlich direkt in den Tod!«, ereiferte sich ihr Vater weiter.

»Ich hab ihn da rausgeschickt. Ich. Ich hab die Entscheidung getroffen.«

»Und das war die falsche!«

»Er hat Treibstoff, Wasser und Essen. Wenn er sich verirrt oder wenn’s Probleme mit dem Landrover gibt, kann er einen Funkspruch absetzen«, erwiderte sie.

»Mein Landrover ist sehr gut in Schuss. Aber darum geht’s nicht! Wir sind diejenigen, die vor Gericht gezerrt werden. Beihilfe zur Dummheit wird genauso bestraft wie Beihilfe zur gefährlichen Körperverletzung oder Beihilfe zur fahrlässigen Tötung oder Beihilfe zu sonst was! Vater vermisst! Sohn vermisst! Verstand meiner Tochter vermisst!«

Kallie holte tief Luft. Das Leben ihres Vaters war zugegebenermaßen schon aufreibend genug mit der Sorge um die Farm und seinem Safari-Unternehmen, das nur mit Ach und Krach über die Runden kam. Die Beechcraft hatte er mithilfe eines großen Kredits angeschafft, und jede kleine Panne, jede Flaute, konnte ihn bankrottgehen lassen.

»Pa …«, sagte sie und berührte sanft den Arm ihres Vaters, »du hast mir das Fliegen beigebracht, als ich zwölf war, ich komm jetzt schon eine ganze Weile allein klar … Glaub mir, dieser Junge wäre auch ohne meine Hilfe losgezogen. Und er wird schon zurechtkommen. Das ist ein zäher Bursche. Der ist nicht so, wie du denkst. Der Mann aus London hat angerufen und gefragt, ob ich Max helfen kann. Ich hab ihn abgeholt. Ich hab alles für ihn getan, was ich konnte. Er glaubt, dass sein Vater in Schwierigkeiten ist. Und ! Koga glaubt, der Große Gott hätte Max zu seinem Volk geschickt …« Kallie ging auf, dass sie sich um Kopf und Kragen redete. Sie verstummte.

»Der Buschmann war noch immer auf der Farm?«, fragte ihr Vater.

Kallie nickte.

»Er wollte bleiben, bis der blonde Junge kommt, der uns geschickt worden ist. Das waren seine Worte. Pa, du weißt doch, die haben in solchen Sachen einen sechsten Sinn. Was sollte ich denn machen? Nein sagen? Ihn wieder nach Hause schicken?«

Ihr Vater schlug den Jackenkragen hoch. Er hasste diesen feuchten Nebel. Und er hasste es, dass er jetzt nicht fliegen konnte. Seine Tochter aber liebte er, auch wenn sie sich ab und an geradezu leichtsinnig verhielt.

Er sah sie an, feine Dunsttröpfchen hingen in seinem Bart. Dann schüttelte er den Kopf.

»Nein. Er scheint ein tapferer Kerl zu sein.« Er küsste Kallie auf die Wange und hob mahnend den Zeigefinger.

»Aber sobald sich das Wetter bessert, fliegst du zurück auf die Farm. Genug ist genug, verstanden?«

Sie nickte, und er legte den Arm um sie. »Gut. Na, komm, spendier deinem alten Herrn mal eine Tasse Kaffee. Gott, wie ich dieses Wetter hasse.«

Kallie schlang ihren Arm um seine Taille, und sie gingen zusammen zu dem Gebäude am Rande des Flugfeldes. Sie wollte Max anfunken, um zu fragen, ob alles in Ordnung war. Sie hatte ihm helfen müssen, das war klar, aber jetzt fühlte sie sich wie die große Schwester dieses jungen Engländers. Und soweit sie wusste, gerieten kleine Brüder immer in Schwierigkeiten.

 

Ein Tiefdruckgebiet war vom Nordatlantik herangezogen. Es bewegte sich über Irland hinweg und entlud sich mit sintflutartigem Regen über der Küste von Devon.

Die Granitmauern der Dartmoor High trotzten den Elementen, doch wenn sich in den Hochlagen die Sturmwolken zusammenballten und die alte Schule ganz einhüllten, wirkten die langen und schwach beleuchteten Korridore mit einem Mal sehr unheimlich. Schatten bewegten sich, wo keine sein sollten.

Das bildest du dir alles bloß ein, dachte Sayid, während er durch den dunklen Flur schlich. Seit er Max die Nachricht geschickt hatte, dass Peterson wusste, wo er war, hatte er keinen Kontakt mehr zu seinem Freund gehabt. Und es hatte sich auch keine Gelegenheit ergeben, Peterson noch einmal zu belauschen. Deshalb hatte Sayid am Tag zuvor beschlossen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er brauchte ein bestimmtes Gerät, das er übers Internet bestellen konnte. Dafür war eine Kreditkarte erforderlich, und die konnte er sich nur von seiner Mutter besorgen.

Sayid war nach strengen Wertvorstellungen erzogen worden. Diebstahl und Unehrlichkeit waren nach den Richtlinien seiner Mutter und seines verstorbenen Vaters verabscheuungswürdige Verbrechen. Sayid musste seinerzeit das Wort verabscheuungswürdig sogar im Wörterbuch nachschlagen, um zu begreifen, wie ernst seinen Eltern die Sache war. Aber Sayid hatte einfach keine andere Wahl, als die Kreditkarte seiner Mutter heimlich zu benutzen. Seine Mutter hätte Max zwar auf jeden Fall helfen wollen, aber sie hätte auch nachgehakt, wozu Sayid gerade dieses Gerät brauchte, und dann hätte er ihr erzählen müssen, dass er plante, Mr Petersons Telefon anzuzapfen. Seine Mutter wäre ausgeflippt und Sayid hätte sich die Sache abschminken können. Ihm blieben sechs Wochen, bis seine Mutter die merkwürdige Abbuchung auf ihrer Kreditkartenabrechnung entdecken würde, also müsste er sich auch erst dann den Kopf über die möglichen Folgen zerbrechen. Bis dahin war sein Freund hoffentlich schon wieder zurück und in Sicherheit.

Sayid hatte selbstverständlich auch andere Möglichkeiten in Erwägung gezogen und sogar bereits versucht, sich in Petersons Computer einzuhacken, aber das hatten die Granitmauern und Petersons Firewall verhindert.

Er schob sein schlechtes Gewissen wegen der Kreditkarte beiseite. Es ging nicht anders. Nicht, wenn er seinem Freund helfen wollte. Er musste unbedingt herauskriegen, wem Peterson Bericht erstattete und dies dann an Max und Farentino weiterleiten.

Aber zunächst ergab sich das Problem, wie er in Petersons verschlossenes Zimmer kommen sollte.

 

Shaka Chang konnte sich alles kaufen, was sein Herz begehrte, aber er kam nicht an die Informationen von Tom Gorden heran. Der Wissenschaftler hatte Chang ein Schnippchen geschlagen und das Beweismaterial versteckt, das Changs Pläne ein für alle Mal zunichtemachen konnte. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass der Wissenschaftler nun keine Rolle mehr spielte. Tom Gordon würde keinem Menschen irgendetwas verraten können.

Doch Chang hegte eine widerwillige Bewunderung für diesen Jungen, der sich aus England aufgemacht hatte. Max Gordon konnte mit seiner Entschlossenheit ein größeres Hindernis darstellen als erwartet.

Er hatte geglaubt, wenn seine Männer Max und diesen jungen Buschmann in das Tal der Toten lockten, wäre damit die Sache erledigt, aber vielleicht war diese Annahme zu übereilt gewesen. Durch einen glücklichen Zufall könnte Max überleben, auch könnte ihm sein Vater verraten haben, wo jenes für Chang so verheerende Material zu finden war. Und es sollte nie unterschätzt werden, wozu jemand imstande war, der einen geliebten Menschen retten wollte.

Nicht dass Shaka Chang jemals geliebt worden wäre. Gefürchtet und gehasst, ja, aber niemals geliebt. Liebe war ein zu komplexes Gefühl, als dass er es wirklich durchschauen konnte, aber er hatte begriffen, dass es für andere eine große Antriebskraft war.

Slye, der nie vergaß, dass Shaka Chang jederzeit Herr der Lage sein wollte, murmelte, dass es vielleicht klüger wäre, sich zu vergewissern, ob der Junge in der Wildnis umgekommen war oder nicht. Chang gab ihm Recht.

»Schick sie noch mal los. Keine Ausreden. Entweder finden sie die Leiche des Jungen oder seine Überreste, wenn wilde Tiere ihn gefressen haben.«

»Und wenn sie ihn aufspüren und er tatsächlich noch lebt?«, fragte Slye. Die Antwort lag auf der Hand, aber er würde sich nie und nimmer erdreisten, ohne ausdrückliche Anweisung zu handeln.

»Dann wird er sofort getötet.«

»Von den Männern, die beim ersten Mal versagt haben? Soll ich denen den Befehl geben, den Jungen zu jagen?«

»Ja. Aber ihnen muss eine Lektion erteilt werden.«

Slye nickte. »Das ist sehr klug von Ihnen, wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf.«

Chang seufzte. Slyes schamlose Unterwürfigkeit war ihm eigentlich zuwider, doch genau das machte den Mann so wertvoll für ihn. Slye vereinte absoluten Gehorsam mit einer Gesinnung, die niederträchtiger nicht sein konnte. Für einen Moment betrachtete er den Körper seines Angestellten, der einem Wiesel ähnelte. Wenn Slye etwas fotogener wäre, würde er einen erstklassigen Politiker abgeben.

Der Mann, der die Jagd nach Max angeführt hatte, würde bekommen, was er verdiente, und die anderen würden dabei zuschauen müssen. Chang war überzeugt, dass notwendige Lektionen am besten nachdrücklich und vor Zeugen erteilt wurden. Schmerz schadet nie – das war sein Motto.

Er betrat den riesigen Balkon. Dreißig Meter unter ihm öffneten sich die Tore der Festung. Dieser Tag fing gut an. Wie jeden Morgen aß Chang zum Frühstück eine Schale voll gekühltem Obst. Ein saftiges Stück Melone zerging auf seiner Zunge. Mit der Gabel führte er das nächste Stück zum Mund und schaute genießerisch hinunter zu seinen geliebten Krokodilen am Fluss, die ihm die Wachhunde ersetzten. Er genoss es, sie zu verwöhnen, sodass er beschlossen hatte, den grässlichen Tieren zum Frühstück einen Leckerbissen zu bereiten.

Er sah zu, wie das kleine Motorboot zur Mitte des Flusses tuckerte. Die Krokodile, die auf den Sandbänken lagen, hoben die Köpfe.

Der Mann, der die Jagd auf die Jungen geleitet hatte, wurde von zwei seiner eigenen Männer kurzerhand über Bord geworfen. Hastig fuhren sie zurück, denn für die Krokodile wäre es ein Leichtes, ihr fünf Meter langes Boot zum Kentern zu bringen. Ein halbes Dutzend Echsen beobachtete interessiert den im Wasser wild um sich schlagenden, brüllenden Mann. Dann schwammen sie zu ihm …

Wie schön muss es sein, so begehrt zu sein, dachte Shaka Chang amüsiert und biss in eine reife Traube.

Er drehte sich zu Slye um: »Ich hoffe, die Krokodile verderben sich an ihm nicht den Magen – sie sind eine geschützte Tierart.«

Schließlich verstummten die grässlichen Schreie, und das aufgewühlte Wasser kam wieder zur Ruhe. Chang nickte einem Diener mit weißen Handschuhen zu: Jetzt durfte er ihm den Kaffee servieren. Ein leises Grollen war zu hören, sicher würde es bald ein Gewitter geben. Oder waren es die Mägen der Krokodile, die ihr Frühstück verdauten.

 

Ein wenig Wind, eine kühle Brise, selbst ein ausgewachsener Sturm wäre Max willkommen gewesen. Er und !Koga waren im Morgengrauen in Richtung der hohen Berge aufgebrochen, aber binnen weniger Stunden war die Temperatur bereits auf über vierzig Grad gestiegen. !Koga schätzte, sie könnten die Ausläufer des Gebirges bis zum Abend erreichen, wenn sie schnell genug gingen und Glück bei der Jagd hatten.

Max machte der Marsch schwer zu schaffen. Buschmänner jagten einen verwundeten Bock manchmal einen ganzen Tag lang, ehe sie ihn schließlich erlegten, doch Max japste bereits nach zwei Stunden völlig erschöpft nach Luft, und das, obwohl sie in gemäßigtem Tempo gingen.

Er hatte unbedingt erst am Nachmittag losmarschieren wollen, doch ! Koga hatte eingewandt, dass dann die Raubtiere auf die Jagd gingen. Und auch wenn Max ein guter Crossläufer war, hatte er weder die Schnelligkeit noch die Kraft, um es mit einem Löwen oder Leoparden aufzunehmen.

Das Tal der Toten hatte sich vor Millionen von Jahren gebildet. Ein Meteorit wurde aus dem Universum in dieses wüste Land geschleudert und hatte tiefe Spalten und Furchen in die Erdkruste gerissen. Das dürre Buschwerk und auch die Akazien überlebten nur dank der regelmäßigen Regenfälle, und blieben diese nur ein Mal aus, verdorrte die Vegetation vollends. An Schlammlöchern und oberflächlichen Wurzeln fanden pflanzenfressende Tiere Wasser und dienten ihrerseits wiederum Fleischfressern als Beute.

Es war eine Hölle aus Hitze, Staub und Tod. Die Senke, die durch den Meteoriteneinschlag geschaffen worden war, glich einer Bratpfanne, in der Max zu verbrennen drohte. Vor dem Hitzschlag bewahrte ihn ein Schlapphut, den sein Vater aus dem Irak mitgebracht hatte. Tom Gordon hatte seinem Sohn nie erzählt, warum er eigentlich dort gewesen war – ein weiteres Geheimnis. Der Hut schützte Max vor der prallen Sonne, doch sein Durst wurde unerträglich.

Max´ Blut schien zu kochen, eine aufsteigende Übelkeit beherrschte sein Empfinden, und er drohte, die Kontrolle über sich zu verlieren. Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Alles, was er vor sich sah, verschwamm vor seinen Augen. Automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen, doch auch das fiel ihm bald immer schwerer. Er hatte sich einen kleinen glatten Stein unter die Zunge gelegt, um den Speichelfluss anzuregen, aber das hatte nichts genützt; und obwohl er sich geschworen hatte, sparsam zu sein, war ihm der Rest des Wassers schon vor einigen Stunden durch die ausgedörrte Kehle geronnen. Die grausame Realität der Wildnis grub sich in sein Bewusstsein wie eine Zecke in die Haut. Er musste die Angst abschütteln. Er musste stark sein. Doch vor allem musste er etwas trinken.

!Koga warf einen Blick über die Schulter und sah Max schwer atmend am Boden knien. Mit ein paar Schritten war er bei ihm und führte ihn in den Schatten eines mickrigen alten Baumes. ! Koga legte Max eine Hand auf die Schulter und lächelte. Der verkümmerte Baum hatte eine kleine Aushöhlung am Stamm, wahrscheinlich das Werk eines Tieres. ! Koga begann, mit den Händen an dieser Stelle Sand fortzuschaufeln. Das tat er fast zwanzig Minuten lang. Dann zog er ein schmales Schilfrohr aus seinem Beutel, führte den armlangen Halm in das Loch und fing an zu saugen. Max fiel ein, wie einmal ein Mitschüler von ihm einen Schlauch in den Benzintank eines Lehrerautos geschoben und Benzin für seinen Roller abgezapft hatte. Doch er konnte sich nicht vorstellen, was !Koga mit diesem dünnen Stück Schilfrohr im Sand finden wollte.

Fünf Minuten später zog ! Koga ein zweites dünnes Schilfrohr aus seinem Beutel. Wortlos schob er die Hand unter Max’ Kinn und hob seinen Kopf sacht an. Er steckte sich das eine Ende des Schilfrohrs in den Mund und hielt Max das andere an die Lippen. Max spürte, wie ihm etwas Kühles, Nasses in den Mund tröpfelte. ! Koga hatte einen Mundvoll Wasser aus dem Boden gesaugt, flößte ihn Max ein und versagte sich, als Erster seinen Durst zu stillen.

Max nickte dankbar, er fühlte sich sofort viel besser. !Koga hockte sich wieder an den Fuß des Baumes und machte sich erneut an die Arbeit.

Es dauerte eine ganze Stunde, bis ! Koga genug Wasser gesammelt hatte, um die kleine Flasche zu füllen, die sie bei sich trugen. Die Buschmänner gewannen in Dürregebieten ihr Wasser meist aus Knollengewächsen und anderen Pflanzen, aber wenn diese selten waren, mussten sie Schlürflöcher suchen – Stellen, an denen Steine und hohle Bäume die Ansammlung von Tau begünstigten, den sie dann aus der Erde saugten.

Max erinnerte sich vage daran, in diesem Zusammenhang schon mal den Begriff Kapillaranziehung im Unterricht gehört zu haben.

Er spürte, wie sein Körper wieder zu Kräften kam. Jetzt schienen die Berge nicht mehr in ganz so weiter Ferne zu sein.

Noch immer war nichts Essbares in Sicht, obwohl ! Koga unverwandt den Blick am Boden hielt und nach Fährten suchte. Wenn sie nichts mehr fänden, würde ihnen eine kalte, hungrige Nacht in den Bergen bevorstehen, denn es schien unwahrscheinlich, dass es dort oben irgendwas zu jagen gab. Max wusste, dass er unter diesen Umständen immer schwächer werden würde. Am Ende würde er zusammenbrechen. Die Natur kennt kein Erbarmen. Und dann wäre er leichte Beute für Hyänen oder Löwen.

Die Stunden vergingen, im Tal herrschte Stille. Nur ab und zu war der Schrei eines Adlers zu hören oder das leise Klackern von winzigen Kieselsteinen, wenn irgendein kleines Tier diese ins Rutschen brachte. !Koga hatte das Tempo angezogen, und Max hielt Schritt, während der Buschmann mit großen Schritten voranging. Die Luft wurde merklich kühler; der Schatten des Berggipfels würde ihnen bald Schutz vor der sengenden Sonne bieten, die allmählich tiefer sank.

Plötzlich kauerte sich ! Koga auf den Boden und hob warnend die Hand. Er zeigte durch das Buschwerk. Max bemerkte eine flüchtige Bewegung. Ein kleiner Bock sah aus etwa zwanzig Metern Entfernung zu ihnen herüber. Es war ein Springbock, der aus dem Stand über drei Meter in die Höhe schnellen konnte. Sein Schwanz zuckte. Offenbar versuchte er, eine lästige Fliege abzuschütteln. Er fraß nicht von dem kärglichen Gras am Boden, sondern schaute sie weiterhin wachsam an, erkannte sie aber offenbar noch nicht als Gefahr.

!Koga spannte einen Pfeil in den Jagdbogen. Max betrachtete das schöne Tier. Der Anblick der großen, feuchten Augen quälte ihn. Sie würden den Bock töten. Sie mussten ihn töten. Wieder brach die Realität des Buschlands über ihn herein. Es ging hier ums Überleben; es gab keine abgepackten, in Zellophan verschweißte Fleischstücke aus dem Kühlregal. Wäre er jetzt zu Hause, und man würde ihm sagen, er solle ein Lamm töten und ihm die Kehle aufschneiden, wäre er über Nacht Vegetarier geworden. Hier sicherte ihm der Bock sein Überleben.

Das Tier machte einen Satz und preschte los, als sich der Pfeil unweit des Herzens in seine Flanke bohrte. Max hörte das laute Klappern der Hufe auf dem felsigen Boden, als der Bock davonrannte.

!Koga zögerte keinen Moment. Mit ein paar langen Sätzen war er an der Stelle, wo noch eben das zitternde Tier gestanden hatte. Es war wichtig, dass er sich dessen Hufabdruck genau ansah. Wenn er seine Beute verfolgte, musste er sichergehen, dass er dem richtigen Tier auf der Spur zu war. ! Koga kniete auf einem Bein, seine Augen suchten den Boden ab. Er hob seinen Pfeilschaft auf und warf einen Blick zurück, ob Max ihm auch folgte.

»Komm!« Ein geschickter Jäger konnte seine Familie am Leben erhalten, und ! Kogas Freude über seinen Erfolg sollte nicht gedämpft werden, weil Max’ beim Anblick des verletzten Tieres mulmig zumute war.

!Koga rannte los. Max mochte zwar gut trainiert sein, aber er spielte nicht in derselben Liga wie der magere Junge. Er rannte keuchend hinter ihm her, entschlossen, eine möglichst gute Figur zu machen. Zudem wollte er ! Koga auf keinen Fall enttäuschen.

 

Ein kleines Rudel Löwen – drei Weibchen, zwei Junge und ein Männchen – lagerte an einer kleinen Felsnase unter Akazienbäumen, deren mächtige Wurzeln aus der Erde wuchsen. Die Löwen waren etwa drei Kilometer entfernt, und obwohl sich kaum ein Lüftchen regte, hatten sie bereits die Witterung des angeschossenen Bocks aufgenommen. Und sie nahmen noch einen anderen Geruch wahr: Menschen. Sie hatten erst einmal einen Menschen getötet, doch der Geschmack war ihnen auf der Zunge geblieben – süß wie Warzenschwein, aber viel leichter zu töten. Die Löwen hatten keine Angst vor Menschen. Dies war ihr Territorium, und die Menschen waren Eindringlinge. Als Zugabe zu dem verletzten Tier würde es also noch Menschenfleisch geben. Nur mussten sie sich beeilen, sonst würden sich die Hyänen und Geier die besten Stücke herauspicken.

Zwei der Weibchen machten sich mit langen Sprüngen auf den Weg. Das dritte blieb bei den Jungtieren, und das männliche Tier stolzierte weiter träge umher.

Heute Abend würde das Rudel zu fressen haben.

 

Das langsam wirkende Pfeilgift hatte den jungen Springbock endlich geschwächt, und er lag hilflos auf der Erde. Ächzend vor Anstrengung kam Max gerade dazu, als !Koga dem armen Tier die Kehle durchschnitt. Es zuckte zusammen und verendete rasch. !Koga hielt Max sein Messer hin.

»Kannst du häuten?« Die Frage war eher eine Herausforderung, das spürte Max deutlich. Schon schlimm genug, dass sie zum Überleben allein auf ! Kogas Jagdkünste angewiesen waren. Wollte er ihn etwa verspotten? Welchen Beitrag konnte Max leisten? Max nickte. Er sah über !Kogas selbst gefertigtes Messer hinweg und holte sein eigenes zehn Zentimeter langes Buschmesser hervor.

!Koga schnitt vorsichtig den Bauch des Springbocks an und schob mit dem Daumen die Haut zur Seite. Er achtete darauf, das Fleisch nicht dadurch zu verderben, dass er in den Magen stach und dessen Flüssigkeit herauslief. Mit geschickten Fingern zog er die Eingeweide heraus, die ihm über die Hand glitten und in den Sand plumpsten. Er fasste in die Bauchhöhle und schnitt Herz und Leber hervor, wie es sein Recht war: Der Jäger, der das Tier erlegt hatte, nahm sich die besten Stücke. Herz, Leber und Zunge hatten besonders viel Fett und Eiweiß. Er handelte damit keineswegs selbstsüchtig, sondern nur zweckmäßig. Ein Jäger brauchte Ausdauer für die Pirsch und Kraft, um kilometerweit hinter dem verwundeten Tier herzurennen. Doch wenn ein Buschmann ein Tier erlegt hatte, blieb auch kein Mitglied seiner Familie hungrig – sie teilten alles miteinander.

Max rang mit sich, ob er das tun sollte, was von ihm erwartet wurde. Der Platzwart an der Dartmoor High hatte immer Kaninchen geschossen, und Max hatte ihm beim Häuten zugesehen. Damals war es ihm ziemlich einfach vorgekommen, doch nun wusste er nicht, wo er bei einem Tier dieser Größe das Messer ansetzen sollte.

!Koga nahm seine rechte Hand und führte sie sanft, zeigte ihm bereitwillig, wie er die Klinge halten sollte, doch auf einmal erstarrte er.

»Was ist?«, fragte Max.

!Koga blickte zurück ins Tal. Er kniff die Augen wegen der blendenden Sonne leicht zusammen, legte den Kopf schief und lauschte. Eine kleine Staubwolke, nicht größer als die Jungen selbst, erhob sich und legte sich sofort wieder. ! Koga wartete, und Max, der sich auf ! Kogas Buscherfahrung verließ, sagte kein Wort. Er sah und hörte nichts, was ihm Anlass zur Besorgnis gab.

»Wir müssen jetzt schnell gehen«, flüsterte ! Koga.

Eine plötzliche Angst schärfte Max’ Sinne. Er ließ den Blick noch einmal durch das Tal schweifen, doch gar nichts deutete auf eine Gefahr hin. Als er sich wieder umdrehte, hatte ! Koga einen Hautstreifen aus dem Lauf des Springbocks geschnitten und formte daraus einen Beutel, in den er Herz und Leber legte. Max nahm das Päckchen, das !Koga ihm entgegenhielt, und der junge Buschmann verschnürte es mit ein paar Sehnen. Er knüpfte eine Schlinge und warf sich das Päckchen über die Schulter. Dann packte er Max am Arm. »Kannst du schnell rennen?«

»Was?«

»Da.« Er zeigte auf einen kleinen Hang, übersät von Felsgestein, das von höher gelegenen Gipfeln herabgefallen war.

»Wir müssen rennen. Ohne stehen zu bleiben. Schaffst du es bis dort hinten?«

Max schätzte die Entfernung auf mindestens einen Kilometer. Der sandige Boden würde das Laufen erschweren, und es war bestimmt mühsam, zu diesen Felsblöcken hinaufzukraxeln, die ihnen Schutz bieten sollten vor dem, was ! Koga so erschreckt hatte.

»Ist ein Klacks!«, log er. Der Junge verstand ihn nicht. »Okay, ja«, sagte Max deshalb.

»Mach keinen Lärm. Nicht rufen. Wenn du fällst, nicht schreien, ja? Du musst leise sein. Verstanden?«

»Ja, verstehe«, erwiderte Max. Er hatte zwar keine Ahnung, was !Kogas Anweisungen sollten, aber sein Instinkt riet ihm, sie einfach zu befolgen.

!Koga packte den Springbock an einem seiner Hörner und Max schnappte sich den unversehrten Hinterlauf. Er hoffte, dass !Koga nicht vorhatte, das Tier den ganzen Weg mitzuschleppen. Sie schleiften es zweihundert Meter weit über den heißen Boden, ächzend und stolpernd, und hinterließen eine erkennbare Blutspur.

Plötzlich sagte ! Koga: »Hier. Lass fallen!«

Ohne einen Einwand von Max abzuwarten, sprintete !Koga los. Max hatte es schwer, ihm zu folgen. ! Koga rannte wie der Wind und sprang wie eine Gazelle. Er hielt direkt auf die Felsblöcke zu.

Der Boden war von tiefen Furchen und Rissen durchzogen, manche nur ein paar Zentimeter breit, andere über einen Meter. Ein Sprint, ein Sprung, dann ein Slalom, und dann wieder ein metertiefer Spalt, den es zu überwinden galt. Es war unmöglich, einen Rhythmus zu finden, und Max spürte, wie seine Beinmuskeln sich verkrampften. Er war zwar nicht so wendig wie ! Koga, aber wild entschlossen, das Ziel zu erreichen. Bloß nicht stolpern und in eine dieser Schluchten fallen!, ermahnte er sich immer wieder.

Schweiß brannte ihm in den Augen und die Hitze zehrte an seinen Kräften, doch er konzentrierte sich hartnäckig auf die immer kleiner werdende Gestalt des jungen Buschmanns. Verdammter Mist! Der ließ ihn richtig alt aussehen. Max wollte all seine Kraft zusammennehmen, um sich ins Zeug zu legen. Sein Kopf bereitete ihm dabei noch größere Probleme als das unwegsame Gelände. Eine innere Stimme höhnte: Dafür bist du zu müde. Wenn du stürzt und dich verletzt, bist du ein Krüppel, und dann bist du zu nichts mehr nutze. Halt kurz an, atme durch, trink einen Schluck. Nur für einen Moment.

 

Die Löwinnen hatten die Fährte aufgenommen. Sie rochen das Blut des toten Tieres, aber der Springbock war nicht ihr eigentliches Ziel. Es waren die unbeholfenen Bewegungen der Menschen, die sie anzogen. Und einer von ihnen war jetzt stehen geblieben und fächelte sich mit seinem Hut Luft zu. Für die Löwinnen war er, so hilflos und verwundbar, geschwächt von Hitze und Erschöpfung, das perfekte Opfer. Sie gingen in Angriffsposition: Eine baute sich so auf, dass ein Entkommen unmöglich war, die andere machte sich bereit zu töten.

Der Mensch hatte ihr den Rücken zugekehrt. Sie behielt ihn fest im Blick, nahm Anlauf und sprang. Ihre mächtigen Krallen bohrten sich in sein Fleisch, ihre Zähne schlugen sich in sein Genick, zertrümmerten Schädel und Wirbelsäule.

Er war bereits tot, noch ehe er zu Boden fiel.

Der andere Mensch schrie vor Angst.