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Die Höhlenwände dokumentierten die Geschichte des Ersten Volkes. Bilder, die von seinem Anfang erzählten; Szenen von der Schöpfung des Buschmanns und von der Jagd nach der mächtigen Elenantilope, die, selbst noch im Angesicht des Todes, einen Menschen mit ihren Hörnern durchbohren konnte. In der Wüste waren Skelette von Elenantilopen gefunden worden, an deren Hörnern noch die knöchernen Überreste eines Löwen hingen. Die Verehrung der Elenantilope, die, so groß wie ein Ochse die größte ihrer Art war, stand im Mittelpunkt der Lebenskultur der Buschmänner. Sie priesen das Tier in ihren Tänzen, ihrer Musik und in Bildern. Eine der vielen Schöpfungsgeschichten der Buschmänner besagte, dass der Insektengott Mantis die Welt erschaffen hatte und die Elenantilope als erstes Lebewesen erkor.

Während Max die Geschichte an der Felswand verfolgte, leuchtete ihm ! Koga mit der Fackel, zeigte auf die Bilder und erklärte in der Buschmann-Sprache, was sie bedeuteten. Und obwohl Max nicht verstand, was ! Koga sagte, wirkte die sanfte Melodie des Singsangs beruhigend wie ein Wiegenlied, und die Szenen schienen lebendig zu werden. Löwe und Giraffe, Antilope und Pavian, Hyäne und Schlange. Die ganze Familie der Wildnis war versammelt.

Die geistergleichen Jäger rannten und töteten die Antilope, die ihnen das Überleben sicherte. Sie tanzten zum Dank und lobpreisten das Tier. Max glaubte fast, ihren Gesang hören zu können. Figuren tanzten sich in Trance, während ihnen ockerfarbenes Blut aus der Nase lief.

Die Flamme der Fackel flackerte, und Schatten zogen einen Vorhang über die Szene. Max erhaschte einen Blick auf eine Zeichnung, die im hinteren Teil der Höhle verborgen war und nicht zu den anderen Bildern gehörte. Sie zeigte Anubis, den ägyptischen Schakal und Gott der Unterwelt. Der Körper des Schakals wies nach links und bedeutete dem Betrachter, noch tiefer ins Dunkel hineinzusehen.

»Max«, flüsterte !Koga. So als wäre der Name eine Feststellung, eine Tatsache. Im schwachen Schein des Feuers erkannte Max die Zeichnung eines Jungen; er war mit weißer Farbe gemalt und hatte gelbes Haar. ! Koga zeigte auf die Zeichnung und auf Max. Er sagte noch einmal: »Max.«

Wie die Figuren der Jäger war auch der Junge in einer Laufbewegung dargestellt. Wohin lief er?

Max entdeckte weitere Bilder, die sich wie ein langes Fries über die Granitwand erstreckten. Ein Krokodilmaul voller blutbeschmierter Zähne – das waren die Berge, die Max gesehen hatte. Eine Figur, die stolperte – kein speerschwingender Jäger, sondern ein Mann, der sich auf einen Stab stützte. Am Ende seines ausgestreckten Zeigefingers hing ein Stern mit vielen Zacken.

Als Max mit der Hand über die Figuren an der Wand fuhr, stieß er auf eine Anhäufung von Kratzern, die Dornenbäume symbolisierten, dürr und kahl; und doch boten sie einer Taube Schutz, die mit ausgestreckten Flügeln auf dem Boden dieses Bildes lag. Max konnte sich keinen Reim darauf machen. Was sollte das bedeuten?

Die nächste Zeichnung zeigte ein klaffendes Loch, darin strudelte es wie in einem Whirlpool, und darüber schwebte eine Wolke. Max war ratlos. Was sollte das Bild darstellen?

Aber die letzte Figur erkannte er. Bei ihrem Anblick fuhr ihm ein Schmerz in die Brust, und er streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Es war wieder der Mann mit dem Stern, doch jetzt lag er am Boden, und eine rote Linie zog sich an seinem Bein entlang. Max wusste, dass das sein Vater war, und er sich verletzt hatte. Lag er irgendwo da draußen hilflos im Busch?

»Oh, Dad«, flüsterte er. »Wo bist du?«

Die Flamme wurden immer schwächer, und die Fackel spendete kaum noch Licht. ! Koga berührte Max vorsichtig am Arm und wies auf die letzte Darstellung. Die Figur des blonden, weißhäutigen Jungen sprang über einen Abgrund, und ihm folgten ein Dutzend Buschmänner, auch Frauen und Kinder. Es sah so aus, als würden sie andere Buschmänner zurücklassen, die bäuchlings auf dem Boden lagen.

Was dieses Bild bedeutete, war klar: Max führte eine Gruppe Buschmänner an, die überlebt hatte, und es sah aus, als würde er sie außer Gefahr bringen.

Und von dieser Bedrohung wusste auch Max’ Vater, so viel stand fest.

Max hatte schon oft gesehen, wie sein Vater ein Skizzenbuch zur Hand nahm und das, was er in seiner Umgebung sah, mit Pinsel und Bleistift auf Papier festhielt. Es war nicht ungewöhnlich, dass Feldforscher geübte Künstler waren, die Skizzen von Tieren und Pflanzen machten, und für Max bestand kein Zweifel, dass er vor ebensolchen Zeichnungen stand. Das war keine Prophezeiung, die vor Hunderten oder gar Tausenden von Jahren an den Wänden hinterlassen worden war. Das hier hatte sicher sein Vater gemalt, und zwar erst vor wenigen Wochen.

!Koga lächelte. Für ihn waren die Bilder eine Prophezeiung.

Er sagte, dass sie nun etwas essen und ans wärmende Feuer zurückkehren sollten. Max nickte und hoffte, dass ! Koga nicht die Tränen in seinen Augen sah. Er gab ihm zu verstehen, dass er schon vorgehen solle, und als Max allein war, kauerte er sich in die Dunkelheit und weinte leise. Seit dem Tod seiner Mutter hatte er sich nicht mehr so traurig und verlassen gefühlt.

Er biss die Zähne fest aufeinander, bis sein Kiefer schmerzte. Das ist gar keine Trauer, sagte er sich. Das ist Selbstmitleid. Schluss damit oder fahr nach Hause. Kehr um! Bitte !Koga darum, dich zurückzubringen. Setz dich in ein Flugzeug, fahr heim zu deinen Freunden, melde Peterson der Polizei, und überlass dann denen die ganze Sache.

Wenn das die Alternative war, dann wollte er nichts davon wissen.

 

Das Fleisch hatte in der Glut gebraten und schmeckte verkohlt. Es erinnerte Max ein wenig an die Grillversuche seines Dads. Max wurde richtig satt.

»Sag mal, hat dich mein Vater hierhergeschickt?«, fragte Max schließlich.

!Koga schüttelte den Kopf. »Nein, mein Vater.«

»Dein Vater hat dir gesagt, du sollst hierherkommen?«

»Ja. Mein Vater war lange fort gewesen. Als er zurückkam, hat er mir das Ding gegeben, das ich zur Farm gebracht habe.« »Die Tierhaut mit den Feldaufzeichnungen?«

»Das Geschriebene, ja. Mein Vater ist alt. Er war müde, weil er viele Tage gelaufen war. Vor meinem Vater hatte es schon andere Boten gegeben, und die haben ihm das Geschriebene gebracht. Und er hat es dann mir in die Hände gelegt.«

Max versuchte, die einzelnen Teile zusammenzufügen: Sein Vater hatte gewollt, dass er diese Höhle fand, um ihm sagen zu können, wohin er gehen sollte. Deshalb hatte er mithilfe der Buschmänner eine Nachricht übermittelt. ! Koga war als letzter Bote der Kette sein Führer geworden. Wie das Lied eines Wals im Ozean war die Botschaft durch die Wildnis geeilt, und die Buschmänner hatten sie verstanden und weitergetragen, bis Max schließlich gekommen war.

Max beobachtete ! Koga beim Essen, wandte aber schnell den Blick ab, als der Junge hochsah. Er wusste so wenig über ! Koga. Max hatte immer nur an sich gedacht: an seinen Vater, an seine Probleme, an das Warum, Wieso, Weshalb. Irgendwo da draußen zog ! Kogas Familie durch die Wildnis, während ihr Sohn seinem Vater Ehre machte und seine Pflicht tat, indem er einen unbekannten weißen Jungen zu dessen Vater brachte.

Die Strapazen des Tages forderten schließlich ihren Tribut, und noch bevor das letzte Stück Fleisch aufgegessen war, rollten sich Max und !Koga neben die warmen Steine am Feuer und schliefen ein.

Ein ohrenbetäubender Knall riss Max aus seinen wirren Träumen, und ein Blitzschlag traf die gegenüberliegende Bergwand. Die Jungen sprangen auf, aber als sie merkten, dass es nur ein heftiges Gewitter war, gingen sie zum Höhleneingang. Ein Windstoß zerstreute die kalte Asche des Feuers, dunkle Wolken jagten über den Himmel, und die Luft war schwer vom dräuenden Regen. Als ein zweiter Blitz den Berg auf der anderen Seite erhellte, sah Max Scharen von Schatten, die panisch umherhuschten.

»Er-der-auf-den-Händen-sitzt«, sagte ! Koga.

Max verstand nicht und dann sah er genauer hin. Das helle Licht des kurz aufleuchtenden Blitzes zeigte ihm mindestens hundert Paviane, die aufgeregt Schutz suchten. Paviane! Sein Freund meinte die Paviane. Aber er bekam keine Gelegenheit mehr, sie weiter zu beobachten, denn eine Wolke wälzte sich den Berg hinab und hüllte die Jungen in grauen Nebel.

Es wurde rasch kühler. Max streckte die Hand in die feuchte Luft und wünschte sich den Regen herbei, doch nichts kam, nur ein taugleicher Rest blieb an den Felsen hängen.

Und dann war das Gewitter vorbei. Zurück blieben bloß der kristallklare Himmel und die leuchtenden Sterne. Die Paviane waren in die Berge geflohen.

In der riesigen Weite herrschte wieder große Stille. Max schaute hinaus in die Nacht.

Das endlose Land verschwand in der Dunkelheit, lockte ihn und forderte auf einzutreten.

Ein Feind, der auf der Lauer lag.

 

Das Desinfektionsmittel stank, und Kallie musste würgen. Sie war die unverbrauchte Luft der Wüste gewöhnt. In dem Polizeirevier mit seinen langen Korridoren, den lärmerfüllten Wartebereichen und den auf engem Raum zusammengedrängten Menschen, begann ihre Haut zu jucken. Das war eine Welt, die sie in der Wildnis nie zu sehen bekam.

Endlich erschien Mike Kapuo, führte sie in sein Büro und machte die Tür zu.

Der Polizeichef von Walvis Bay war ein Schrank von einem Mann, und er aß für sein Leben gern. Sein Bauch hing ihm über die Hose, und in seinen Händen mit den dicken Wurstfingern sah seine große Dienstwaffe aus wie ein Kinderspielzeug. Trotz seiner Körperfülle war er aber sehr wendig, wenn es die Situation verlangte, und er hatte, bis er vierzig war, für die Polizei geboxt – ein Rekordalter für einen Schwergewichtler. Beim Boxen hatte er auch Ferdie van Reenen kennengelernt. Sie waren sich als Gegner im Ring begegnet. Kallies Vater war es auch gewesen, der seine Erfolgsserie durchbrochen hatte, als er ihn in der vierten Runde k.o. schlug. Dennoch waren die beiden Männer damals gute Freunde geworden.

Heute überließ Kapuo die körperlich anstrengenderen Aufgaben, zum Beispiel Verbrecher zu Fuß zu verfolgen, jüngeren Kollegen. Mit siebenundfünfzig hätte er auch bereits in Rente gehen können, doch er liebte seine Arbeit, und seine Mitarbeiter liebten ihn, obwohl er ein strenger Vorgesetzter war. Es litten nur die Verbrecher darunter, dass er noch immer bei der Polizei war.

»Du solltest so spät abends gar nicht hier sein«, sagte er zu Kallie.

»Wo hätte ich Sie denn sonst finden sollen?«

Er lächelte. Das Mädchen war ein Dickkopf. Vermutlich würde es ihm auch noch zum Tiefseefischen folgen, wenn es etwas Wichtiges loswerden wollte. Da Kallie nun hierherkam, musste es sich um etwas Wichtiges handeln.

»Du bist nicht bloß zufällig vorbeigekommen, hm?«, neckte er sie.

Er schenkte ihr eine Tasse Kaffee mit Zucker ein – eine dunkle Plörre, aber heiß und süß und daher genau das, was sie brauchte.

»Ist bei deinem Vater alles in Ordnung?«, fragte er. Es wäre nicht das erste Mal, dass Kapuo Ferdie van Reenen zu Hilfe kommen müsste. Das letzte Mal, als sich Kallies Vater eine Bande von Wilddieben vorgeknöpft hatte – er hatte sie mit vollem Einsatz und einer Flinte gejagt –, war er selbst schwer verletzt worden. Hätte Kallie damals nicht Kapuo eingeschaltet, und hätte der van Reenen nicht rechtzeitig gefunden, dann wären die Wilderer jetzt vermutlich Mörder.

»Ihm geht’s gut. Er ist mit ein paar Vogelkundlern oben am Kunene.«

»Aha, hm.« Kapuo wartete. Sie trank kleine Schlucke von ihrem Kaffee, sah ihn an und ließ dann ihren Blick durch den unordentlichen Raum schweifen.

»Ich glaub, ich hab ein Problem«, sagte Kallie schließlich. »Ein größeres Problem als meinen lausigen Kaffee?« »Schlimmer.«

Sie zögerte. Er wartete.

»Ich glaube, jemand will einen Jungen, den ich kenne, umbringen«, sagte sie vorsichtig.

Kapuo sah sie an. Kallie van Reenen war ihrem Vater sehr ähnlich und würde sich, genau wie er, niemals einfach nur wichtigmachen wollen. »Wie kommst du darauf?«

»Weil ich glaube, dass die mich auch gerade umbringen wollten.«

 

Lucius Slye war ein ordentlicher Mensch. Er legte Wert darauf, sein Bett morgens selbst zu machen, weil die Diener die Laken an den Kanten nicht korrekt falteten. Zahnbürste, Rasierer, Kamm und Zahnpastatube lagen fein säuberlich aufgereiht neben seinem fleckenlosen Waschbecken. Sauberkeit, Akkuratesse und Ordnung, genau das brauchte Slye, um funktionieren zu können. Er verfügte weder über Shaka Changs Instinkte noch über die Schlauheit eines Tieres, um sich blitzschnell an alle Veränderungen anpassen zu können. Nein, Slye brauchte ein stabiles Umfeld, um mit maximaler Effizienz wirken zu können.

Und deshalb hasste er auch unerledigten Kleinkram. Seit der junge Gordon in Afrika war, gab es allerdings jede Menge unerledigten Kleinkram. Slye hatte den Vorschlag geäußert, nach dem missglückten Anschlag auf Max am Flughafen gleich einen erneuten Anlauf auf der van-Reenen-Farm zu starten. Aber Shaka Chang hatte das abgelehnt; das würde einfach zu viel Aufsehen erregen. Beim Mordanschlag am Flughafen hätte man die Tat so aussehen lassen können wie einen Raubüberfall, der außer Kontrolle geraten war. Chang wollte die Sache nicht noch komplizierter machen, indem Außenstehende mit zu Schaden kamen.

»Lassen Sie den Dingen ihren Lauf, Mr Slye«, hatte er gesagt. »Die Wildnis oder unsere Männer, eins von beiden kriegt den Jungen schon klein.«

Doch das war bis jetzt nicht passiert, oder? Slye war ein guter Untergebener und wusste, dass seine Aufgabe darin bestand, seinen Herrn zu entlasten – und Chang war sein Herr, denn er hatte die Macht zu entscheiden, ob er lebte oder starb.

Chang hatte sicher schon genug um die Ohren. Da war das geplante riesige Wasserkraftwerk, das Milliarden von Dollar einbringen würde. Da waren die illegalen Drogentransporte aus aller Welt, für die Walvis Bay ein Umschlagplatz war. Und zudem waren da noch die Zerstörung von natürlichem Lebensraum und der Mord an Tausenden von Menschen, wenn Chang seinen Plan in die Tat umsetzte. Und deswegen hatte Slye es in die Hand genommen, ein bisschen Kleinkram zu erledigen – Kallie van Reenen.

Sie hatte den Jungen in Windhoek vom Flugplatz abgeholt und ihn für seine Reise ausgerüstet. Slye hatte ihre Spur bis zu dem abgelegenen Flugfeld verfolgt, wo sie sich mit ihrem Vater getroffen hatte. Ferdie van Reenen war mit einer Reisegruppe zu einer Safari aufgebrochen. Er war also unbeteiligt, doch laut Slyes Informanten hatte Kallie einen Flug nach Walvis Bay angemeldet. Und das lag nicht gerade auf ihrem Heimweg. Slye schloss daraus, dass sie etwas wusste, was sie nicht wissen sollte. Ohne viel Aufhebens zu machen, hatte er dafür gesorgt, dass sich einer seiner Männer Kallies Maschine ansah und eine Kleinigkeit veränderte – mit Absturzgarantie.

Mit großer Genugtuung hatte er in Skeleton Rock ihren Mayday-Ruf über Funk mitverfolgt.

Noch befriedigender für ihn waren der Knall einer Explosion und der Schrei des Mädchens. Kallie van Reenen musste irgendwo in der Pampa abgestürzt sein. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass man die Absturzstelle jemals auffand, würde eine Untersuchung ergeben, dass ihr altes Flugzeug einfach nicht mehr zuverlässig genug gewesen war. Und in der Zwischenzeit hatten sich Hyänen und Schakale ihrer Überreste angenommen.

Er klappte seinen Palmtop auf und hakte einen Punkt auf seinem elektronischen Merkzettel ab: Kallie van Reenen töten.

 

Kallie hatte wie immer vorm Abflug ihre Maschine durchgecheckt, war auf die Startbahn gerollt und hatte den Gashebel hochgeschoben, bis die Startgeschwindigkeit erreicht war. Als die Maschine abhob und in den Himmel stieg, glaubte sie, ein Rasseln im Motor zu hören. Nach einer Stunde war ihr klar, dass sie in Schwierigkeiten steckte.

Es roch zweifelsfrei nach Benzin, der Motor vibrierte wie verrückt, und gleich darauf verlor er an Kraft. Das Flugbenzin überschwemmte den Motorraum fast genau in dem Moment, als Kallie eine Welle der Angst überrollte.

Ihre größte Sorge war, dass Feuer ausbrach, und deshalb versuchte sie erst gar nicht, den Motor erneut zu starten. Die Cessna 185 war unter Piloten als hecklastig bekannt, was Schwierigkeiten beim Start und bei der Landung verursachte, und wenn sie die Maschine ohne Motorkraft herunterbringen wollte, würde sie ihr ganzes Können brauchen, um das mit heiler Haut zu überstehen.

Die Nase der Maschine senkte sich, der Propeller drehte sich nur vom Luftstrom bewegt und nicht schneller als eine Windmühle. Kallie besann sich darauf, was sie in ihrer Ausbildung gelernt hatte. Ruhig, aber zügig leitete sie einen Schwenk ein, weg von den felsigen Hügeln, die vor ihr aus den Dünen aufragten, während sie gleichzeitig nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau hielt. Sie schaltete die Notfallfrequenz auf dem Funkgerät ein – 121,5 Megahertz.

»Mayday, Mayday, Mayday! «, rief sie. Das internationale Notsignal aus ihrem Mund zu hören, klang für Kallie fast schon unwirklich. Sie hatte nie damit gerechnet, es jemals aussprechen zu müssen. »Hier spricht Viktor Five, Bravo Mike November … Mayday, Mayday, Mayday …«

Und dann gab es einen Knall und Kallie war vollkommen mit Flüssigkeit bespritzt. Sie schrie auf vor Angst, wischte sich das Zeug aus den Augen und brachte die Maschine, so gut es ging, wieder unter Kontrolle. Es war keine Zeit mehr für Mayday-Signale, sie musste die Maschine runterbringen.

Ohne dass sie eine Antwort auf ihren Notruf bekommen hatte – die Wahrscheinlichkeit war hoch, dass niemand in der Nähe war, der sie hören konnte –, setzte sie einen letzten Funkspruch ab, mit dem sie ihre Position durchgab, so weit sie das konnte. Dann sauste das Flugzeug auch schon im weiten Bogen auf die Erde zu und Kallie drehte sich der Magen um.

Der Wind pfiff durch das Cockpit, und sie verlor jetzt rasch an Höhe. Die Maschine zitterte wie verrückt, und die Vibrationen übertrugen sich vom Steuerruder auf ihre Arme. Sie hatte ihr Flugtempo auf achtzig Knoten gedrosselt, fast perfekt fürs Gleiten. In der Ferne zog sich als nadeldünner Strich eine Piste durch die Landschaft, ein zweiter führte über mehrere Kilometer zu einem entlegenen Farmhaus.

Kallie schlingerte, kurvte durch die Luft und versuchte, das Flugzeug in die korrekte Landeposition zu bringen. Das war schwierig und gefährlich. Sie durfte die Landeklappen erst ganz kurz vor dem Aufsetzen ausfahren, und wenn sie ihre Sinkgeschwindigkeit und den Zielanflug falsch einschätzte, würde die Maschine über die Piste hinausschießen. Waren die Klappen erst einmal unten, musste sie sich voll und ganz auf die Landung konzentrieren. Falls das da unten tiefer Sand war, würden die Räder einsinken und das Flugzeug würde einen Purzelbaum schlagen – und das wäre sicher ihr Ende.

Kallie setzte zum Seitengleitflug an, achtete darauf, dass sie ein angemessenes Tempo beibehielt und ließ den Landepunkt nicht aus den Augen. Sie wusste, dass sie in weniger als einer Minute tot sein konnte.

Eine letzte geneigte Kurve, das Steuer vibrierte, sie richtete die Maschine aus, brachte die Nase der Cessna nach oben, schob die Landeklappenregler nach unten und spürte, wie die Maschine holpernd aufsetzte.

Die Räder schlitterten über den harten Boden und sie brachte ihre treue alte Maschine zum Stehen.

Stille.

Dann hörte sie ein Klopfgeräusch – der Motor kühlte ab.

Sie blieb einfach sitzen und genoss den Moment der Erleichterung. Und dann musste Kallie lachen. Sie hatte ein schrottreifes Flugzeug sicher vom Himmel gebracht, dabei die schrecklichsten Minuten ihres jungen Lebens ausgestanden und war von Kopf bis Fuß mit Tobias’ Eiskaltem Wüstenschreck bespritzt worden.

Es war die Thermosflasche, die explodiert war. Sie leckte sich etwas von der Flüssigkeit vom Gesicht. Der Wüstenschreck schmeckte köstlicher als je zuvor.

 

Mike Kapuo hörte sich Kallies Geschichte aufmerksam an. Sie hatte ihm der Reihe nach berichtet, was alles passiert war, seit sie Max in Windhoek vom Flughafen abgeholt hatte. Sie hatte erklärt, warum Max in Namibia war, und hatte ihm am Ende ihr eigenes entsetzliches Erlebnis geschildert.

»Bist du sicher, dass es Sabotage war?«

»Ja. Den Mechaniker kennst du gar nicht, hab ich noch gedacht, als ich zu meiner Maschine ging. Die Benzineinspritzung ist gelockert worden, und nach einer Stunde ist sie dann ganz abgegangen. Und ein Stück vom Benzinschlauch ist durch ein Plastikrohr ersetzt worden.«

»Na und? Das hab ich bei der Benzinleitung von einem meiner alten Autos auch mal gemacht. Das ist kein Beweis für Sabotage oder einen Mordversuch.«

»Doch, ist es«, beharrte sie. »Flugbenzin bringt Plastik zum Schmelzen, alles nur eine Frage der Zeit. Wenn also die Einspritzung aus irgendeinem Grund gehalten hätte, wäre der Benzinschlauch geschmolzen. Es war also in doppelter Hinsicht dafür gesorgt worden, dass ich abstürze.«

Kapuo nickte, ohne etwas zu sagen. Kallie war mit Staub und Dreck beschmutzt, da sie die Fahrt nach Walvis Bay auf der Ladefläche eines Pick-ups verbracht hatte. Kapuo kannte sich mit den Nachwirkungen von Traumata aus. Dieses Mädchen brauchte jetzt etwas zu essen und Ruhe.

»Wir können morgen weiterreden. Du kommst mit zu mir nach Hause.«

»Mike, das kann ich nicht.«

»Doch, das kannst du. Ich muss sowieso morgen rausfahren und mir deine Maschine ansehen, und dann können wir uns gleich bei dem Farmer bedanken, der dich hergebracht hat.«

»Sie glauben mir also?«

»Ja. Ich hab nämlich einen abteilungsübergreifenden Bericht auf den Tisch gekriegt. In dem geht’s um zwei Männer, die an dem Tag, an dem du diesen Max abgeholt hast, am Flughafen schwer verletzt wurden. Die beiden sind der Polizei als brutale Typen bekannt, die ihr Geld damit verdienen, alle möglichen unschönen Jobs zu erledigen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass da ein Zusammenhang besteht. Seit ein paar Wochen liegt uns auch eine Meldung über den vermissten Vater des Jungen vor, aber unsere Suche war erfolglos. Darum haben wir angenommen, er ist tot. Du weißt ja, wie das da draußen ist.«

»Max’ Vater hat einen Brief nach England geschickt, der wurde in Walvis Bay abgestempelt. Und der Typ, mit dem er zusammenarbeitet, ein gewisser Leopold, war auch hier«, sagte Kallie.

Kapuo zögerte, überlegte, wie viel er Kallie erzählen sollte. Wie viel wusste die Tochter seines Freundes? Kapuo legte seine Jacke über den Arm und schob Kallie aus dem Büro.

»Du brauchst jetzt ein heißes Bad und eine anständige Mahlzeit. Morgen Früh nehmen wir die Sache dann richtig in Angriff.« Das Essen seiner Frau und ein kuschliges Bett für die Nacht, dann würde das Mädchen wieder etwas runterkommen. Danach wäre sie etwas zugänglicher.

Wenn sie nützliche Informationen hatte, würde er das dem Mann in England mitteilen, der nach dem Jungen und seinem Vater suchte.