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Adrenalin hatte Max’ Körper in den letzten vierundzwanzig Stunden förmlich überschwemmt und ihn in einen Zustand permanenter Wachsamkeit versetzt, eine Reaktion seines Gehirns auf das sogenannte »Kampf-oder-Flucht«-Hormon, das durch seinen Körper strömte. Trotz seiner Müdigkeit hatte er schlecht geschlafen. Er dachte an seinen Vater und an die Verantwortung, die nun auf ihm lastete. Gedanken, die in gleicher Weise erregend wie beängstigend waren.

Farentino hatte die Tätigkeit seines Vaters nur sehr vage umrissen, dennoch erklärte sich jetzt, woraus er seine Kraft und seinen Mut schöpfte. Wie kam ein diplomierter Wissenschaftler dazu, Piraten und gemeine Schmuggler bedrohter Tierarten zu bekämpfen? Oder sich mit der Machete einen Weg durch den Dschungel zu bahnen, um eine seltene Pflanze, die schwer kranken Menschen Heilung versprach, ausfindig zu machen, bevor profitgierige Pharmakonzerne damit ein Riesengeschäft aufzogen?

Tom Gordons Abenteuerlust war bei dem Ganzen sehr hilfreich, aber die Regierung hatte ihn zudem entsprechend ausgebildet. Er war zwar kein Geheimagent, seine Tätigkeit kam Spionage allerdings schon ziemlich nahe – und in mancher Beziehung war das, was er tat, vielleicht sogar noch riskanter. Er legte sich mit gefährlichen Leuten an, die internationales Recht mit Füßen traten. Er hatte eine ausgezeichnete Kampfausbildung genossen, und nach dem Vorfall mit den Piraten vor der Küste von Afrika und der Weise, wie sein Vater mit ihnen verfahren war, ahnte Max, dass sogar Spezialeinheiten beim Training seines Vaters mitgewirkt hatten. Seinem Vater war das uneingeschränkte Sonderrecht erteilt worden, sich überall frei und ungehindert bewegen zu dürfen, denn er musste kontrollieren, ob Schurkenstaaten internationales Recht brachen oder umgingen. Er hatte Max’ Mutter in Südamerika kennengelernt, als sie dort die Umweltschäden untersuchte, die durch das illegale Roden der Regenwälder entstanden. Innerhalb von zwei Jahren waren sie dahintergekommen, dass sämtliche Regierungen bei illegalen wissenschaftlichen und ökologischen Vorhaben ein Auge zudrückten. Durch Handelsverträge und wechselseitige Interessen waren alle bestechlich.

Die Integrität seiner Eltern brachte ihnen nicht nur wichtige Kontakte ein, sondern auch viele Feinde. Sie forderten das Big Business heraus, brachten Vorstände vor Gericht und erzwangen, dass viele illegal tätige, umweltschädigende Unternehmen dichtmachen mussten. Egal bei welchem Wissenschaftler oder Ökologen man die Namen Tom und Helen Gordon auch erwähnte, die tapferen Unruhestifter, die mit ihrer Arbeit Neuland betraten, wurden insgeheim für ihre Unerschrockenheit hoch geschätzt. Jeder, der das Ökosystem der Erde mit gefährlichen Vorhaben bedrohte, wurde zu ihrer Zielscheibe. Schließlich jedoch quittierten Tom und Helen den Staatsdienst, weil sich die Politik zu sehr in ihre Arbeit einmischte. Sie schlossen sich einer kleinen, engagierten Gruppe an, die, privat finanziert und über Ländergrenzen hinweg, denen half, die einen positiven Beitrag leisten wollten, und gleichzeitig jene vor Gericht brachte, die mit ihrer Gier großes Elend anrichteten.

 

Max wollte den Johannesburg International Airport so schnell wie möglich verlassen. Er lief durch die Wartehalle, vorbei an den Flugzeugen, die auf dem Vorfeld standen und mit der Nase fast das Flughafengebäude berührten – große, dicke Gänse, die sich mit ihren grellbunten Schwanzenden als Pfauen ausgaben.

Als Erstes musste er unbedingt Kontakt zu Sayid aufnehmen und ihn vor Mr Peterson warnen. Er klappte das Triband-Handy auf, wartete, bis es eine Verbindung zum lokalen Server hergestellt hatte, und begann zu texten. Als er an Sayid dachte, wurde ihm bewusst, wie wenig Zeit bisher vergangen war. Hatte er tatsächlich erst gestern seine Schule verlassen und diese ganze Sache ins Rollen gebracht?

»Okay, nimm lieber das«, hatte Max’ Freund zu ihm gesagt und ihm sein nagelneues Handy überreicht. »Ich hab die SIM-Karte ausgetauscht. Die hier ist sauber. Ich weiß ja nicht, wie sich die Dinge noch entwickeln, aber wenn du wirklich glaubst, dass jemand dich und deinen Vater töten will, versuchen die dich garantiert über dein Handy zu orten.«

Sayid erläuterte, dass jede SMS, die Max ihm schreiben würde, mithilfe des Programms, das er geschrieben hatte, verschlüsselt wurde. Das war sicherer als anzurufen. Sayid würde die Nachrichten an seinem Rechner entschlüsseln, sobald das Signal die europäischen Server durchlaufen hatte. Mit etwas Glück durchschauten die Kerle nicht, dass Sayid seine Kontaktperson war, zumindest in der ersten Zeit. Das größte Problem wäre, wenn sich Max in einem Funkloch befände. Das Einzige, was er in so einem Fall tun konnte, war, das Festnetz zu nutzen und einen unverschlüsselten Anruf zu riskieren. Sayid würde versuchen, den Download auf seinem Computer zu tarnen.

Max überprüfte seinen Text vor dem Abschicken.

 

Peterson ist mir zum Flughfn geflgt.

Hat evtl. mein Zm. durchsucht.

Trau ihm nicht. Wdhlg.: Trau Ptrson nicht!

 

Zwanzig Minuten bevor Sayid Max’ SMS erhielt, rannte er, müde und verschwitzt von einem anstrengenden Querfeldeinlauf, die breite Granittreppe zu seinem Zimmer hinauf. Die Jungen liefen die Strecke durch das unwegsame Gelände von Dartmoor immer so schnell sie konnten, denn wenn sie die Ziellinie vor dem Abendessen im eichengetäfelten Speisesaal erreichten, stand ihnen die verbleibende Zeit stets zur freien Verfügung.

Seine Laufschuhe waren voller Schlamm und schmatzten bei jedem Schritt. Er lehnte sich gegen die Wand und zog sie aus. Er mochte es, den kalten Stein unter den Füßen zu spüren. In diesem Moment der Stille hörte er jemanden sprechen. Die Stimme klang sehr verärgert. Sie schien aus Mr Petersons Zimmer zu kommen.

Sayid trat näher an die geschlossene Tür heran, bis er ganz deutlich Petersons Stimme erkannte. Offenbar telefonierte er. Sayid vergewisserte sich, dass niemand in Sicht war, und presste sein Ohr an die Tür.

»… wenn ich es dir doch sage! Er ist nie in Toronto angekommen … keine Ahnung, wie er das gemacht hat! … Ich will das auch nicht noch mal durchkauen … nein, nein … Der Junge am Flughafen muss ein Freund gewesen sein, kein Schüler von hier … Das spielt doch alles keine Rolle. Wir haben ihn verloren, und das macht mir ganz schön Sorgen …«

Dann folgten ein paar genuschelte Worte, die Sayid nicht verstand. Vermutlich hatte Peterson der Tür den Rücken zugewandt und ging im Zimmer auf und ab, denn manchmal wurde seine Stimme sehr undeutlich. Plötzlich konnte Sayid wieder ein paar Worte aufschnappen.

»… Ganz offensichtlich Südafrika … Und wenn er weiß oder erfährt, was sein Vater entdeckt hat … ja … klar … Wir müssen tun, was wir können … Ich fühle mich verantwortlich. Haben wir Leute da drüben? Jemanden, den wir einsetzen können? Gut … geben Sie denen Bescheid und ich versuche, mehr rauszukriegen …«

Sayid fiel einer seiner Trainingsschuhe herunter. Es hatte nicht besonders laut gepoltert, trotzdem verstummte Peterson schlagartig. Sayid rannte, so schnell er das auf Zehenspitzen konnte, den Flur entlang zu seinem Zimmer, und als Peterson die Tür aufriss, war er bereits um die nächste Ecke verschwunden. Peterson schaute links und rechts den Korridor hinunter. Es war niemand zu sehen, aber er bemerkte die verräterischen nassen Fußabdrücke und einen kleinen Dreckklumpen am Boden. Die Fußabdrücke führten direkt zu Sayid Khalifs Zimmer.

Peterson wog die Risiken ab. Hatte der Junge etwas mit angehört? Er ging in sein Zimmer zurück. Wenn er Sayid jetzt zur Rede stellte, würde das womöglich den Verdacht in ihm wecken, dass sein Freund gerade auf dem besten Weg war, ernsthaft in Schwierigkeiten zu geraten.

 

Max’ Anschlussmaschine landete ein paar Stunden später in Namibia. Der Flughafen von Windhoek war klein, doch in dem Gebäude hatten sich südafrikanische Felsenschwalben eingenistet, und weißbäuchige Mauersegler schossen an dem Panoramafenster vorbei, das Ausblick auf das karge Buschland jenseits der Rollbahn bot. Eine bedrohliche schwarze Wolke wälzte sich wie ein riesiges wassergefülltes Ungeheuer ein Dutzend oder mehr Kilometer entfernt über den Horizont. Ein plötzlicher Sturm, angefacht durch gezackte Blitze, brachte den dringend benötigten Regen.

Die aufziehende Wetterfront erinnerte Max an zu Hause. Dartmoor war ein abgeschiedener, auch nicht ganz ungefährlicher Ort, aber diese endlos weite Wildnis könnte ihn einfach verschlingen, ohne dass jemals ein Mensch davon erfahren würde.

Max fühlte sich plötzlich sehr einsam und hatte, wie er sich eingestehen musste, auch Angst. Die Maschine nach Kanada war ein paar Stunden vor seinem Flieger nach Afrika gelandet. Vermutlich hatten seine Verfolger den Flughafen in Toronto und die Ankunft seines Doppelgängers beobachtet. War es ihnen gelungen, sie mit diesem Täuschungsmanöver auszutricksen? Falls nicht, hatten sie womöglich bereits herausbekommen, wo er sich jetzt befand. Max hatte gerade auf seinem Handy-Display nachsehen wollen, ob Sayid ihm eine Nachricht geschickt hatte, als er aus den Augenwinkeln einen Mauersegler sah, der mit elegantem Schwung zur Jagd auf ein Insekt ansetzte.

Der Vogel rettete ihm vermutlich das Leben.

Als Max aufschaute, um den Flug des Vogels zu verfolgen, sah er zwei Männer auf sich zukommen, die so aussahen, als würden sie ihr Geld mit Krokodil-Ringkämpfen verdienen. Der eine hatte lange Haare, trug ein Buschhemd und Kakishorts, und unter seiner platt gedrückten Nase wucherte ein struppiger, ungepflegter Bart. Die Narbe auf seiner Wange war nicht zu übersehen – eine weiße Schramme auf sonnengegerbter Haut, die der Bart nicht verdecken konnte. Der andere sah aus, als käme er direkt aus Hollywood: groß und breitschultrig, mit einem Brustkorb wie aus Beton, der drohte, jeden Moment aus dem T-Shirt zu platzen. Mit dem kurz geschnittenen Haar und der dunklen Pilotenbrille hätte er Model für jedes beliebige Top-Fashion-Magazin sein können. Stattdessen waren er und sein Partner offenbar Auftragskiller und hinter Max her.

Max brauchte nicht lange zu überlegen. Er rannte zur nächsten Tür, und sie folgten ihm, ein paar Leute zur Seite schubsend. Max durchquerte den für Passagiere verbotenen Personalbereich und kam in einen langen Gang mit Drahtkäfigen auf der einen Seite und einer Mauer aus Beton auf der anderen. Er hörte die Tür knallen, als die Männer ihm folgten, und riskierte einen Blick über die Schulter. Seine Verfolger waren zu breitschultrig, um neben einander den schmalen Gang entlanglaufen zu können, und so wich einer der Kerle auf die kleine Wendeltreppe aus Metall aus, die sich rechts von ihm durch die Drahtkäfige nach unten schraubte.

Narbengesicht hatte ihn fast eingeholt. Max spürte im Nacken, wie sich der Mann nach ihm streckte und legte noch einen Zahn zu. Narbengesicht fluchte laut, als Max ihm entwischte. Aber Max konnte nicht wirklich entkommen, und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis sein Verfolger ihn mit seinen Riesenpranken zu fassen bekam. Dann bemerkte Max das abwärtsführende Transportband, mit dem Gepäck und Frachtgut in die tiefer gelegene Ladezone geschafft wurde. Max presste sich seinen Rucksack wie ein Schwimmbrett vor den Bauch und sprang. Die Walzen ratterten, als er nach unten schoss. Sein Verfolger brüllte ihm etwas in einer fremden Sprache hinterher und trat wütend gegen einen der Drahtkäfige. Jetzt musste er zu der Wendeltreppe zurücklaufen. Max knallte gegen die stählerne Barriere am Ende des Beförderungsbandes und kippte hintenüber. Er rollte sich rückwärts ab, machte einen Satz über die niedrige Stahlstange und landete direkt in den muskulösen Armen von Mr Hollywood.

»Ich hab ihn!«, schrie der und zeigte lächelnd seine weiß gebleichten Zähne, die in einem fort einen ausgelutschten Kaugummi bearbeiteten.

Er hatte sich zu früh gefreut. Max warf den Kopf zurück, nutzte den Schwung, um seinen Körper ein Stück vom Boden zu heben, und stieß seine Fersen mit voller Wucht gegen den Knöchel des Mannes. Es war einer der schmerzhaftesten Selbstverteidigungstricks, die er kannte. Mr Hollywood schrie laut auf und öffnete verdattert den Mund, als Max seinen Kopf nach vorn schleuderte und gegen sein Kinn schlug. Max hörte Zähne klappern und ein leises gurgelndes Stöhnen. Ihm war klar, dass sich der Mann vermutlich ein Stück Zunge abgebissen hatte. Aber auch der Schock und die Schmerzen setzten den Kerl nicht außer Gefecht. Er stürzte sich auf Max, der ihm mit aller Kraft die Schultern in den Brustkorb rammte, wie bei einem Rugby-Angriff. Mr Hollywood wankte, stolperte über einen großen Koffer und verlor das Gleichgewicht. Er schlug rücklings hin und knallte mit dem Kopf gegen die scharfe Metallkante des Förderbandes.

Der Mann verdrehte die Augen und ein Blutschwall ergoss sich über sein T-Shirt. Jetzt war sein gutes Aussehen dahin.

Max warf sich den Rucksack über die Schulter und rannte zu den Ladebuchten. Wo steckten die bloß alle? Offensichtlich hielten sich die Arbeiter nur im Frachtbereich auf, wenn es etwas zu verladen gab. Bis jetzt hatte er großes Glück gehabt, das wusste Max. Wo war Narbengesicht? Max hörte hinter sich ein Motorengeräusch, und als er sich umwandte, sah er einen Gabelstapler, der direkt auf ihn zukam. Narbengesicht hatte das Gaspedal ganz durchgetreten, es stank nach Diesel, und die beiden Zinken des Gabelträgers fuhren hydraulisch auf Brusthöhe. Offenbar wollte er Max aufspießen wie einen Klumpen Dönerfleisch. Max drehte sich blitzschnell herum und rannte los – aber er konnte nirgendwohin. Er befand sich in einer Sackgasse. Zu beiden Seiten stapelten sich Kisten und Kartons neben Paletten mit allerlei Gerätschaften in die Höhe. Generatoren für die Industrie standen neben Kühlschränken für den häuslichen Gebrauch. Rohre und elektrische Kabel für die Bauwirtschaft wurden auf Kisten voller Haushaltswaren gelagert. Max rannte, so schnell er konnte, aber es waren nur noch vierzig Meter bis zum Ende der Gasse, wo ihn der Gabelstapler zerquetschen würde.

Verzweifelt sah Max sich um. Und wenn er auf einen der Frachttürme klettern und etwas Schweres auf seinen Verfolger werfen würde? Nein, das war aussichtslos, da ein schützender Käfig die Fahrerkabine des Gabelstaplers umschloss. Dann hatte Max einen Geistesblitz – das war seine einzige Chance. Er drehte sich um, stellte sich dem Untier von Maschine entgegen, das jetzt nur noch wenige Meter entfernt war. Max konnte nicht ausweichen. Narbengesicht würde das Lenkrad herumreißen und ihn gegen das Metallregal drücken. Max blieb stehen, wo er war: ein Matador, in Erwartung des angreifenden Stieres. Narbengesicht stutzte kurz – na, wenn der Junge meinte! Die beiden mächtigen Zinken des Gabelträgers befanden sich jetzt auf Brusthöhe. Max packte sie und verlor an dem glatten Metall um ein Haar gleich wieder den Halt. Wenn er nicht hinaufklettern konnte, dann musste er nach unten zwischen die Räder ausweichen. Wie ein Turner am Barren holte er Schwung und warf sein Bein über einen der Zinken.

Max saß jetzt rittlings auf dem Gabelstaplerarm, fast in Reichweite von Narbengesicht. Er saß so aufrecht wie möglich und funkelte seinen Angreifer an, der ihn nicht aus den Augen ließ. Der Bart teilte sich – ein Siegerlachen. Gleich würde er Max gegen das Regal am Ende des Ganges schmettern. Max starrte ihn an. Er sammelte seine restliche Kraft. Er musste dafür sorgen, dass dieser Soziopath nicht aufhörte, sein Augenmerk auf ihn zu richten. Max schrie und fluchte und spuckte aus, was er an Spucke in seinem ausgetrockneten Mund zusammenbekam. Narbengesicht hatte aufgehört zu lachen. Er spürte nur noch den Drang, Max zu töten, und der Aufprall stand unmittelbar bevor.

Dann, ganz plötzlich, ließ Max sich fallen und schwang unter den Metallarm, den er weiterhin umklammert hielt. In diesem Moment begriff Narbengesicht, dass Max’ Körper ihm die Sicht versperrt hatte. Schützend riss er einen Arm hoch, aber es war zu spät. Die Staplerzinken krachten in das Regal, das mit Rohren und Metall beladen war. Ein meterlanges Kupferrohr reagierte auf den Stoß, schoss wie eine Rakete nach vorne, über Max hinweg, und krachte auf den Angreifer. Rohrenden hagelten auf ihn herab wie ein Schauer tödlicher Pfeile. Max wurde vom Gabelarm geschleudert und landete in dem Regal, unterhalb der verbliebenen Rohre, die von ihrem Bord auf ihn herabprasselten.

Von blauen Flecken übersät und außer Atem kämpfte Max sich unter dem Metallhaufen hervor. Narbengesicht war entweder ohnmächtig oder tot. Kupferspeere steckten in seinem Oberkörper. Sie hatten ihn auf den Sitz gespießt. Der Motor des Gabelstaplers war abgesoffen.

Auf einmal war es sehr still.

Max brauchte dringend etwas zu trinken!

 

Zurück im Terminal, beugte sich Max über die Fontäne des Wasserspenders und trank so viel, wie der schwache Strahl hergab. Eine junge Frau im Kakianzug war hinter ihn getreten. Sie war stark gebräunt und sah so aus, als lebte sie schon immer in Afrika. Max schätzte sie auf ungefähr siebzehn. Sie lächelte, hatte leuchtend blaue Augen und kurzes, von der Sonne gebleichtes Haar. Sie war sehr schlank, aber muskulös wie eine Sportlerin. Ihre knielangen Shorts trug sie offenbar nicht eines Modetrends wegen, sondern mehr aus praktischen Gründen. Ein paar Fettflecke, eingetrockneter Staub und Dreck deuteten darauf hin, dass sie sich daran, wenn nötig, auch mal die Hände abwischte. Max war überrascht, und sein Herz pochte laut, aber nicht, weil sie ihn erschreckt hatte, sondern weil sie ihn jetzt ansah.

»Bist du Max?«, fragte die junge Frau.

»Ja«, brachte er schließlich hervor und wischte sich ein paar Wasserspritzer vom Kinn.

»Entschuldige, dass ich mich verspätet habe. Hatte ein Problem mit der Benzinleitung. Komm.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Moment mal«, rief Max ihr nach. Er wollte nicht wie ein Hündchen behandelt werden und würde nach dem, was er gerade durchgemacht hatte, niemandem blindlings folgen, egal, wie bezaubernd dieser Mensch auch aussah. Sie blieb stehen und wartete. »Ich weiß überhaupt nicht, wer du bist«, sagte er. Das konnte genauso gut eine Falle sein.

Sie schaute ihn an. »Ich bin Kallie van Reenen. Er hat gesagt, du wärst vorsichtig. Das ist hier draußen auch gut so – könnte deine Lebenserwartung steigern.« Sie zog eine Augenbraue hoch. Reichte das jetzt an Auskünften?

»Wer hat das gesagt?«

»Mister Farentino. «

Max nickte und folgte ihr. Wenn sie doch nur nicht so attraktiv wäre!

Sie verließen das Flughafengebäude und liefen ans andere Ende des Vorfeldes, wo die Privatmaschinen standen. Von hier aus starteten Safarianbieter oft mit ihren Kunden in die Wildnis. Farentino hatte Max’ Ankunft angekündigt, und da der Buschmann die in Gazellenhaut gewickelten Notizen Tom Gordons an Kallies Vater übergeben hatte, war sie der Ausgangspunkt für Max’ Suche.

Die Außentemperatur war ein Schock. Schweiß sammelte sich am Bund seiner Cargohose und bildete einen großen Fleck am Rücken des T-Shirts. Max wusste von früheren Reisen mit seinem Vater, dass er sich schnell akklimatisieren würde. Allerdings litt sein Körper noch immer unter den jüngsten Strapazen. Er stellte sich in den Schatten des Hangars und sah schweigend dabei zu, wie Kallie an einer alten einmotorigen Maschine alle für den Start erforderlichen Checks vornahm. Die Kiste sah aus, als habe sie ihr Mindesthaltbarkeitsdatum schon lange überschritten. Ihm fiel ein, was sein Vater von diesen alten Buschfliegern erzählt hatte: Sie waren schier unverwüstlich, wurden ständig gewartet und brauchten stets eine zertifizierte Flugtauglichkeitsbescheinigung. Daher hatte er jetzt auch keinerlei Bedenken.

Kallie überprüfte den Propeller auf mögliche Schäden, und danach kamen die Bremsklappen dran. Beinahe liebevoll strich sie über die Seiten der Maschine und kletterte schließlich an Bord. Max war nervös. Er rechnete damit, jeden Augenblick das Heulen von Polizeisirenen zu hören. Aber nichts geschah.

Er sah auf sein Handy-Display. Die Botschaft von Sayid war kurz:

 

Peterson weiß, wo du bist.

 

Max verzog das Gesicht. Danke, Sayid, aber das hatten ihm schon die jüngsten Vorfälle klargemacht.

»Okay!«, rief Kallie. »Los geht’s!«

In dieses Flugzeug zu steigen bedeutete, wieder mehr Abstand zu den möglichen Verfolgern zu gewinnen, die Peterson ihm auf den Hals gehetzt hatte. Er legte den Sicherheitsgurt an. Mit geübter Routine knipste Kallie die Kontrolllämpchen an, schaltete den Funk ein, kontaktierte den Tower und bekam Starterlaubnis. Max hatte einen Flugsimulator auf seinem Computer, doch die Instrumententafel dieser alten Kiste sah ganz anders aus als die der F-16, die er in der Simulation auf seinem Bildschirm zu steuern versucht hatte. Kein Zielschirm, keine Flughöhenanzeige, kein Radar. Schließlich gelang es ihm, die wichtigsten Instrumente zu bestimmen, während Kallie den Hauptstromschalter und die Lichtmaschine anmachte. An der Instrumententafel steckte eine zerfledderte Post karte. Die Laminierung warf Blasen, und die Kanten waren von der Hitze ganz braun und rissig. Es waren nur ein paar Worte darauf getippt: Fliegen Hat Sehr Zahlreiche Tücken und Klippen, Luft Ist Gefährlich.

»Was ist das?«, fragte Max, als Kallie den Gashebel leicht nach oben schob und darauf wartete, in Startposition gehen zu dürfen.

»Oh, mein Dad. Er macht sich Sorgen. Er hat mir das Fliegen beigebracht. Aber du weißt ja, wie Väter sind. Wollen einen um jeden Preis vor Fehlern bewahren.« Sie bemerkte den traurigen Ausdruck, der sich auf Max’ Gesicht legte. »Entschuldige, das war gedankenlos von mir. Unter den gegebenen Umständen.«

Max schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Ehrlich. Mein Dad ist genauso.«

Sie lächelte. »Dieser komische Spruch. Das ist eine Gedächtnisstütze. Eine … Wie heißt das gleich noch mal, wenn die Wörter einen an etwas erinnern sollen?«

»Eine Eselsbrücke.«

»Genau.« Sie zeigte auf die Großbuchstaben, jeder einzelne eine Gedächtnisstütze für einen Piloten. »F – Funkgerät anstellen, Fahrwerk kontrollieren. H – Höhenrudertrimmung kontrollieren. S – Seitenruder und Schubregler auf Start. Z – Zündmagneten an. T – Tankwahlschalter. K – Kraftstoffgemisch fett, Kurskreisel auf Kompass-Kurssteuerung, Klappen auf Start. L – Luken schließen. I – Instrumente kontrollieren. G – drei grüne Lämpchen.«

Max war schon jetzt klar, dass er Mühe haben würde, sich diese Eselsbrücke zu merken.

Mit monotoner Stimme antwortete Kallie jetzt auf die Anweisungen der Luftraumüberwachung, die sie per Kopfhörer erhielt. Die alte Cessna 185 klapperte wie ein Einkaufswagen voll leerer Dosen. Kallie ließ das Gas kommen, sah Max mit einem beruhigenden Lächeln an, und schon rollte die Maschine auf die Startbahn. Mit einem Mal rumpelten sie dem Horizont entgegen. Max verfolgte, wie der Geschwindigkeitsmesser von sechzig auf fünfundsechzig Meilen pro Stunde kletterte. Die Maschine war so alt, dass das Messgerät nicht mal Knoten anzeigte. Der Drehzahlmesser erreichte die Marke von zweitausendfünfhundertfünfzig, und Kallie zog die Maschine hoch in den Himmel, steuerte direkt auf die Berge zu, die für Max’ Geschmack viel zu dicht auf das Ende der Rollbahn folgten. Der lange allmähliche Aufstieg dauerte eine Ewigkeit, das Flugzeug wackelte und bebte.

Kallie lächelte ihm zu. »Bei dieser Hitze kann es in der Luft manchmal heikel werden.« Sie war anscheinend sicher, dass sie den Bergen, die nun in Windeseile auf sie zurasten, ausweichen konnte.

»Würdest du bitte nach vorn sehen«, murmelte Max.

 

Eine halbe Stunde später konnte er kaum noch seinen eigenen Gedanken folgen. Das Motorengeräusch war ohrenbetäubend, so als hielte man einen benzinbetriebenen Rasenmäher auf dem Schoß. Zudem gab es nur ein einziges Paar Kopfhörer, und das bedeckte Kallies Ohren. Sie flogen mit einer Geschwindigkeit von hundertdreißig Meilen pro Stunde. Durch das weite Land unter ihnen schlängelte sich eine Straße wie ein endloses Band. Max versuchte, sich auf die Berge zu konzentrieren, die jetzt rechts von ihnen in Schatten und Dunst gehüllt waren. Aber er fühlte sich elend.

»Es dauert nicht mehr lange!«, rief Kallie ihm zu. »Nur noch zwei Stunden!«

Max saß unbequem. Sein Rücken tat ihm weh. Die alten Sitze waren wie die altmodischen Stühle, die in der Aula seiner Schule standen. Außerdem konnte er kaum über die Instrumententafel hinausblicken. Wie sollte man landen, ohne den Boden zu sehen?

Die Maschine schaukelte sacht, ihre Nase mit dem Propeller, der kaum mehr als ein verschwommener Fleck war, über den Horizont gereckt. Der Höhenmesser hatte eine Skala nach Fuß, und die Nadel ging leicht über die Marke zwei hinaus. Etwas mehr als zweitausend Fuß also. Dann fiel die Cessna urplötzlich in ein Luftloch. Der Motor brummte schrecklich. Max’ Magen hob sich.

»Turbulenzen!«, rief Kallie. »Das kommt immer mal vor.« Max fühlte sich schmutzig, weil er nicht geduscht hatte, seit er aus Dartmoor fortgegangen war. Das Essen vom Langstreckenflug lag ihm wie ein Lehmklumpen im Magen, und der Lärm und die Hitze des Motors zermürbten ihn. Zudem war er von der Attacke am Flughafen noch immer ganz schön mitgenommen. Die Luftkrankheit drückte ihm die Kehle zu wie eine feuchte Hand.

Kallie sah zu ihm herüber. »Musst du dich übergeben?« Max nickte verlegen.

»Steck den Kopf zum Fenster raus.«

Sie drückte das Seitenfenster aus Plexiglas fünfzehn Zentimeter auf, so viel gab der Fensterriegel her, und Max schob den Kopf in den kalten Flugwind, der ihm ins Gesicht peitschte. Und dann übergab er sich. Der Mageninhalt verschwand hinter dem Heckleitwerk der Maschine. Am liebsten wäre Max auf der Stelle ausgestiegen. Doch es war ein weiter Weg bis zum Boden, wie sein Abendessen ihm demonstrierte.

Er beschloss, den Kopf an der frischen Luft zu lassen. Mit ein wenig Glück erfror er und war dann tot. Das würde ihm die Peinlichkeit ersparen, Kallie jemals wieder ins Gesicht blicken zu müssen.

Da hatte er ja einen tollen ersten Eindruck gemacht!

 

Brandts Kraal, die Farm in der Savanne, war ein Juwel in der ausgedörrten Landschaft. Ein kleines, aus einer unterirdischen Quelle gespeistes Wasserloch, schuf eine Oase der Kühle, etwa so groß wie ein Viertel eines Fußballfelds und umgeben von Palmen und Weiden. Das baufällige Haus war ein riesiger, viktorianischer Bungalow mit einer breiten, umlaufenden Veranda. Die weiße Farbe begann abzublättern und legte das Holz der Zierelemente an den Balken frei. Der Rost, die Zeit und die Wüste hatten, wo er auch hinsah, ihre Spuren hinterlassen.

Kallie kreiste mit der Maschine einmal über der Farm, fünfzig Meter über dem lädierten Dach, vollführte dann eine gekonnte seitliche Drehung und landete dicht neben dem Haus. Max war dankbar, dass er wieder festen Boden unter die Füße bekam. Die Hitze zehrte an seinen Kräften. Zwei Hunde, Kreuzungen verschiedener Rassen, krochen aus dem Dunkel unter dem Haus hervor, das, wie Max jetzt sah, auf flachen Backsteinpfeilern stand. Die Tiere knurrten ihn drohend an.

Kallie sprach beruhigend auf sie ein. »Sachte, Jungs. Kommt her.« Plötzlich freundlich, liefen sie mit wedelnden Schwänzen auf Kallie zu. Jetzt, da sie wussten, dass Max keine Gefahr darstellte, schnüffelten die Hunde an seiner Hand, während er sich umsah. Das Wasser versorgte offenbar auch einen Gemüsegarten und wurde als Trinkwasser für das Vieh genutzt. Diese Leute waren Selbstversorger im wahrsten Sinne des Wortes. Und da, wo Wasser ist, ist auch Leben in der Wildnis. Das lockte wiederum Jäger an. Ein Raubvogel zog gemächliche Kreise hoch über ihnen. Bedrohlich. Wie ein Aasgeier.

»Das ist ein afrikanischer Habichtadler«, erklärte Kallie, während Max eine Hand zum Schutz vor dem blendenden Sonnenlicht vor die Augen hielt. »Hier gibt’s viele Vögel und auch ein paar kleinere wilde Tiere. Ich hasse es zu sehen, wenn sie die Singvögel erbeuten, aber so ist das nun mal. Getötet werden ist hier draußen Alltag. Zumindest für die Tiere.«

»Sind deine Eltern auch hier?«, fragte Max, weil er mit einer förmlichen Vorstellung rechnete und sich schon Antworten zurechtgelegt hatte, auf die Fragen, die ihm gestellt werden könnten.

»Die sind geschieden. Dad hat ein neueres Flugzeug als diese alte Cessna. Er kümmert sich um die Kunden im Westen und im Norden. Es kommen viele Leute hierher, um Vögel zu beobachten. Macht sich auch bezahlt.«

»Du wohnst also allein hier?«

»Ich mach die Buchhaltung, kümmere mich darum, dass der Laden läuft. Für die schwere Arbeit hab ich ein paar Helfer, und die nächste Stadt ist mit dem Auto nur etwa eine Stunde entfernt. Das ist ziemlich bequem«, sagte sie.

»Ich dachte, das ist eine Farm«, sagte Max, als sie im Schatten der Veranda angekommen waren. »Aber ich sehe sonst niemanden.«

»War’s auch mal. Sie ging aber vor dreißig Jahren pleite.« »Und wo ist Mr Brandt?«

»Der ist schon vor hundert Jahren gestorben. Das hier war früher mal eine Wasserstelle für Viehtreiber, und danach kaufte Brandt das Grundstück. Wir haben den Namen beibehalten. Gab keinen Grund, ihn zu ändern. Und die Leute hier mögen Veränderungen auch nicht so.«

Die Leute? Max konnte kaum glauben, dass hier in der Nähe irgendjemand lebte.

 

Es war eine Wonne, in dem kühlen, trüben Wasser zu liegen, das fast über den Rand der gusseisernen Wanne schwappte. Es stammte aus derselben unterirdischen Quelle wie das Trinkwasser.

Kallie klopfte an die Badtür. »Wann bist du fertig?«

Ein einfaches Bett, umhüllt von einem Moskitonetz, stand in der Mitte eines Raums, der offenbar einem Sportler gehörte. Überall waren Bilder und Trophäen: vom Schwimmen, Rugby, Schießen, Hockey und Fußball. Es war das Zimmer von Kallies Bruder.

»Johan ist im Internat. Hör zu, du brauchst bessere Klamotten als die, die du anhattest. Du hast ungefähr die gleiche Größe wie mein Bruder. Ich hab mal was von seinen Sachen rausgesucht.« Leichte Kakihemden und -shorts lagen auf dem Bett, schon abgetragen, aber immer noch brauchbar.

»Wie alt ist Johan?«

»Siebzehn, genau wie ich. Und du?«

»Sechzehn, fast siebzehn«, log Max. Er war kräftig genug, um damit durchzukommen, und er wollte sie beeindrucken.

Sie sah ihn an und wandte sich ab. »Wir müssen was essen – und reden. Zieh dich an.«

Ganz beiläufig sagte sie ihm, was er zu tun hatte. Es gefiel ihm nicht, aber die Leute hier hatten wohl nicht viel Gelegenheit, an ihrem Ton und ihren Umgangsformen zu feilen. Er ließ das Handtuch von der Taille gleiten und schlüpfte in die Sachen ihres Bruders.

Als er auf der Veranda saß – die Kallie auf Afrikaans stoep nannte –, ging die Sonne gerade mit sanftrotem Schein unter und überließ das Land den kühlenden Schatten. Die Nacht bricht schnell herein in diesen Breiten, und als das Essen auf dem Tisch stand, war der Himmel bereits rabenschwarz. Hinter dem Wasser und den Bäumen stieg ein gelber Vollmond auf. Es war das Wunder unbelebter Orte, das Max schon vorher miterlebt hatte: Kristallklare Nächte, ohne die Trübung durch die Lichter der Stadt, verliehen den Sternen die Klarheit von Wasser. Es waren so viele, dass der Himmel funkelte. Und auch jetzt staunte Max wieder darüber, dass dieser Mond, der zum Greifen nah aussah, die Menschheit von Anbeginn begleitet hatte.

Einer der wenigen Farmarbeiter zündete eine Öllampe an, und die Nachtkäfer und Motten kamen, angezogen von der tödlichen Flamme.

Die erste anständige Mahlzeit seit zwei Tagen! Es gab Fleisch mit Gemüse, zubereitet von einer Hausangestellten mit mongolisch anmutenden Gesichtszügen. Sie hatte hellere, fast aprikotfarbene Haut, hohe Wangenknochen und schräg stehende Augen. Während Max kaute, erklärte Kallie, woher die Frau stammte. Sie war eine Nachfahrin der Buschmänner, der nomadischen Jäger und Sammler, deren Lebensweise man praktisch nicht mehr vorfand. Vor zweihundert Jahren machten Kolonialisten und einheimische Stämme gleichermaßen Jagd auf sie, und obwohl die Buschmänner nie Land besessen hatten – Besitzvorstellungen waren ihnen fremd –, wurden die Gebiete, in denen sie jagten, von der Regierung beschlagnahmt und sie selbst in ein Reservat gepfercht. Es klang genau wie die Geschichte, die Max über die amerikanischen Ureinwohner gehört hatte.

»Mein Vater hat für die Buschmänner getan, was er konnte«, sagte Kallie. »Sie sind etwas ganz Besonderes. Es gibt nicht viele Menschen, die sie verstehen können, denn ihre Sprache ist extrem schwer zu erlernen. Man muss dauernd mit der Zunge gegen Zähne und Gaumen stoßen – unterschiedliche Töne, unterschiedliche Betonung. Entschuldige, viel taugt die Erklärung nicht, oder?«

Kallie drehte sich um und sprach leise mit der alten Frau, die ihnen das Essen aufgetragen hatte. In Max’ Ohren hatten die Wörter einen sanften, rhythmischen Klang, und er konnte verschiedene Klicktöne unterscheiden. Die Frau nickte und entfernte sich mit abgewandtem Blick.

Kallie bemerkte Max’ Neugierde.

»Starr sie nicht an, Max. Anstarren gilt in der Kultur der Buschmänner als unhöflich.«

»Entschuldigung«, murmelte Max. »Ich weiß nicht viel über die Eingeborenen hier.«

Kallie verstummte für einen Moment. »Buschmänner sind im Grunde genommen Gefangene. Sie sind Gottes Geschöpfe, der roten Erde so nah wie die Tiere, die darüber hinwegziehen. Und jetzt sagen wir, sie müssen in Siedlungen leben oder in Reservaten, aber sobald der Regen aufzieht und Blitze die Wolken vor sich hertreiben, müssen sie da draußen sein. Ihr Geist lebt in der Wüste. Wenn man einen dieser Menschen ins Gefängnis steckt, stirbt er, und wenn sie in der Wildnis bleiben, kommen viele vor Hunger und Durst um. Die Klimaveränderung, die Wilderei, der seltene Regen und das einundzwanzigste Jahrhundert – da haben sie kaum noch eine Chance.«

Kallie sah ihn forschend an, und Max spürte, wie ihm das Blut in die Wangen schoss. Er schaute weg. Max wollte so viel über sie wissen, hatte so viele Fragen an Kallie, aber das gehörte sich vermutlich nicht. Er schwieg.

»Warum bist du hier?«, fragte Kallie stattdessen.

»Was meinst du? Wegen meines Dads natürlich. Warum sonst?«

»Ich weißes nicht.« Sie blickte über den dürren Grasstreifen. »Dieses Land bringt viele Menschen um, Max. Vielleicht solltest du mit dem Schlimmsten rechnen.«

»Ich möchte die Dinge gern positiver betrachten. Ich glaube, mein Dad ist am Leben.«

»In Ordnung! Mein Vater hat für die Buschmänner immer getan, was er konnte, weißt du, und deshalb hat auch einer von ihnen diese Feldaufzeichnungen zu uns gebracht. Er hat sich von seiner Familie da draußen getrennt, um das zu tun. Mein Dad war der einzige Weiße, dem sie vertrauen konnten. Das ist unser einziges Verbindungsglied zu dem, was womöglich passiert ist.«

»Und ich weiß es sehr zu schätzen, dass du mich mitgenommen hast und ich hierherkommen durfte.«

Kallie sah zur Seite, und Max folgte ihrem Blick. Die alte Frau war mit einer Laterne zu den Weiden am Wasser gegangen, wo sie jemanden zu sich rief. Ein Buschmann-Junge von ungefähr dreizehn trat hervor. Er war schmal gebaut, hatte ein offenes, angenehmes Gesicht und lächelte. Der Junge verneigte sich respektvoll vor der alten Frau. Bekleidet war er nur mit einem Lendenschurz, der mit einem einfachen rot-blauen Muster bestickt war. Er trug einen Köcher mit bleistiftdünnen Pfeilen und einen kurzen Jagdbogen über der Schulter. Zudem hielt er einen Speer in der Hand. Der Junge nickte, als die alte Frau mit ihm sprach, und dann sah er zu Max und Kallie herüber.

»Er hat vor vier Wochen die Aufzeichnungen deines Vaters hierhergebracht. Lange bevor Mr Farentino uns kontaktiert hat. Seitdem ist er bei uns.«

»Hier?«, fragte Max. »Arbeitet er jetzt auf der Farm?«

Der Junge stand reglos da, ein dunkler Umriss vor dem riesigen Mond.

»Nein, du verstehst mich nicht richtig«, sagte sie. »Dieser Junge hat auf dich gewartet. Er sagt, es stehe geschrieben, dass du kommst. Du scheinst in so etwas wie einer alten Prophezeiung aufzutauchen.«