20

Shaka Chang ächzte vor Anstrengung. Der Mann hatte ihn von hinten überfallen, als er noch einen anderen Angriff von vorne abzuwehren hatte. Doch Chang schüttelte ihn ab. Der Erste ging mit einem Messer auf ihn los. Shaka Chang warf sich ihm entgegen, blockte den Arm des Mannes mit einem Scherengriff und rammte ihm seine Schulter in die Brust, sodass der Angreifer hörbar nach Luft rang. Nun packte er sein Handgelenk und bog es mit einem Ruck nach hinten. Das Messer fiel zu Boden, der Mann schrie vor Schmerz, und gerade als Chang zu einem kräftigen Tritt ausholte, um ihn unten zu halten, stürmte der zweite Angreifer erneut von hinten auf ihn zu.

Slye stand in der Tür, gelähmt vor Entsetzen. Er hasste brutale Gewalt. Er hätte sich auch nicht bewegen können, falls er selbst irgendwie da hineingezogen wurde.

Chang bekam einen Schlag in den Nacken, der ihn vorübergehend betäubte. Er sackte auf die Knie, und der Mann schlang ihm von hinten einen Arm um die Kehle. Ein Knie steckte im Rücken und der Arm verharrte an genau der richtigen Stelle, um das Opfer bewusstlos zu machen oder zu töten. Der Angreifer war genauso groß und stark wie Chang. Dieser hatte ihn nicht kommen hören. Aber genau dafür entlohnte er diese Leibwächter schließlich so großzügig. Sie waren sehr gut in ihrem Job, aber Chang wollte noch besser sein als diese Profis. Er wollte in allen Dingen besser sein als jeder andere.

Chang rollte herum, ließ sich vom Gewicht des Mannes umwerfen und stieß hart mit dem Ellbogen zu. Erst nach drei oder vier harten Schlägen gab der andere endlich nach.

Die Männer lagen keuchend auf dem Boden und erholten sich langsam von den Schmerzen, die sie sich zugefügt hatten. Shaka Chang massierte sich den Hals und griff nach einem Handtuch, als er Slye entdeckte, der nervös darauf wartete, dass er herangerufen wurde.

Die wöchentlichen Trainingsstunden in der Übungshalle des Forts hielten Chang in Form; die Leute sollten nie vergessen, dass er ein geborener Krieger war. Chang tupfte den Schweiß ab, der sich um sein Armband gebildet hatte. Es war aus Jade, Moldavit und Gold gefertigt. Das legte er niemals ab. Es war sein Talisman. Jade aus China, der Heimat seiner Mutter, bedeutete Schutz; das Gold stammte aus seiner Heimat und war so fest geschmiedet, dass das Armband nie kaputtgehen konnte. Und die Moldavitsteinchen bargen Bruchstücke von Leben – eingesargte Geheimnisse – aus einer Zeit, als der Mensch noch nicht auf Erden weilte. Eine Legende sagte, das dieses grüne, durchscheinende, meteoritische Glas, das Fragment eines massiven Einschlags vor fünfzehn Millionen Jahren, die Energie zwischen Außerirdischen und Menschen transportiere. Shaka Chang konnte sich an der Schönheit dieses einzigartigen Armbands nie sattsehen.

Slye gab sich Mühe, nicht die Nase zu rümpfen, als Chang ihn mit einem Nicken zu sich bat. Immer roch es hier nach Schweiß. Ein durchdringender Gestank wie in einem Umkleideraum nach einem Fußballspiel oder in einem Stall voller Pferde nach einem Rennen, oder gar, dachte er angewidert, wie dieser ungewaschene, furzende Wächter.

»Mr Chang, Sir. Haben Sie einen Moment Zeit?«

Chang trocknete sich mit dem Handtuch ab. »Was gibt es? Haben Sie mit Schernastyn gesprochen? Hat er etwas in Erfahrung gebracht?«

»Leider nein«, antwortete Slye.

»In wenigen Stunden geht das größte Wasserkraftwerk Afrikas in Betrieb; wir haben Stämme umgesiedelt und unzählige Dollar investiert, und viele Menschen werden sterben, wenn ich die unterirdischen Wasservorräte vergifte. Ich werde die gesamte Wasserversorgung im südlichen Afrika kontrollieren. Ich kann Regierungen erpressen – Diamantenminen, Goldminen, Landwirtschaft, Naturparks, Tourismus –, überall wird Wasser gebraucht! Und weil ein Mann, ein einziger Mann, meinen Plan kennt –, ist das alles in Gefahr! Aber ich lasse mich nicht aufhalten!« Changs Stimme war zu einem lauten Gebrüll angeschwollen, und Slye kniff die Augen zusammen, als blase ihm ein Sturm oder eher ein ausgewachsener Hurrikan mitten ins Gesicht.

Chang hörte auf, doch sein Schweigen war fast so bedrohlich wie sein Geschrei. Er stand direkt vor Slye, der es irgendwie geschafft hatte, seine Würde zu wahren und aufrecht stehen zu bleiben. »Hören Sie, Mr Slye. Bei keinem Menschen ist das Gedächtnis so tief verschüttet, dass man es nicht mithilfe geeigneter Werkzeuge ausgraben könnte. Ich will wissen, wo Tom Gordon das Beweismaterial versteckt hat, ich will es auf einem Tablett serviert bekommen, und es ist mir egal, wie viel Blut dafür fließen muss. Haben wir uns verstanden?«

Slye nickte. Jetzt würden Tom Gordon große Schmerzen zugefügt werden.

»Sonst noch was, Mr Slye?«

»Ein Junge. Wir haben einen Buschmann-Jungen gesichtet, der offenbar direkt nach Skeleton Rock unterwegs ist. «

»Ein Kind? Warum sollte ein Kind hierherkommen?« Shaka Chang dachte kurz nach, seine dunklen Augen schienen in Slyes Seele zu kriechen. »Es sei denn …«, sagte er beinahe freundlich, »das ist der Junge, der Gordons Sohn begleitet hat. Hatten Sie mir nicht versichert, die beiden Jungen seien tot?« Er ließ Slye nicht aus den Augen, als er durch das offene Fenster auf die Wüste zeigte. »Sie haben in Ihrem Organizer notiert, dass diese Jungen tot sind. Richtig?«

»Die Chancen, dass sie nicht lange leben würden, waren meinen Berechnungen zufolge sehr gut. Bei diesen extremen Bedingungen wie der Lufttemperatur von fünfzig Grad würde sich nicht mal ein Skorpion ohne Weiteres ins Freie wagen – allein das musste tödlich sein. Hinzu kam, dass sie weder Essen noch Wasser hatten, dass sie Angriffen wilder Tiere schutzlos ausgesetzt waren und überhaupt nicht wussten, wer wir sind und wo wir sind. Das alles zusammen, Mr Chang, Sir, hat mich zu dem Schluss gebracht, dass sie spätestens vor drei Tagen gestorben sind.«

»Aber?«

»Aber … Buschmänner sind … Buschmänner.«

»Die beiden hätten also überleben können?«

»Der Buschmann-Junge vielleicht. Max Gordon ganz bestimmt nicht. Warum sollte der Buschmann-Junge dann auch allein hier auftauchen?«

Shaka Chang lächelte sein Faktotum mit seinen perfekten weißen Zähnen an. »Warum? Vielleicht, weil Max Gordon bereits hier in der Nähe ist. Weil er noch lebt. Weil er das Geheimnis entdeckt hat, hinter dem wir her sind. Vielleicht haben Sie das alles unterschätzt, Mr Slye.«

Slye, leicht pikiert über die Andeutung, dass er versagt haben könnte, sagte gar nichts mehr.

»Sehen Sie nach dem Vater des Jungen, sagen Sie Schernastyn, ab jetzt sind alle Mittel erlaubt, und bringen Sie mir diesen jungen Buschmann. Tot oder lebendig. Diesmal will ich es mit eigenen Augen sehen.«

Shaka Chang warf Slye sein Handtuch ins Gesicht. Slye wurde fast ohnmächtig von dem erstickenden Schweißgestank.

 

Max trat zwischen die Teile des Landrovers. In seinem Magen breitete sich Panik aus, drohte nach oben zu steigen und ihn ganz in ihre Gewalt zu bekommen. Es war undenkbar, dass Shaka Changs Männer nach dieser gründlichen Arbeit das Beweismaterial, was auch immer das sein mochte, nicht gefunden hatten. Die Erinnerung seines Vaters war womöglich für immer gelöscht. Was, wenn sich Tom Gordon nur einbildete, dass der Beweis hier versteckt war? Die Sache war hoffnungslos.

Ein kleiner Vogel flatterte herein und landete neben dem zerlegten Landrover. Kühler, Motorhaube und Scheinwerfer, sauber voneinander getrennt, lehnten an der Wand. Die vordere Karosserie mit den leeren Scheinwerferhöhlen und der breiten Kühleröffnung erschien Max wie ein Totenschädel. Der Vogel flog zwitschernd in die Höhe und setzte sich neben die Wassertasche aus Jute, die noch an ihrer ursprünglichen Stelle an der Vorderseite des Landrovers hing. Der Wasserbeutel, der das Wasser in der sengenden Hitze kühl hielt, weil sich auf der rauen Oberfläche eine dünne Schicht Kondenswasser niederschlug, war in der Wüste lebenswichtig. Der Vogel trank ein paar Tropfen des Kondenswassers, und als er seinen Durst gestillt hatte, flog er wieder davon.

Max stand da wie angewurzelt: Er dachte an den Wasserbeutel an van Reenens Landrover, den Kallie ihm mitgegeben hatte; wie er ihn bei dem Überfall verloren und welche Angst er dann gehabt hatte, in der Wildnis verdursten zu müssen. Wasserdicht. Wasser dicht. Dicht am Wasser?

Er hastete hin und nahm den Beutel vom Haken. Schwer, prall gefüllt mit Wasser. Max schraubte den Deckel ab und schnüffelte. Es roch, wie es riechen sollte, und so nahm er erst einmal einen Schluck. Kühles, erfrischendes, Leben spendendes Wasser. Aber das konnte noch nicht alles sein. Er drückte und betastete den Beutel, bis seine Finger an etwas Hartes stießen. Als er ihn umdrehte und das Wasser auslaufen ließ, musste er sich an die alberne Begebenheit erinnern, wie er in der Dartmoor High einmal nach einer eiskalten Nacht eine Wärmflasche ausgeleert hatte. Schließlich war der Beutel leer, und jetzt fühlte er deutlich etwas Viereckiges, das aber unmöglich durch die enge Öffnung da hineingeschoben worden sein konnte. Er untersuchte die Naht. Jemand hatte den Stoff aufgetrennt und dann wieder zugenäht.

Max nahm ein Messer von der Werkbank und schnitt die Naht auf. Er schob eine Hand hinein und packte etwas Viereckiges, das kühl und in etwas Weiches eingepackt war. Er nahm es heraus. Eine DVD-Hülle, wasserdicht mit Klebeband umwickelt.

Er rubbelte die Hülle trocken. Der Klebstoff hatte sich so verhärtet, dass er das Band nicht mit dem Fingernagel aufritzen konnte. Auf der Werkband fand er ein Teppichmesser, mit dem sich das Klebeband mühelos zerschneiden ließ. Auf die glänzende DVD waren mit schwarzem Stift drei Worte geschrieben: Shaka Chang Beweis. Max kam sich vor, als habe er den Heiligen Gral gefunden. Die Geheimnisse über Leben und Tod waren hier verzeichnet.

In seinem Kopf wirbelte alles durcheinander. Er musste das Beweismaterial von hier fortbringen, denn er konnte jederzeit erwischt werden, und das geniale Versteck der DVD hatte er gerade zerstört. Er musste seinen Vater retten und die DVD zur Polizei bringen. Er konnte sich nicht allein darauf verlassen, dass die Kavallerie hier auftauchte und ihn rettete, jedenfalls nicht rechtzeitig, falls überhaupt. !Koga, Kallie, Sayid. Bitte helft mir. Irgendjemand muss doch kommen. Was soll ich tun?

Sayid!

Max schob Schernastyn vors Motordiagnosesystem. Das Ganze machte einen ziemlich verwirrenden Eindruck. Mit einigen Spielkonsolen und seinem Computer kannte Max sich ja aus, aber das hier war etwas ganz anderes, viel komplizierter. Andererseits funktionierten alle Computer nach demselben Prinzip. Irgendwo musste man ihn einschalten können. Er fand einen großen Knopf, das musste es sein. Ohne weiter nachzudenken, drückte er ihn, und schon erwachten die Monitore zum Leben.

Auf einem blauen Bildschirm setzte sich aus verschiedenen Puzzleteilen eine Liste von Shaka Changs Unternehmen zusammen, in die, wie von unsichtbaren Händen geworfen, zwei Speere flogen und ein X bildeten. In jedem Quadranten des X blinkte ein Cursor. Und über den Speeren erschienen acht Buchstaben: PASSWORT.

In solchen Situationen hätte man Sayid in Gold aufwiegen können, aber jetzt war er nicht da. Wahrscheinlich hockte er gerade vor seinem Computer und spielte eins dieser Spiele, die er immer gewann. Max beugte sich zu Schernastyn hinunter und packte den Rand des Klebebands, das noch immer auf dem Mund des Mediziners haftete.

»Ich kann das jetzt langsam oder schnell abreißen – langer Schmerz, kurzer Schmerz –, aber so oder so wird Ihnen der halbe Bart dabei abgehen. Es ist Ihre Entscheidung.«

Schernastyn grunzte um Gnade. Max wartete. »Nicken heißt langsam, Kopfschütteln heißt schnell.«

Schernastyn kniff die Augen zu, machte sich dann auf den Schmerz gefasst und schüttelte den Kopf. Max riss das Band mit einem Ruck ab; mit lautem Ratschen lösten sich die Barthaare aus Schernastyns Gesicht. Er wollte schreien, aber Max presste ihm die schmutzige Hand auf den Mund. »Ein Wort, und ich schicke Sie und den Rollstuhl da runter«, sagte er und zeigte zur Rampe mit den Schienen, die zum Fluss und den Krokodilen hinunterführte. »Wenn jemand Sie schreien hört, ist es zu spät. Verstanden?«

Schernastyn nickte heftig. Max nahm die Hand von seinem Mund. »Ich gebe Ihnen eine Chance, aber nur eine einzige.«

»Hör zu, mein junger Freund, du bist dieser Sache gar nicht gewachsen, du hast keine Vorstellung davon, was hier läuft.« Er deutete mit dem Kinn auf die DVD in Max’ Hand. »Wenn es das ist, was wir gesucht haben, kommst du zu spät. Verstehst du? Überleg mal, in was für einer Lage du bist. Du kannst die Tausende von Leuten nicht retten, die jetzt bald sterben werden. Du hast nämlich überhaupt keine Vorstellung davon, was Shaka Chang getan hat.«

Schernastyn genoss es, ein Geheimnis zu kennen, von dem sein Gegenüber nichts wusste. »Du kommst aus diesem Fort niemals raus, und das weißt du auch.«

»Haben Sie Zugang zu diesem Computersystem?«

»Ja. Man kommt leicht hinein, vorausgesetzt, man kennt das Passwort.«

»Und Sie kennen das Passwort?«

Schernastyn zögerte kurz. Max sah ihn drohend an. Der Arzt steckte in einem tödlichen Dilemma. Wenn er Max nicht das Passwort verriet, wurde er an die Krokodile verfüttert. Und wenn er es tat und Chang dahinterkam, dass er es getan hatte, wurde er erst recht an die Krokodile verfüttert.

War der Junge wirklich dazu fähig? Konnte er das tun? Er war doch noch ein Kind. Er sah Max an. Völlig verdreckt, kein Gramm Fett am Leib, keine Pickel, von der Sonne gebräunt, die Fingernägel abgebrochen und schmutzig, eine sehnige Gestalt, kristallklare blaue Augen, die unnachgiebig unter dem zerzausten blonden Haarschopf hervorblickten.

Ein kleiner Junge.

Aber er wirkte äußerst entschlossen, und Schernastyn hatte seinen Vater gefoltert. Kein Zweifel, Max war alles zuzutrauen. Er würde es tun. Vielleicht war er ja das kleinere Übel. »Aleyssia Petrowitsch«, sagte Schernastyn schließlich.

»Aleyssia Petrowitsch ?«

»Eine Frau, die ich einmal geliebt habe. Das verstehst du nicht.«

»Buchstabieren Sie das! «

Schernastyn buchstabierte den Namen seiner verflossenen Liebe, und Max tippte die Buchstaben ein. Er drückte auf Enter und war drin.

»Wenn du mal älter bist, wirst du eines Tages so einer Frau begegnen, und sie wird dich …«

Max klebte ihm den Mund wieder zu.

»An Ihrem kläglichen Liebesleben habe ich nun wirklich kein Interesse, Doktor.«

Er suchte hektisch nach einem DVD-Laufwerk. Es gab keins. Er fand nur ein Kabel, das zu einer glatten Box führte, die ihn mit weit geöffnetem Maul aufzufordern schien, sie zu füttern. Max schob die DVD hinein und betete, dass sie nicht beschädigt war.

Der Computer war ungeheuer schnell. Viele Abbildungen, Tabellen, Landschaftsaufnahmen, Statistiken, Fotos von toten Buschmännern, Ergebnisse von Wasserproben, eingescannte handschriftliche Notizen; alles huschte mit rasender Geschwindigkeit über den Bildschirm. Informationsfetzen bombardierten sein Gehirn: Pharmakonzerne und Geld, Millionen, das Gesicht seines Vaters, der in die Kamera sprach. Noch mehr Fotos von toten Buschmännern, zwanzig oder dreißig Leichen, Männer, Frauen und Kinder. Und dann wieder Max’ Vater, der sein Geheimnis in die Kamera sprach.

»Was ich hier zusammengestellt habe, sind eindeutige und vernichtende Beweise für die Korruption multinationaler Konzerne und die Absicht eines Mannes, aus purem Machtstreben Tausende von Menschen zu ermorden.«

Max hielt das Bild an und betrachtete fasziniert das Gesicht des Mannes, den er als seinen Vater in Erinnerung hatte. Dieser starke Mann sah ihm direkt in die Augen, und obwohl er leise sprach, war seine Stimme fest und überzeugend, die Worte sorgfältig gewählt. Das war nicht der ausgemergelte, kraftlose Mann, den er eben noch in den Armen gehalten hatte. Er ließ das Bild weiterlaufen und hörte seinem Vater zu, der wie ein Kriegskorrespondent vor laufender Kamera berichtete, was er herausgefunden hatte. Dass westliche Pharmaunternehmen viele Jahre lang gesetzlich gezwungen waren, alle ihre unerwünschten Medikamente zu beseitigen. Die Kosten waren gewaltig, die Menge enorm, geradezu unglaublich. Und die Regierungen gewährten den Unternehmen Steuervergünstigungen in Millionenhöhe, damit sie diese oft giftigen Medikamente auf legale Weise entsorgen.

Max flüsterte: »Aber was hat Shaka Chang damit zu tun?« Und als hätte er die Frage gehört, sprach sein Vater auf dem Video weiter.

»Jahrelang, schon seit Beginn des Staudammprojekts, hat Shaka Chang diesen Unternehmen ein Entsorgungskonzept angeboten. Er vergräbt ganze Schiffsladungen dieser tödlichen Medikamente. Aus Sicht der Pharmakonzerne haben sie die unerwünschten Medikamente bei jemandem abgeliefert, der ihnen das Problem ihrer Beseitigung abnimmt. Shaka Chang hat die Regierungen der Staaten im Süden Afrikas hinters Licht geführt. Sie glauben, er liefert Material für den Bau des Staudamms an. Korrupte Zoll- und Regierungsbeamte helfen ihm dabei, aber sie ahnen nichts von den Konsequenzen ihrer Mittäterschaft. Mein Assistent Anton Leopold und ich haben seine Frachtroute bis Walvis Bay recherchiert. Von dort lässt Chang die Container zu einem großen unterirdischen Depot transportieren, das alle Welt für einen Teil des Staudammprojekts hält. Die Pharmaunternehmen zahlen ihm mehr Geld, als es kosten würde, den Damm zu bauen. Alle sind zufrieden.«

Max’ Vater wirkte nervös, immer wieder unterbrach er sich, ging von der Kamera weg, kam wieder und wirkte noch gehetzter. »Man ist hinter mir her. Ich habe Anton in Walvis Bay gelassen. Er sollte versuchen, noch mehr Beweise zu sammeln, nachdem wir jetzt wissen, woran die Buschmänner gestorben sind. Ich weiß nicht, was ihm zugestoßen ist, aber fest steht, dass die Medikamente teilweise ins Grundwasser gesickert sind, und wenn Chang die Schleusentore öffnet, werden diese Chemikalien in sämtliche Wasserläufe des südlichen Afrika gelangen. Das einzige saubere Wasser wird dann unter seiner Kontrolle stehen. Regierungen und Industrie werden ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein. Noch schlimmer ist aber, dass mit Sicherheit alle Lebewesen, die von dem verseuchten Wasser trinken – Tiere und Menschen – sterben werden. Ich tue, was ich kann, um diese Information zu verbreiten …«

Plötzlich verstummte Max’ Vater und schien in Deckung zu gehen. Als er nach einer Automatikpistole in seinem Hosenbund griff, bemerkte Max zum ersten Mal, dass er einen groben Verband am Bein trug. Das Video musste nach dem Angriff auf sein Flugzeug entstanden sein. Sein Vater sah nicht mehr ins Objektiv, sondern hielt Ausschau nach irgendetwas außerhalb des Aufnahmewinkels. Er streckte eine Hand aus, packte etwas, das Bild wackelte heftig, Füße rannten, Himmel, Erde … schwarz.

Der stumme, leere Bildschirm wartete auf eine Reaktion von Max.

Er fröstelte, aber nicht vor Angst, sondern vor eisigem Zorn. Max war im Zentrum des Bösen gelandet. Er war ganz in der Nähe des Mörders Shaka Chang. Und alles, was getan werden musste, um diese Katastrophe aufzuhalten, lastete auf Max’ Schultern. Diesmal fragte er nicht erst nach, bevor er Schernastyn das Klebeband vom Gesicht riss.

Schernastyn schrie auf.

»Ist noch Zeit, Chang aufzuhalten?«

Auf Schernastyns geschwollenem, halb rasiertem Gesicht erschien ein hämisches Grinsen. »Morgen ist es zu spät, mein junger Freund. Morgen öffnet er die Schleusentore.«

»Wann genau?«

Schernastyn schüttelte den Kopf. Das war der Schlüssel zu Changs Erfolg, und wenn Chang jemals erfahren sollte …

Max knurrte ihn an und stieß den Rollstuhl in Richtung Rampe. Er rollte dahin wie ein Kinderwagen, und Schernastyn schrie. Max hatte alle Vorsicht fahren lassen; die Gefahr, dass Schernastyns Angstschrei gehört wurde, musste er auf sich nehmen.

»IstjagutistjagutistjaGUUUT! «, kreischte Schernastyn. Max erwischte den Rollstuhl gerade noch rechtzeitig, bevor er auf die Rampe kippte.

»Ja, ja, ja!« Schernastyn keuchte. »Morgen bei Sonnenuntergang, da wird er die Schleusentore öffnen … eine Woche früher als geplant … bevor alle zu der großen Eröffnungsfeier kommen.«

Schernastyn starrte Max verzweifelt an. Er schwankte bedrohlich über dem Rand der Rampe. Wenn Max ein schlechter Mensch gewesen wäre, dann wäre Schernastyn in wenigen Sekunden in Stücke gerissen worden.

»Keine Angst, Doktor, ich brauche Sie noch eine Weile. Ich muss durch die Sicherheitsschleuse zu meinem Vater zurück. Hätten Sie vorhin daran gedacht, hätten Sie vielleicht den Mund gehalten, was?«

Max schob ihn vor den Computer zurück, nahm die Maus und klickte, bis er das Mailprogramm gefunden hatte und feststellte, dass Shaka Chang über eine schnelle Breitband-Satellitenverbindung verfügte. Er tippte Sayids Adresse ein und schrieb ein paar Worte zum Inhalt der DVD seines Vaters.

 

Ich habe Dad gefunden, man hat ihn gefoltert. Skeleton Rock. Brauche Hilfe. Staudamm wird morgen bei Sonnenuntergang geflutet. Max.

 

Er klickte auf Senden.

Es ging blitzschnell. Der gesamte Inhalt der DVD war abgeschickt. Er betete, dass Sayid wie versprochen wartete. Jetzt musste Max nur noch seinen Vater retten, verhindern, dass die Schleusentore des Damms geöffnet wurden, und fliehen.

Das war alles.