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Kallie van Reenen verließ das Haus, als alle noch schliefen. Ihr war elend zumute. Die Fotos des toten Anton Leopold und der Hinweis auf Peterson bestätigten, dass zwischen Chief Inspector Mike Kapuo, dem Mann, dem sie und ihr Vater vertrauten, und denen, die Max jagten, eine Verbindung bestand. Kallie wollte nicht, dass man sie suchte, und legte Kapuo deshalb einen Zettel hin, sie sei für ein paar Stunden in die Stadt gegangen und würde später am Vormittag in sein Büro kommen. Sie konnte ja nicht einfach verschwinden, denn Kapuo durfte keinen Verdacht schöpfen.

Nur Thandi Kapuo war bereits wach, als sie ging. Kallie konnte sie leicht dazu überreden, ihr kurz das Handy zu leihen, denn sie musste eine dringende Nachricht an Sayid schicken. Die vierzehn Jahre alte Thandi war von ihren Eltern zu Stubenarrest verdonnert worden, und da zwischen beiden Seiten totale Funkstille herrschte, war Kallie zu helfen eine Möglichkeit, es ihren Eltern heimzuzahlen. Kallie war sehr froh, dass sie wenigstens Sayid vor Peterson und seinen Verbindungen warnen konnte.

Als sie an den Docks ankam, herrschte dort bereits reger Betrieb. Schiffscontainer wurden gestapelt und dann einer nach dem anderen von Kränen hochgehoben und auf die Ladeflächen wartender Lkw transportiert. Luftdruckbremsen zischten wie Dampfturbinen, die ihrer Kraft endlich freien Lauf lassen konnten. Im ersten Gang rollten die überlangen Trucks langsam an, um die Fracht an ihren endgültigen Bestimmungsort zu bringen.

Kallie faltete das Foto auseinander, das sie aus Kapuos Akte herausgenommen hatte. Auf dem Bild war der Fundort von Anton Leopolds Leiche zu sehen. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich im Hafen orientiert und die Stelle gefunden hatte. Beim erneuten Vergleich mit dem Foto fiel ihr auf, dass der Leichnam von der Strömung bewegt und neben ein Schiff getrieben worden war. Kallie kannte die örtlichen Winde, die ein Flugzeug durchaus vom Kurs abbringen konnten, und die Flut machte das Gleiche mit allem, was im Wasser schwamm. Das Foto war mit Datum und Zeitangabe versehen. Sie sah auf die Uhr, es war ungefähr anderthalb Stunden später als bei der Aufnahme. Die Gezeitenverhältnisse hatten sich inzwischen erheblich verändert, das müsste sie berücksichtigen. In dem tiefen Hafenbecken herrschte außerdem reger Schiffsverkehr, und die dadurch verursachten Wellen und Strömungen hatten ebenfalls einen Einfluss darauf, wo ein Leichnam am Ende landete. Diese Tatsache verkomplizierte alles noch zusätzlich. Sie beschloss, sich ausschließlich an die Gezeiten zu halten.

»Entschuldigung, können Sie mir sagen, wann hier der Wasserstand am höchsten ist?«

Der Mann mit dem Klemmbrett, der über Sprechfunk mit dem Führerhaus eines Krans sprach, hatte gerade einen Container von einem Schiff an Land dirigiert.

Er schaute sie an, und ihm gefiel, was er sah. Kallie war attraktiv. Die Fliegerkappe verdeckte ihre Augen fast vollständig, doch er sah, dass sie blau mit grünen Sprenkeln waren. Außerdem hatte sie ein bezauberndes Lächeln. Vielleicht konnte er bei ihr landen.

»Wozu willst du das wissen?«, fragte er und grinste. »Mein Dad kauft mir ein Kajak.«

»Da hast du ja Glück. Aber dann würdest du drüben in der Marina ablegen, nicht hier.« Der Mann konnte seine Augen nicht von ihr abwenden. In seinem Funkgerät knarzte es, doch er achtete nicht darauf. Gut aussehende Mädchen machten um Typen wie ihn normalerweise einen weiten Bogen. »Du musst verdammt aufpassen dort draußen. Die Flut kommt nämlich sehr schnell. Und dazu die Trawler da drüben und die Robben, die ziehen die Haie an. Da möchte man nicht ins Wasser gestoßen werden. Du solltest eigentlich nicht hier herumlaufen. Der Hafen ist ein raues Pflaster.«

Kallie sah sich verstohlen um. Hafenarbeiter kamen und gingen, Gabelstapler fuhren kleinere Kisten herum. Sie war sich sicher: Wenn ihr hier irgendjemand blöd kam, waren genug Leute da, die ihr helfen würden.

»Ich seh mich nur ein bisschen um. Hier draußen sind ja jede Menge Schiffe und riesige Container – da kriegt man schon etwas Bammel.« Sie war sich nicht sicher, ob sie hilflos genug dreinblickte.

»Der Wasserstand wechselt dauernd. Normalerweise sind es schon ein paar Meter Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Hör mal, ich hab sowieso gleich Pause, gehen wir doch einen Kaffee trinken, dann erzähl ich dir alles, was du wissen musst.«

»Danke, aber damit wäre mein Dad bestimmt nicht einverstanden.«

»Na, du brauchst deinem Dad auch nicht alles erzählen.« »Der bekäme es trotzdem raus.«

»Meinst du?«

»Ja. Er ist hier der Polizeichef.« Die Lüge ging ihr glatt über die Lippen. Fast hätte sie es nicht geschafft, das Lachen zu unterdrücken, als sie das Gesicht des Mannes sah. »Aber trotzdem, vielen Dank.«

Sie ging an dem Typ vorbei, der gerade noch »Kein Problem« herausbrachte.

Der Kai war anderthalb Kilometer lang, unterteilt in acht Liegeplätze für die großen Schiffe. Kallie lief ihn in ganzer Länge ab. Alle Liegeplätze bis auf den letzten waren belegt, und zwei Schlepper waren gerade im Begriff, ein großes Containerschiff an seinen Platz zu manövrieren.

Wenn die Angaben in der Polizeiakte korrekt waren, dann musste er von einem dieser weit entfernten Punkte von der Flut hereingespült worden sein. Ein Stacheldrahtzaun hinderte sie daran, noch näher an das Schiff heranzukommen, das gerade langsam an den Kai gesteuert wurde. Dieser Platz hatte eine eigene Entladeeinheit; eine riesige Halle fungierte als Lagerhaus, in dem Container gestapelt waren. Am anderen Ende des Hangars befand sich der einzige Zugang, der von einem bewaffneten Mann bewacht wurde.

Auf dem Dach des Gebäudes sah sie ein gemaltes Emblem, das Logo der Firma, dem diese Halle gehörte: eine Kobra, die ihre Giftzähne entblößt hatte und sich um einen Speer wand. Kallie identifizierte ihn als Assegai, den kurzen Stoßspeer mit der langen Spitze, den die Zulukrieger bei ihren zahlreichen kriegerischen Auseinandersetzungen verwendeten. Auf beiden Seiten der Speerspitze prangte der Buchstabe S. Kallie stockte der Atem: SS – Shaka Spear. Das Gebäude gehörte der Firma von Shaka Chang.

Ein Schatten tauchte auf. Kallie fuhr herum. Der Mann, mit dem sie gesprochen hatte, stand wenige Meter von ihr entfernt. Sie hatte sich selbst den Fluchtweg versperrt – hinter ihr der Drahtzaun, links gestapelte Container, rechts das Meer.

Der Mann lächelte unangenehm, er leckte sich nervös mit der Zunge über die Lippen. »Ah, Mr Changs Schiffe interessieren dich also mehr als ich.«

Das große Schiff hatte jetzt am Kai angelegt. Kallie schaute hinauf zu dem Namen, der sich um das gebogene Heck herumzog: Zulu King. Shaka Chang gehörten die Schifffahrtsgesellschaft und die Lagerhalle, und er brachte Hunderte von Containern herein. Hatte das Anton Leopolds Verdacht geweckt? Hatte er herausgefunden, was in der Halle oder in den Containern gelagert wurde? Ihre Gedanken schlugen Purzelbäume, da packte der Mann sie und drehte ihr den Arm auf den Rücken. Er zerrte sie in die dunkle Gasse zwischen den Containerstapeln. Kallie wehrte sich, doch der Mann drückte ihr seine schwielige, ölverschmierte Hand, die sich anfühlte wie Sandpapier, auf den Mund.

»Wenn ich mit dir fertig bin, kannst du schreien, so viel du willst«, knurrte er.

Kallie wurde übel von seinem stinkenden Atem. Sie ließ die Schultern sinken, griff nach hinten, bohrte ihm ihre Fingernägel ins Gesicht und in die Augen und rammte dann die Ferse an seinem Schienbein entlang auf seinen Spann, genau wie ihr Vater es ihr einst beigebracht hatte. Der Mann schrie auf vor Schmerz, ließ sie aber dennoch nicht los. Alle Mahnungen, die sie einmal gehört hatte, schossen Kallie durch den Kopf. Sie war allein auf weiter Flur, und keiner würde in einer Hafenanlage auf ihre Hilferufe reagieren. Kallie schlug die Zähne in seine Hand, zog dabei sein Handgelenk nach unten und schrie, während sie seinen Arm so weit wie möglich von ihrem Mund wegdrückte: »FEUER! FEUER!«

Er packte sie noch fester, doch sie schrie weiter »FEUER!«, und dann tat sie das, was laut ihrem Vater eventuell die letzte Rettung bei einem Überfall sein konnte: Sie entspannte jeden Muskel ihres Körpers und ließ sich fallen. Sogar starke Männer konnten ein totes Gewicht nicht lange halten. Kallie musste blitzschnell zur Seite rollen, wenn sie auf dem Boden landete. Sie sackte nach unten. Auf diese Reaktion war der Mann nicht gefasst, und sie entglitt seinem Griff.

Sie rollte sich zur Seite. Er stolperte über sie, fiel nach vorn und wollte verhindern, gegen einen Container zu knallen. Mit der Hand fing er den Sturz zum Teil noch ab, doch sein Kopf krachte gegen das raue Metall. Diesen Moment nutzte Kallie, um aufzuspringen und loszuspurten.

Als sie zwischen den Containergassen herausrannte, liefen ihr drei Männer entgegen. Sie kamen wohl von einem der Schiffe, die gerade entladen wurden. Falls sie ihr feindlich gesinnt waren, blieb ihr nur der Sprung ins eiskalte Wasser. Dann musste sie sowohl gegen die Strömung als auch die Haie ankämpfen. Die Männer hatten sie nun wahrgenommen und riefen ihr zu: »Wo ist das Feuer?« Ein Brand in einer Hafenanlage war extrem gefährlich, besonders wenn keine dreißig Meter entfernt ein großes Schiff entlangfuhr, dessen Benzintanks zwar leer sein mochten, aber weiterhin hochexplosive Dämpfe enthielten.

Kallie deutete auf die Container und sprintete los, als die Männer an ihr vorbeisausten. Sie raste in die entgegengesetzte Richtung und wollte so weit weg von der Gefahr und der Gewalt, wie sie konnte. In der Wildnis wusste man wenigstens immer, welche der wilden Tiere eine Gefahr darstellten.

Max hatte die letzten Stunden damit verbracht, die Dinge, die !Koga und die anderen ihm erzählt hatten, in seinem Kopf zu ordnen. Er hatte von seinem Vater den Sinn fürs Praktische geerbt. Er glaubte nicht an irgendwelchen Humbug oder Hokuspokus wie angebliche Prophezeiungen oder Hypnose oder Geisterbeschwörungen, sondern nur an unmittelbar Erfahrbares. Wissenschaftler hatten es gern, wenn sich Dinge beweisen ließen. Nur wenn Erkenntnisse von Daten und Belegen gestützt wurden, wurden sie anerkannt. Zumindest so lange, bis ein anderer kam und die Zusammenhänge besser begründen konnte.

Sein Dad hatte ihm aber auch beigebracht, andere Kulturen zu respektieren. Aberglaube war weit verbreitet und hatte eine starke Anziehungskraft auf viele Menschen. ! Koga und die anderen dachten, Bakoko wäre ein Gestaltwandler und könne die Form von Tieren annehmen. Da würde Max es schwer haben, sie davon zu überzeugen, dass es nicht den geringsten Grund für ! Koga gab, ihn zu töten.

Doch das waren alles Gedankenspielereien. Max aber musste handeln, und zwar schnell. Wenn sein Freund, der ihm bis hier her geholfen hatte, durch irgendeine Vision geblendet wurde, dann musste Max eben allein weitermachen. Den ganzen Tag über waren die Buschmänner im Lager ihren Angelegenheiten nachgegangen, und !Koga hatte sich von ihm ferngehalten. Er schien bestürzt über die Prophezeiung. Max hatte daher beschlossen, aufzubrechen und sich vom Lager allein weiter durchzukämpfen. Er brauchte nur die grobe Richtung, und die konnte er ja am Sonnenstand ablesen. Ohne ! Kogas ausgeprägten Orientierungssinn würde er sich außerdem verstärkt auf seine Uhr verlassen. Sie gehörte früher seinem Vater und war Max’ wertvollster Besitz. Wenn er sie horizontal hielt, sodass die Zwölf auf die Sonne gerichtet war, entsprach die Mitte zwischen Stundenzeiger und der Zwölf der Nord-Süd-Linie.

Er war bereit zum Aufbruch. Proviant würde er sich stibitzen. Er hatte die Stelle entdeckt, wo die Frauen Wasservorräte in leeren Straußeneiern aufbewahrten. Mit dem getrockneten Fleisch, das dort in Streifen geschnitten hing, würde er ein paar Tage lang auskommen. Ihm war klar, dass er nicht einfach loswandern konnte. In den letzten Stunden war er ziellos durch die Siedlung gestreift, hinter die Grashütten, in die Nähe des Platzes, wo die Kinder spielten. Er hatte die Jäger beobachtet, die jetzt in der Tageshitze schliefen. Es gab zwei Wege, die er einschlagen konnte. Der erste führte durch knorrige Weißrindenbäume, deren Äste niedrig genug herabhingen, um sich in ihrem Schutz unbemerkt wegschleichen zu können. Etwa hundert Meter von der Siedlung entfernt standen die Bäume nicht mehr so dicht, und er würde in einem weiten Bogen um das Lager herumlaufen müssen. Max erwischte sich bei dem Gedanken, dass das, was er nun tat, nicht die Fortsetzung seiner Reise war, sondern die Flucht vor einem drohenden Tod. War es den Buschmännern gleichgültig, dass er hier herumspazierte, weil sie wussten, er würde sowieso nicht weit kommen? Seine Lage hatte sich drastisch zugespitzt. Zu Beginn hatten ihm alle geholfen, dann war er auf einmal Teil einer Prophezeiung, und nun war er – das Wort kam ihm blöd vor, aber er bekam es nicht mehr aus dem Kopf – das Opfer.

Es gab noch einen anderen Fluchtweg. An einer Stelle hatten die Buschmänner einige Bäume gefällt, um aus den Ästen den Dachstuhl für eine Hütte zu machen. Dort lag ein Stück Land brach, und es gab keine Verstecke auf der Flucht. Doch wenn er an den verbliebenen Bäumen angelangt war, verlief dort ein Hügel fast sechzig Meter weit nach rechts und fiel danach ab zu einem schmalen Graben. Er konnte geduckt hinter den Wall schleichen oder dorthin robben und, wenn er in flacheres Gelände kam, den Rest der Strecke laufen. Er musste unbedingt bei Tageslicht aufbrechen, wahrscheinlich sogar in der heißen Mittagszeit, wenn alle schliefen. Ob die Jäger ein zweites Mal auszogen, wusste er nicht. Aber er konnte nicht so lange bleiben, bis er das herausgefunden hatte. Durch das offene Gelände zu verschwinden, war riskanter, doch manchmal zahlte es sich aus, das größere Risiko einzugehen. Vorausgesetzt, man hatte vorher alles genau durchdacht.

Max saß mit dem Rücken zum Wall, der einen kühlen Schatten auf ihn warf, und ging seine Möglichkeiten durch. Morgen konnte es zu spät sein. Er beschloss, noch am Abend aufzubrechen – in der Hoffnung, der Graben würde ihm genug Schutz bieten. Er brauchte Distanz und die Dunkelheit.

Aus den Augenwinkeln bemerkte er, dass sich am Rand der Bäume etwas bewegt hatte, und erstarrte. !Koga stand dort, keine zehn Meter entfernt. In Gedanken versunken hatte Max nicht auf seine Umgebung geachtet. Die beiden Jungen sahen sich an. !Koga trat, fast vorsichtig, leise näher. Max wartete. !Koga hatte seinen Speer in der Hand, unmittelbar bedrohlich wirkte er jedoch nicht.

»Max.« !Koga flüsterte beinahe und machte eine leichte Handbewegung. »Komm her, Max.«

»Verfolgst du mich?« Max lächelte in der Hoffnung, seine Frage würde wie ein Scherz klingen, doch seine Rückenmuskeln spannten sich an. Wie lange hatte ! Koga schon dort gestanden? Warum war er ihm ins Halbdunkel der Bäume gefolgt? Warum hob ! Koga langsam seinen Speer? Er war inzwischen näher gekommen, stand keine fünf Meter entfernt. Max hatte sich nicht gerührt, sah den grazilen Bewegungen seines Freundes wie gebannt zu.

!Koga blickte ihn an, ohne zu blinzeln, ließ die Schultern herabfallen, wie sich ein Vogel fallen lässt, um Futter zu schnappen, drehte sich leicht zur Seite – und der Speer flog auf ihn zu. Max hatte kaum Zeit, sich zu ducken, bevor das tödliche Geschoss nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbeisauste. Er fiel hin, konnte sich aber mit einer Hand im Sand abstützen. Der Speer schlug in den Baum ein, an dem Max Sekunden vorher noch gelehnt hatte, und durchbohrte eine zuckende, sich windende Kobra, die drei Meter lang und so dick wie der Arm eines Mannes war. Ihr Nackenschild war gespreizt, so breit wie eine offene Hand. Sekunden später hätte sie den arglosen Max angegriffen.

»Verdammter Mist! Du hast mich ganz schön erschreckt!«, stotterte er. ! Koga schlug der Schlange den Kopf ab, ließ den sich windenden Koloss auf der Erde zappeln, während er seinen Speer herauszog. Den giftigen Kopf behandelte er noch immer mit respektvoller Vorsicht.

Die unveränderlichen Gesetze der Natur ließen Max für einen Moment Dankbarkeit für !Koga empfinden, der immer noch sein Freund war. Diese Sekunden, der Anblick der Baumstämme, des blutigen Speers und des lächelnden Buschmanns gruben sich kristallklar in sein Gedächtnis.

Max grinste, erhob sich aus dem Sand, und verspürte einen jähen, heißen Schmerz in seinem Handgelenk. Dann erblickte er einen der primitivsten Vertreter der Gattung Arachnidae, einen schwarz-gelben, vierzehn Zentimeter langen Skorpion, der ihn gestochen hatte und sich nun hastig entfernte.

Er taumelte einen Schritt rückwärts, mehr instinktiv als aus Angst. »Ist schon gut«, sagte er. Und lachte. Nachdem ein Monster von einer Kobra beinahe die Zähne in ihn geschlagen hätte, war das ein Klacks. Das Bissmal an seinem Handgelenk war kaum zu sehen. Es bildete sich keine Schwellung, kein Entzündungsherd auf der Haut. Anfangs nicht. Dann begann die Wunde am Rand zu schmerzen, und Max fand die Angelegenheit nun doch nicht mehr zum Lachen. Eine schneidende Hitze zog durch seine Adern.

!Koga griff nach seinem Arm, besah sich die Wunde, senkte das Ende seines Speers auf den davoneilenden Skorpion und rief Max’ Namen. Max reagierte nicht. ! Koga brach den Speerschaft entzwei, drückte die eine Hälfte des Holzes in Max’ Armbeuge und zwang ihn, den Arm anzuwinkeln. Das half, die Ausbreitung des Gifts zu verlangsamen. Max hatte das Gefühl, er hätte Schweiß in den Augen. Er sah !Koga nur noch leicht verschwommen, sein Körper fühlte sich staubtrocken an. Von dem sengenden Gefühl, das von seinem Arm in seine Brust wanderte, wurde ihm übel. Die Neurotoxine strömten durch seinen Körper. Etwas, was sich wie eine Klaue anfühlte, wühlte in seinem Magen, und während eine Welle der Benommenheit über ihn hinwegschwappte, fiel er auf die Knie. Er spürte, wie !Koga versuchte, ihn hochzuziehen und etwas zu ihm sagte, konnte ihn aber nicht hören. Er sackte jetzt endgültig zu Boden, sah Sandkörner vor sich und dann das Gesicht von !Koga. Der Freund gab ihm eine Ohrfeige und bewegte die Lippen. Aber Max vernahm keinen Laut.

Dann rannte !Koga los.

Allein gelassen hörte Max Geräusche in seinem Körper. Sein Herz hämmerte, als würde ein Boxhandschuh gegen seinen Brustkorb prügeln. Er durfte nicht hierbleiben, das war zu gefährlich. Er musste sich bewegen. Los, macht schon, Beine. Auf geht’s, sagte er sich. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht. Er kämpfte gegen das Gift, das seine Organe angriff und sein Zentralnervensystem lahmlegte, wie ein Virus, das sich tief in einen Computer hineinfrisst und alle Daten löscht.

Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Max hatte eine seltsame Empfindung. Männer trugen ihn, honigfarbene Männer mit schmalen Augen und ledrigen Händen. Baumschatten flatterten über seine Lider wie ein Schmetterlingsschwarm, dann zwängte ein alter Mann – wo hatte er diesen alten Mann schon einmal gesehen? – seine Finger in Max’ Mund. Vielleicht versuchte er, ihm das Atmen zu erleichtern. Der Schmerz fühlte sich an wie tausend Messerstiche, zerrte an seinen Muskeln und verschloss ihm die Luftröhre. In einem Krankenhaus hätten die Ärzte festgestellt, dass Max’ Organismus ungewöhnlich schnell auf das tödliche Gift reagiert hatte, und hätten sich bemüht, die Auswirkungen der Überstimulation seines autonomen Nervensystems zu neutralisieren. Sie hätten ihn an den Tropf gehängt und ihm zehn bis zwanzig Minuten lang eine Kalziumglukonatlösung zur Linderung der Muskelkrämpfe verabreicht. In einem Klinikum hätte man ihm Beruhigungsmittel gegen den Schüttelkrampf gegeben, der ihn jetzt folterte. Max hätte Medikamente bekommen, damit sein Herz nicht versagte. Die Ärzte hätten gewusst, dass der Tod normalerweise innerhalb von sechs Stunden eintrat, wenn man nicht schnell genug etwas unternahm.

Hier draußen in der Wildnis war es nicht selbstverständlich, am Leben zu sein.

Hilfe, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Hilfe, ich will noch nicht sterben. Mum? Dad? Wo seid ihr?

Wie eine Spinne, die ins Feuer geraten war, krümmte sich sein Körper in einem letzten furchtbaren Krampf. Plötzlich verlor Max das Bewusstsein, und alles um ihn herum wurde schwarz.

Sein letzter Gedanke führte ihm die grausame Wahrheit vor Augen: Indem !Koga ihn vor der Kobra gerettet und ihn dazu gebracht hatte, sich in den Sand zu werfen, hatte ! Koga ihn getötet.

Die Prophezeiung stimmte.

Seine Lunge versagte.

Sein Herz blieb stehen.

Max Gordon war tot.