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Der kleine Unterschied

Dieses Buch wäre nicht vollständig ohne einen kurzen Blick auf die Unterschiede zwischen Männern und Frauen, was das Thema Berufung betrifft. Ich bitte um Nachsicht, wenn ich dieses »schwerwiegende« Thema an dieser Stelle deutlich vereinfacht darstelle. An den Anfang stelle ich zwei Beobachtungen, die ich in meiner jahrelangen Tätigkeit als Coach gemacht habe: Frauen fällt es tendenziell leichter, ihre Berufung zu finden, Männer tun sich leichter, sie zu leben.

Der nach wie vor in den meisten Familien immer noch bestehende Unterschied in der Erziehung von Mädchen und Jungen lässt sich nicht bestreiten. Hier soll es aber nicht darum gehen, das System zu kritisieren, sondern die Auswirkungen auf das Thema Berufung zu hinterfragen. Mädchen werden in ihrer Familie, der Schule und ihrem Freundeskreis früh darin bestärkt, Gefühle wahrzunehmen und zum Ausdruck zu bringen. Sie lernen sehr zeitig und besser als Jungs im gleichen Alter, ihre Gefühle ernst zu nehmen und auf feine Nuancen zu achten. Jungen entwickeln sich eher dadurch, dass |50|sie sich mit anderen Jungen messen, sei es auf körperlicher oder geistiger Ebene. Im Vordergrund stehen nicht ihre eigenen Gefühle oder die Gefühle der anderen, sondern die Themen Konkurrenz und Kampf.

Wenn es nun später um den Beruf und damit um Berufung geht, haben die weiblichen Teenager, durch den besseren Zugang zu ihren Gefühlen, oft auch die größere Ahnung, in welche Richtung sie sich beruflich gerne entwickeln würden. Die Jungs hingegen suchen sich bereits in jungen Jahren einen Beruf aus, in dem sie besser oder »cooler« als ihre Freunde oder Klassenkameraden sein können. Losgelöst von den Eltern, den Lehrern und den äußeren Umständen, die mitbestimmend und zum Teil ausschlaggebend bei der endgültigen Berufswahl sind, liegen den Entscheidungen der Teenager also unterschiedliche Motive, Prägungen und Erfahrungen zugrunde.

Oft gehen Männer deshalb in die Vorstandsetagen und Frauen in die Krankenhäuser. Doch irgendwann werden die Männer aus den Vorstandsetagen, wenn sie sich nicht genug um ihre Familie kümmern, möglicherweise von Ihren Frauen verlassen und dadurch gezwungen, sich dann doch in irgendeiner Form mit ihren Gefühlen auseinander zu setzen. Das kann der Griff zur deutlich jüngeren Nachfolgepartnerin, die existenzielle Krise oder die Beschäftigung mit dem Sinn des Lebens sein. Männern können zu ihrer Berufung finden, indem sie in Kontakt mit ihren Gefühlen kommen. Das ist der schwierigste Teil. Die Umsetzung fällt ihnen dann leicht, schließlich haben sie ihr Leben lang gelernt, sich Ziele zu setzen und diese auch zu erreichen.

Der Krankenschwester, die seit vielen Jahren ihre Gefühle kennt und eine Ahnung hat, was ihre Berufung sein könnte, fällt es schwer, aus der Ahnung ein konkretes Ziel zu machen und darauf zuzugehen. Und dann sind da noch die drei Ks: Kinder, Küche und Karriere. Wie soll eine einfache Krankenschwester, allein erziehend verantwortlich für zwei kleine Kinder, nebenbei auch noch in der Lage sein, ihren Traum wahr zu machen und Medizin zu studieren, um |51|Chirurgin zu werden? Indem sie lernt, ihren Verstand mehr zu benutzen, die Basics des Projektmanagements anzuwenden und ihre organisatorischen Fähigkeiten aus dem Bereich Familie auf ihre beruflichen Ziele überträgt.

In vielen Befragungen geben Frauen und Männer im gleichen Maße an, dass in ihrer Lebensplanung die Familie an erster Stelle steht. Für Männer heißt das allerdings, genug Geld heranzuschaffen und Sicherheit zu bieten, innerhalb der seine Familie gut leben kann. Für Frauen heißt das noch immer, sich zu überlegen, ob und wie sie Familie, Kinder und Beruf optimal unter einen Hut bringen können. Das ist kein Grund zum Jammern, es ist möglich, auch als Mutter zu studieren, die Berufung zu finden und das Leben zu leben, von dem »frau« träumt, auch wenn es zugegebenermaßen schwerer zu organisieren ist. Es wäre auch falsch zu behaupten, dass Männer es leichter haben. Sie zahlen für ihre Karriere und ihr Leben – theoretisch mit, aber oft praktisch ohne Familie – häufig einen hohen Preis.

Frauen finden ihre Berufung leichter, weil sie einen besseren Zugang zu ihren Gefühlen haben und schaffen es, ihre Berufung zu leben, indem sie beginnen, ihren Verstand für ihre (beruflichen) Ziele zu nutzen. Männer finden ihre Berufung schwerer, weil sie erst den Zugang zu ihren Gefühlen finden müssen, können sie dann aber leichter umsetzen, weil sie ihren Verstand schon immer für ihre (beruflichen) Ziele eingesetzt haben.

Beide Geschlechter müssen ihr Repertoire an Verhaltensmöglichkeiten vergrößern, um beim Finden und Umsetzen der Berufung erfolgreich zu sein. Im Karriere-Navigator gibt es bewusst einige Übungen, die Männern und andere, die Frauen leichter fallen. Insgesamt betrachtet, eignet sich die Vorgehensweise aber für Männer ebenso gut, wie für Frauen, weil alle entscheidenden Aspekte der Persönlichkeit, Gefühl und Verstand mit einbezogen werden.