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Chancen gibt’s genug

Kindheit, Pubertät und Lebensmitte sind die besten Zeitpunkte, um die eigene Berufung zu entdecken. Wenn Kinder die Möglichkeit bekommen, in Ruhe zu spüren, wohin sie gehen möchten, können sie von Anfang an ihren eigenen Weg finden. Bei manchen Menschen zeigt sich schon in frühester Kindheit die Begabung so deutlich, dass sie selbst und auch ihre Umgebung keinen Zweifel daran haben können. Bei den meisten Jugendlichen ist es heute aber wohl eher so, dass sie in der Schule mit Lernstoff und zu Hause von Fernseher, Internet und Computerspielen überflutet werden und kaum noch eine Chance haben, sich darauf zu konzentrieren, was sie wirklich im Leben wollen. Wenn es um die Wahl des Berufs geht, steht bei den meisten Eltern noch immer der Wunsch nach einem Job mit guten Zukunftsaussichten und Verdienstmöglichkeiten für ihre Kinder im Vordergrund. Lehrer und Massenmedien tun ein Übriges, um die jungen Leute auf Kurs zu bringen. Doch selten auf ihren eigenen.

 

|36|Wie sind Sie zu Ihrer Ausbildung oder Ihrem Studienplatz gekommen? Wollten Sie selbst unbedingt genau das tun, was Sie getan haben, oder war es eher so, dass

  • Sie da irgendwie hineingerutscht sind, weil es in dem Unternehmen gerade freie Stellen gab,

  • alle Ihre Freunde auch in diesem Unternehmen angefangen haben,

  • Ihre Tante den Friseursalon hatte und Sie da eben Ihre Ausbildung machen konnten,

  • Sie den Wünschen Ihrer Eltern gefolgt sind und zum Beispiel Jura statt Philosophie studiert haben,

  • Sie die Lehrstelle oder den Studienplatz, den Sie wollten, nicht bekommen haben und dann bei der zweiten Wahl geblieben sind?

Bitte halten Sie auf einem separaten Blatt fest, nach welchen Faktoren Sie sich für Ihren Ausbildungsplatz oder Ihr Studium entschieden haben.

 

Haben Sie sich nach Abschluss Ihrer Ausbildung oder Ihres Studiums Raum und Zeit genommen, um genau zu überlegen, welchen Weg Sie nun einschlagen wollen oder sind Sie »irgendwo« gelandet, wo Sie zwar Ihre Qualifikation einsetzen, sich aber möglicherweise nicht entsprechend Ihrer Neigungen und Leidenschaften entfalten konnten?

 

Beispiel: Sebastian, 39, hat nach seinem BWL-Studium schnell eine gute Stelle in einem großen Unternehmen bekommen und sich dort in kurzer Zeit die Karriereleiter hinauf entwickelt. Mehrere gut kalkulierte berufliche Wechsel haben ihn in seine aktuelle Position als Geschäftsführer eines kleinen mittelständischen Unternehmens gebracht, wo er auf das Ausscheiden des Seniors wartet, um in den Vorstand des Unternehmens zu wechseln. Er hat ein Haus gekauft, seine Frau kümmert sich zu Hause um den gemeinsamen Sohn, die Partnerschaft funktioniert gut. »Eigentlich« alles in Ordnung. Wäre da nicht der kontinuierliche Leistungsdruck in |37|seinem Job, der psychische Dauerstress, der sich immer mehr auf gesundheitlicher Ebene ausdrückt. Sebastian fühlt sich immer öfter erschöpft und weniger motiviert, morgens aufzustehen und zur Arbeit zu gehen als früher. Dazu kommt, dass er auf Grund der angespannten wirtschaftlichen Situation gezwungen war, mehrere Mitarbeiter zu entlassen, was ihn sehr belastet. Ein Kollege sägt an seinem Stuhl, und er fühlt sich immer mehr im Wettbewerb mit jungen Nachrückern im Unternehmen. Er beginnt sein Ziel, in den Vorstand des Unternehmens zu wechseln, zu hinterfragen. Besorgt stellt er fest, dass seine Karriere für ihn zunehmend an Bedeutung verliert. Sebastian beneidet seinen Kollegen, der mehr Zeit für sich und seine Familie hat und dafür bereit ist, auf beruflichen Aufstieg zu verzichten.

 

Wenn Sie Ihre Chance bei der Wahl Ihrer Ausbildung oder Ihres Studiums »verpasst« haben, ist Ihre Entwicklung vielleicht ähnlich verlaufen, wie die von Sebastian. Viele erfolgreiche Menschen fragen sich beim Übergang zur Lebensmitte, ob das bisher Erreichte für das eigene Leben und die Gesellschaft einen Wert hat, der über die reine Existenzsicherung hinausgeht. C. G. Jung spricht an dieser Stelle von der Lebenswende, vom Mittag des Lebens. Der Beginn, der Morgen des Lebens dient dazu, sich zu entwickeln, die eigene Lebensgrundlage aufzubauen und eine Familie zu gründen. Ist dieser Zweck erfüllt, reicht allein die Existenzsicherung als Lebenssinn für die meisten nicht mehr aus. Nachdem in der ersten Lebenshälfte die Energie mehr nach außen gerichtet ist, beginnt bei vielen in der zweiten Lebenshälfte das Wachsen nach innen und damit verbunden die Suche nach der Berufung. Der Mythenforscher Joseph Campbell hat ein schönes Bild dafür gefunden: »Während unserer ersten 35 oder 40 Lebensjahre haben wir uns bemüht, eine lange Treppe hinaufzusteigen, um den obersten Stock eines Gebäudes zu erreichen. Sind wir dann endlich unter dem Dach, stellen wir fest, dass wir uns im Gebäude geirrt haben.«

|38|Möglichkeiten, die eigenen Chancen zu verkennen und weiter im Hamsterrad zu rasen, gibt es viele: Manche Frauen, die bislang auf ihre Karriere fixiert waren, entschließen sich, dann doch noch schnell Kinder zu bekommen und haben dadurch wieder ein paar Jahre Zeit »gewonnen«. Einige Männer entscheiden sich stattdessen, Ihre Familien zu verlassen, sich von der Beschäftigung mit dem Sinn ihres Lebens ab- und der deutlich jüngeren Geliebten zuzuwenden. Manche Menschen finden erst Zugang zu ihrer inneren Stimme, wenn sie sich zwischen 55 und 65 mit dem bevorstehenden Ende ihrer »offiziellen« Berufstätigkeit auseinander setzen müssen. Der Vorstandsvorsitzende eines Großunternehmens wird Segellehrer, die Art-Direktorin einer Werbeagentur wird Hotelchefin in Spanien und der ehemalige Berufsschullehrer Heilpraktiker. Zum Glück verklingt die innere Stimme nicht, sondern bahnt sich immer wieder ihren Weg in unser Leben. Es ist nie zu spät, ihr zu folgen.