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Die Bedürfnispyramide

Es gibt verschiedene Ansätze, um zu erklären, warum die Suche nach Sinn und der eigenen Berufung an einem bestimmten Punkt in |33|unserem Leben entsteht. Ich greife mir hier die Haltung der humanistischen Psychologie heraus, deren prominenteste Vertreter Carl Rogers und Abraham Maslow sind. Die humanistischen Psychologen vertreten die Ansicht, dass wir auf dieser Erde sind, um zu lernen und uns zu uns selbst zu entwickeln. Das Bedürfnis danach ist angeboren, und wir verbringen unser gesamtes Leben damit, es zu befriedigen. Gelingt uns das, entwickeln wir eine Reihe von Charaktereigenschaften und Merkmalen, die uns von anderen – nicht verwirklichten – Menschen unterscheiden. Diese Merkmale sind unter anderem Selbstbewusstsein, Kreativität, Spontaneität, Offenheit für Neues, Bereitschaft zu Grenzerfahrungen, Sinnhaftigkeit und ein herausforderndes Wesen.

Abraham Maslow hat vor 50 Jahren ein Modell entwickelt, das er die Bedürfnishierarchie nannte und das Sie möglicherweise unter dem Namen der Maslowschen Bedürfnispyramide kennen (siehe Abbildung 1, Seite 34). Es hat bis heute nichts von seiner Aktualität verloren. In dieser Pyramide sind physiologische, Sicherheits-, Liebes-, Selbstachtungs- und Selbstverwirklichungsbedürfnisse hierarchisch geordnet.

Zu den physiologischen Bedürfnissen zählen zum Beispiel Nahrung, sexuelle Stimulation und ein Dach über dem Kopf zu haben. Zu den Sicherheitsbedürfnissen gehören ein sicherer Arbeitsplatz, Gelassenheit, Ruhe und Frieden. Liebesbedürfnisse drücken sich in der Sehnsucht nach Zugehörigkeit zu einer Familie oder einem System aus. Erst wenn diese Grundbedürfnisse befriedigt sind, wir also satt im Trockenen sitzen und uns in unserem sozialen Umfeld akzeptiert fühlen, können sich die »höheren« Bedürfnisse entwickeln, zu denen eine positive Selbstwertschätzung, Anerkennung für besondere Leistungen und in der höchsten Stufe die Entdeckung von Sinn und der eigenen Berufung gehören. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich für die französische Literatur des späten 16. Jahrhunderts interessieren und Ihr Leben danach ausrichten, wird also geringer, wenn Sie obdachlos sind. Die Grundbedürfnisse sind überlebenswichtig, |34|die höheren Bedürfnisse stellen sich erst ein, wenn das Überleben gesichert ist. Die Beschäftigung mit französischer Literatur kann demnach länger aufgeschoben werden als die Befriedigung von Hunger oder Durst. Eine »Nichtbefriedigung« der Bedürfnisse nach Selbstachtung und Selbstverwirklichung bewirken kurzfristig auch keine direkte Notfall-Reaktion, wie Sie sie zum Beispiel erleben, wenn Sie plötzlich von einem Wolkenbruch überrascht werden und ins Trockene möchten. Sie streben aber trotzdem irgendwann nach Ausdruck in Ihrem Leben, weil sie Sie einfach glücklich machen können.

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Abbildung 1: Die Maslowsche Bedürfnispyramide

Das Modell der Bedürfnishierarchie bietet eine mögliche Erklärung, warum wir uns erst im Laufe unseres Lebens mit dem Thema Berufung beschäftigen. Erst wenn Sie ein einigermaßen geregeltes |35|Einkommen, ein stabiles soziales Umfeld und erste Anerkennung gefunden haben, machen Sie sich normalerweise auf die Suche nach »mehr«.

Ein Sonderfall ist es, wenn Sie zum Beispiel auf Grund einer Umstrukturierung arbeitslos geworden, das heißt, Ihrer »sicheren« Arbeitsstelle beraubt sind und dennoch die Möglichkeit zu einer kompletten beruflichen oder auch persönlichen Neuorientierung nutzen. Als »sichere« Basis dienen in dem Fall ein berufstätiger Partner, ausreichende Rücklagen oder eine gute Abfindung des ehemaligen Arbeitgebers. Auch das funktioniert – und immer mehr Menschen nutzen diese Chance, statt die erstbeste neue Stelle zu ergreifen, die man ihnen anbietet.