Kapitel 20

 

Von unterwegs rief Menolly Luke an und bat ihn, uns im AETT-Hauptquartier zu treffen. Sie versicherte ihm, dass Amber am Leben und relativ unversehrt war.

Ich sah Amber an. »Weißt du, was für eine Kette du da trägst?«

Sie runzelte die Stirn. »Ich habe keine Ahnung, aber ich konnte nur daran denken, dass die sie nicht bekommen dürfen. Sie hat irgendetwas an sich ... Ich habe sie in einer alten Truhe gefunden, die ich in einem Antiquitätenladen gekauft hatte, und seitdem weiß ich, dass ich hierherziehen muss, in die Nähe meines Bruders und seiner Freunde. Das war der endgültige Anstoß, den ich gebraucht habe, um Rice zu verlassen.« Sie schwieg kurz und schaute auf ihre Hände hinab. Dann fragte sie: »Ich nehme an, Luke hat euch von ihm erzählt.«

»Ja, das kann man wohl sagen.« Ich wollte vor ihr nicht allzu schlecht von ihrem Mann sprechen - das konnte der letzte Strohhalm sein, der manche Frauen dazu trieb, zu ihren gewalttätigen Partnern zurückzukehren. Dahin musste sie schon allein kommen.

»Rice ... das ganze Zone-Red-Rudel hat Schwierigkeiten mit diesen modernen Zeiten. Die Frauen des Rudels wollen mehr. Wir fordern unsere Rechte und wollen respektvoll behandelt werden. Manche ... viele unserer Männer kommen damit nicht zurecht. Alpha-Werwölfe haben einen sehr hohen Testosteronspiegel und sind furchtbar aufbrausend. Es kommt so oft zu Kämpfen, dass fast alle Männer unseres Rudels Narben tragen. Ihr habt die Narben meines Bruders sicher schon mal gesehen.«

Menolly nickte. »Ich habe ihn nie danach gefragt. Er hat mir erst vor kurzem von der Frau erzählt, die er geliebt hat.«

»Das war eine tragische Geschichte. Hat er euch erzählt, wie Maria den Alpha-Wolf so verärgert hat? Sie hat ihn abgewiesen, weil sie in Luke verliebt war. Aus Rache hat er sie ein paar der jüngeren Alpha-Männchen überlassen. Sie wurde wie ein Stück Fleisch herumgereicht und brutal misshandelt. Ach verdammt, ich sage euch einfach, wie es war - sie wurde von der ganzen Truppe vergewaltigt, und der Rudelführer hat zugeschaut und auch Luke gezwungen, das mit anzusehen. Er musste all seine Selbstbeherrschung aufbieten, um den Alpha nicht auf der Stelle anzugreifen.«

»Luke hat gesagt, sie sei ermordet worden.« Ich weckte ungern schmerzliche Erinnerungen, aber von der Vergangenheit zu sprechen, schien Amber eher zu beruhigen. Und es würde ihr helfen, uns zu vertrauen, wenn wir ihr das Geistsiegel abnehmen mussten.

»Ja, so war es. Als Luke sie aus dem Revier schmuggeln wollte, hat der Alpha sie erwischt - er hat sie beschatten lassen. Er hat Maria selbst getötet, vor Lukes Augen. Dann hat er meinem Bruder diese Narben beigebracht und ihn exkommuniziert. Ich wollte mit ihm fortgehen, aber ich war nicht alt genug. Bald danach wurde ich mit Rice verheiratet. Er hat meinem Vater den besten Brautpreis und den höchsten Status geboten. Rice ist übel, aber es hätte schlimmer sein können.«

»Du hast gesagt, du hättest eine Truhe gekauft und darin die Kette gefunden. Bist du ... bedeutet dir der Anhänger viel? Was glaubst du, warum die Kojoten dich entführt haben? Oder haben sie es dir sogar gesagt?« Es wurde Zeit. Wir würden die AETT-Zentrale bald erreichen, und ich hatte keine Lust, diese Informationen in aller Öffentlichkeit auszutauschen.

Sie zögerte. »Um ehrlich zu sein ... Ich kann das verdammte Ding nicht ablegen. Es ist, als wären Stimmen in meinem Kopf, die von dieser Kette kommen, aber wenn ich versuche, sie abzunehmen, kreischen und schreien sie, bis ich die Kette wieder umlege. Ich fühle mich nicht mehr wie ich selbst, seit ich sie trage. Schon von Anfang an hat die Kette mir nicht erlaubt, sie länger als ein paar Augenblicke abzunehmen.«

Ich starrte sie an und dachte an Königin Asteria. Was sollten wir tun?

Dann sagte Rozurial mit leiser Stimme: »Die Keraastar- Ritter. Was wetten wir ...?« Seine Stimme erstarb, aber ich wusste, was er sagen wollte. Amber könnte eine weitere Reise vor sich haben, als sie erwartet hatte.

»Die Kojote-Wandler hatten es auf diesen Anhänger abgesehen. Haben sie versucht, ihn dir wegzunehmen?« Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die sich darum geschert hätten, ob irgendwelche Stimmen in Ambers Kopf die Werwölfin wahnsinnig machten.

Sie nickte. »Ja, haben sie. Aber sobald sie ihn berührten, bekamen sie eine Art Schock versetzt. Einer von ihnen ist gestorben. Und als sie mich zwingen wollten, die Kette auszuziehen, hat sie angefangen zu summen und die Männer zu Tode erschreckt. Warum wollen sie sie haben? Was ist mit dem Anhänger? Was ist hier überhaupt los? Und wer seid ihr?«

Menolly meldete sich zu Wort. »Ich bin Menolly D'Artigo, die Chefin deines Bruders. Er hat uns um Hilfe gebeten, als du aus dem Hotel verschwunden bist. Meine Schwestern und ich stammen aus der Anderwelt.«

Amber schnappte nach Luft. »Ich habe von der Anderwelt geträumt, obwohl ich bisher nur davon gehört habe. Da war eine Stadt mit gepflasterten Straßen, und ich sah Elfen und einen Kreis von Leuten - ich habe keine Ahnung, wer sie waren. Aber ein Werpuma war darunter, ein junger Mann, und ein uralter ... ich glaube, er war menschlich.«

Ich stieß einen langen Seufzer aus. »Amber, wir haben dir eine Menge zu erklären, aber du musst uns vertrauen. Solange du diese Kette trägst, bist du hier viel größeren Gefahren ausgesetzt als den Kojoten. Eine Dämonengeneralin ist in der Stadt, die nach den Geistsiegeln sucht. Und ein Dämonenfürst in den Unterirdischen Reichen will sie auch unbedingt.«

Sie schnappte nach Luft und drückte sich ängstlich an die Rückenlehne. »Davon hatte ich keine Ahnung.«

»Meine Schwestern und ich - und unsere Freunde - kämpfen an vorderster Front in einem Krieg, von dem nicht einmal dein Bruder weiß. Wir versuchen zu verhindern, dass Schattenschwinge und seine Armee die Erdwelt übernehmen, und irgendwann auch die Anderwelt. Und dieser Anhänger, den du trägst, ist ein uraltes Artefakt, das ihn einen großen Schritt voranbringen würde, falls er dich zu fassen bekäme.«

Amber schwieg während der restlichen Fahrt zum AETT- Hauptquartier. Wir ließen sie in Ruhe - es war so viel geschehen, dass sie noch gar nicht alles begreifen konnte, und außerdem musste sie sich nach den Tagen in Gefangenschaft erst einmal erholen.

Jetzt wussten wir zumindest, warum die Kojote-Wandler sie nicht getötet hatten. Einerseits hatte ihr die Tatsache, dass das Geistsiegel eine enge Verbindung zu ihr hergestellt hatte, das Leben gerettet. Andererseits hatte ich das scheußliche Gefühl, dass uns nichts anderes mehr übrigblieb, als sie schleunigst der Elfenkönigin zu übergeben, ob Amber wollte oder nicht. Wir konnten sie nicht mit einem der Siegel um den Hals herumlaufen lassen.

»Also, fahren wir noch mal hin und schalten die restlichen Koyanni aus?« Roz lehnte sich zurück und verschränkte die Arme.

»Mir wäre es lieber, wir machen sie unschädlich, ja. Außerdem möchte ich herausfinden, wo diese großartige kleine Waffe herkommt, und versuchen, die Dinger verbieten zu lassen. Sie sind verdammt gefährlich für jeden ÜW, und ich habe das hässliche Gefühl, dass ein Treffer für einen VBM tödlich wäre.«

»Ich wette, dass wir die Antworten im Energy Exchange finden.« Menolly beugte sich vor und spähte über meine Schulter. »Und wenn der Club ein magischer Treffpunkt ist, dann ist das Camilles Abteilung.«

»Kann sein, aber sie hatte in den letzten paar Tagen ganz schön mit dem Wolfsdorn zu kämpfen.« Mein Handy klingelte, und ich klappte es auf und befestigte das kleine Bluetooth- Headset an meinem Ohr. Ich hasste das verdammte Ding, aber es war nun einmal Vorschrift, und die war ja auch sinnvoll. »Delilah hier. Was gibt's?«

»Delilah, komm sofort nach Hause. Es gibt Ärger.« Iris' Stimme klang gedämpft.

»Was ist los?« Ich drückte auf die Lautsprechertaste.

»Irgendetwas hat die Banne durchbrochen, und so, wie sich der Alarm anhört, ist es groß und sehr übel. Das ist nicht irgendein Ghul oder Zombie, der allein durch den Wald streift.

Ich habe Maggie in Menollys Keller gebracht und Wilbur angerufen. Er ist auf dem Weg hierher.« Ihre Stimme zitterte. Iris war mächtig - viel mächtiger, als wir ursprünglich gedacht hatten. Aber sie war auch ein Hausgeist allein zu Haus.

»Verdammt! Wir sind schon unterwegs. Versteck du dich auch in Menollys Keller ... «

»Keine Zeit mehr, sie brechen ein. Ich fliehe nach draußen - Maggie passiert da unten schon nichts. Aber beeilt euch.«

Die Verbindung brach ab. Ich sah Amber an und sagte: »Ich hoffe, du hast keine allzu großen Schmerzen, denn wir müssen einen kleinen Umweg machen. Roz, ruf Camille an und sag ihr, dass sie schnurstracks nach Hause fahren soll.«

Ich machte eine waghalsige Kehrtwende und trat das Gaspedal durch. Nach Belles-Faire waren es von hier aus etwa fünfzehn Minuten, weil so spät in der Nacht kaum Verkehr herrschte. Ich hatte die Absicht, die Strecke in höchstens zehn zu schaffen.

Als wir die Auffahrt entlangrasten, graute mir davor, was wir gleich vorfinden könnten. Das Haus in Flammen? Maggie und Iris in den Trümmern? Eine Horde Dämonen? Oder war es jemand anderes - hatten die Gestaltwandler womöglich herausgefunden, dass wir ihre Operation zerschlagen hatten und wo wir wohnten?

Roz hatte Camille Bescheid gesagt, und Morios SUV war schon direkt hinter uns. Er hatte außerdem Chase angerufen und ihn gebeten, Shamas nach Hause zu schicken. Wir brauchten alle Mann an Deck. Chase hatte versprochen, auch mitzukommen.