Kapitel 19

 

Die Lagerhalle von Emporium Meats lag ein Stück abseits der Docks im Industrial District. Sie stand mitten in der Wildnis, die sich hinter den Fähranlegern erstreckte, gut anderthalb Kilometer nördlich von Georgetown. Im Lauf der Jahre hatten Georgetown und sein Umland eine beinahe schizophrene Anmutung entwickelt. Einerseits war die Gegend durch reizende Neo-Bohème- Lädchen und -Häuser geprägt. Andererseits streiften Gangs durch die Viertel, Armut war allgegenwärtig, und die trübseligen Industriehallen und Fabriken, der Abstellbahnhof und die Gleisanlagen der BNSF-Eisenbahngesellschaft ließen die Gegend schäbig und gefährlich wirken.

Wie üblich waren wir mit zwei Autos unterwegs: meinem Jeep und Morios SUV. Menolly, Vanzir und Roz fuhren bei mir mit, Trillian, Smoky und Camille bei Morio. Ich rief Chase an und bat ihn, uns bei der Lagerhalle zu treffen.

Ich fuhr in südlicher Richtung die First Avenue entlang, und auf den Straßen war nicht viel los. Ein paar Gangmitglieder - wahrscheinlich Zeets - lungerten herum, aber die Nacht war zu regnerisch und kalt, als dass es die Leute nach draußen gezogen hätte. Wir fuhren an den Fähranlegestellen vorbei, an der Rückseite des Pike Place Market entlang und ließen das Seahawks Stadion und das SAFECO Field links liegen.

Die Straßen verloren zusehends an Charme, und der dunklere, schäbigere Teil der Gegend begann. Wir überquerten die Brücke über den BNSF-Güterbahnhof - ein Irrgarten aus Gleisen und Güterwaggons in verwittertem Rosa, Grün oder Weiß und Containern aller möglichen Firmen aus der halben Welt. Die Vorstellung, zu Fuß da unten festzusitzen, war gruselig.

Wir befanden uns nicht nur im Gang-Revier, sondern auch auf Vampir-Territorium - und zwar nicht dem von Vampiren wie Menolly, die sich größte Mühe gab, sich zu zügeln. Nein, hier herrschten Vampire wie Dominick und Terrance, die Vampire dazu aufriefen, sich nicht länger anzupassen und ihre eigene Kultur zu erschaffen, die kein Abklatsch der menschlichen Gesellschaft sein dürfe.

Menolly war aus den Anonymen Bluttrinkern rausgeflogen, der einzigen Organisation, durch die sie der fangzahnigen Gefahr hätte entgegenwirken können. Wade - der Gründer und Anführer der Selbsthilfegruppe für Vampire - fürchtete, dass sie seinem Ziel im Weg stehen könnte, der nächste Regent der Nordwest-Domäne des vampirischen Amerika zu werden. Wir hatten in letzter Zeit nichts darüber gehört, wie seine Wahlkampagne lief, aber ich hatte das Gefühl, dass er beim nächsten Zusammentreffen mit Menolly teuer dafür bezahlen würde.

Wir ließen die Brücke hinter uns, und kurz nach der South Dawson Street bog ich auf einen Parkplatz ab. Wir standen direkt neben der Lagerhalle von Emporium Meats.

»Da sind wir. Und es sieht so aus, als wären wir nicht allein.« Mit einem Nicken wies ich auf fünf weitere abgestellte Autos, die höchstwahrscheinlich den Gestaltwandlern gehörten.

»Camille und ihre Mannschaft sind da«, bemerkte Menolly, und gleich darauf parkte Morio seinen SUV neben meinem Jeep. »Wir sind gefährlich nah am Dominicks.«

»Nicht nur das. Schau mal über die Straße - anscheinend gibt es einen neuen Club in der Stadt«, sagte Roz.

Wir spähten über die dunkle Straße zu einem grün leuchtenden Neonschild hinüber. THE ENERGY EXCHANGE. Wohl kaum die Finanzabteilung des örtlichen Stromanbieters. Nein, ein Laden mit so einem Namen konnte alle möglichen Geschäfte betreiben, und keines davon bekam von meinem Instinkt für Gefahren grünes Licht.

»Gefällt mir nicht«, sagte Menolly. »Aber er fühlt sich nicht nach Vampiren an.«

»Nein.« Ich stieg aus dem Auto, blieb stehen und starrte zu dem Neonschild hinüber. »Aber irgendwas ...«

In diesem Moment traten Morio und Camille zu uns und betrachteten ebenfalls das Schild des Nachtclubs. »Hexerei. Ich kann sie spüren.«

»Glaubst du, dass Van und Jaycee auch eine Bar betreiben?« Seattle wurde allmählich ein ganz schön unheimlicher Wohnort. Zwar zog es immer mehr Feen hierher, aber offenbar auch den Abschaum der übernatürlichen Welt.

»Zwei Treggarts ... das bezweifle ich, aber ich würde wetten, dass sie Stammgäste sind.« Camille blickte über die Schulter zu dem Gebäude hinter uns. »Darüber sollten wir uns später Gedanken machen. Wir müssen in diese Lagerhalle und feststellen, ob sie Amber und die Männer hier festhalten.«

»Wie sollen wir da rangehen?« Ich musterte das Gebäude. Morios Beschreibung stimmte - es gab hinten zwei seitliche Eingänge und ein Tor, fast so breit wie die gesamte Laderampe. Es ähnelte einem elektrischen Garagentor, und ich fragte mich, ob man den Mechanismus auch von außen bedienen konnte.

»Ich vermute, dass es von innen verriegelt ist«, sagte Vanzir, der meinem Blick gefolgt war. »Aber die Seitentüren müsste man ganz gut knacken können. Sie sehen alt aus. Ich meine, wer käme schon auf die Idee, sie zu verdächtigen?«

»Wilbur hat mir auf dem Heimweg erzählt, dass Kojote- Wandler arrogant sind. Sie glauben einfach nicht, dass irgendjemand ihren tollen Tricks auf die Schliche kommen könnte. Also versuchen wir es mit einem Seiteneingang.« Roz schubste mich sacht und versuchte sich als Humphrey-Bogart-Double: »Das ist was für dich, Kleines. Wie steht's, gehst du vor?«

Ich bedeutete Camille und Morio zurückzubleiben. »Ihr beiden bildet die Nachhut. Wir können besser kämpfen, wenn wir uns nicht um ohnmächtige Hexen kümmern müssen, und Camille sollte nicht noch eine Ladung Wolfsdorn abbekommen. Menolly, du und Smoky geht mit mir voraus. Vanzir und Roz, ihr übernehmt die Mitte.«

Ich war der ungemütlichen Oktobernacht dankbar für die tiefe Dunkelheit, die uns verbarg. Ich führte die anderen über den Parkplatz zu den Betonstufen der Laderampe, die sich über die gesamte Rückseite zog. Kurz überlegte ich, ob sie vielleicht auch an den Seiten des Gebäudes weiterlief, aber wir hatten jetzt keine Zeit, nachzuschauen. Ich ging zu der Tür links von dem großen Tor, kniete mich davor und richtete den Strahl meiner kleinen Stiftlampe auf das Schloss. Es war alt und sah so aus, als wäre es eine ganze Weile nicht mehr benutzt worden.

Ich bedeutete den anderen zurückzubleiben, zupfte Menolly am Arm, und wir eilten geduckt zur Tür auf der rechten Seite. Deren Schloss war geölt und rostfrei. Jawohl, das war die Tür, durch die sie das Gebäude betraten. Darauf hätte ich ein Vermögen gewettet. Wir liefen zurück zur linken Tür, und ich berichtete den anderen flüsternd, was wir gesehen hatten.

»Sie rechnen wahrscheinlich nicht damit, dass jemand hier reingeht. Wenn wir den Weg nehmen, den sie nicht benutzen, verschaffen wir uns vielleicht ein bisschen Zeit, uns unbemerkt umzusehen. Und ich rechne zwar damit, dass es zu einem Kampf kommen wird, aber es wäre mir natürlich lieber, wir schleichen uns rein, schnappen uns Amber und die Jungs und verschwinden wieder, ehe uns jemand erwischt.«

Das stimmte nicht ganz - ich hätte die Kojoten liebend gern zu Brei geschlagen, aber je weniger Stress, desto besser. Weshalb hohe Wellen schlagen, die Stacias Aufmerksamkeit erregen könnten, wenn wir auch heimlich, still und leise vorgehen konnten? Zugegeben, heimlich, still und leise war nicht unsere Spezialität, aber wir würden es einfach nur mal versuchen. Wie ich auf die Idee kam, diesmal könnte es anders laufen als üblich, wusste ich auch nicht, aber man hielt mir ja oft genug meine optimistische Einstellung vor.

Camille nickte. »Gute Idee. Knack das Schloss.«

Ich holte meine Picks hervor und fummelte an dem Schloss herum. Es war simpel, kein mächtiges Sicherheitsschloss, sondern anscheinend noch das Original, das beim Bau der Halle montiert worden war. Ich griff zum Spanner, steckte ihn in den Zylinder, schob dann einen weiteren Pick hinein, presste ein Ohr an die Tür und begann, die Stifte zu bearbeiten.

Klick. Klick. Klick. Die Stifte waren gesetzt.

O ja, darin war ich richtig gut. Mir kam der Gedanke, dass ich mit meinem Glamour und meinem Geschick im Schlösserknacken als Diebin vielleicht mehr Erfolg hätte denn als Privatdetektivin. Ich hatte in letzter Zeit herzlich wenig Aufträge gehabt. Wenn ich mehr Zeit in die Werbung und Kundenakquise stecken könnte, würde ich natürlich auch mehr Arbeit an Land ziehen. Allerdings müsste ich diese Zeit erst mal haben. Ich hakte die Sache vorerst ab, öffnete den Zylinder, und der Riegel sprang auf.

»Kann losgehen«, flüsterte ich. »Versucht nur, möglichst leise zu sein.« Ich knipste meine Taschenlampe aus und holte tief Luft.

Und dann gingen wir rein.

Die Tür führte zu einem langen Gang, der von flackernden Neonröhren an der Decke fahl beleuchtet wurde. In diesem Licht würden wir uns nicht verstecken können, doch da der Gang leer war, brauchten wir uns darum im Augenblick nicht zu sorgen. Ich schob mich durch die Tür, suchte nach Fallen, aber da war nichts. Ich winkte die anderen herein und spähte den Gang entlang, um sicherzugehen, dass uns niemand überraschen konnte, der da vorn um die Ecke kam. Am Ende des Flurs ging es offenbar nach rechts weiter, aber bis dahin mussten wir an drei Türen vorbei - zwei links, eine rechts.

Als Morio die Tür hinter uns schloss, holte ich tief Luft und schlich so leise wie möglich den gefliesten Flur entlang. Diese Fliesen hatten schon sehr, sehr lange keinen Wischmopp mehr gesehen, und der Dreck sah so aus, als sei er über Jahre hinweg festgetreten worden.

Als wir die erste Tür links erreichten, presste ich ein Ohr an das Holz und lauschte.

Nichts.

Ich drehte probeweise am Knauf, aber die Tür war abgeschlossen. In der Hoffnung, dass eine dieser Türen uns vielleicht zu den vermissten Werwölfen führen würde, holte ich meine Picks wieder hervor. Zwei Minuten später war die Tür offen, und wir starrten in einen Raum, der nichts zu bieten hatte außer einem Schreibtisch. Und einer Unmenge Staub.

Wir gingen weiter zur mittleren Tür auf der rechten Seite. Diese war nicht verschlossen, und nachdem ich wieder aufmerksam gelauscht hatte, schob ich sie vorsichtig einen Spaltbreit auf und hielt inne. Nichts. Kein Geräusch, keinerlei Hinweis darauf, dass jemand in dem Raum war. Ich schob die Tür noch ein Stück weiter auf und spähte nach drinnen. Der Raum war dunkel, aber es stand viel darin herum. Ich bedeutete den anderen, draußen zu warten, und tippte Menolly auf die Schulter, damit sie mir folgte.

Ich beschloss, es zu riskieren und meine kleine Taschenlampe einzuschalten. Langsam ließ ich den dünnen Lichtstrahl durch den Raum schweifen. Er war vollgestopft mit Kisten und Säcken in verschiedensten Größen. Hm ... Lagerraum? Ich schlüpfte zwischen zwei Kistenstapel, um mir die Aufschrift anzusehen. Die Kiste war gut verschlossen und enthielt offenbar Pfirsichkonserven.

»Pfirsiche?« Ein rascher Blick die Reihe von Kisten entlang zeigte mir, dass auch die übrigen Kisten Dosen mit Obst, Gemüse und Thunfisch, große Gläser Erdnussbutter und andere Vorräte enthielten. »Was haben die vor? Soll das hier eine Art Bunker werden?«

Menolly stupste mir den Ellbogen in die Rippen. »Psst. Wer weiß, was die planen. Aber du hast recht, in diesem Raum lagern genug Vorräte, um eine vierköpfige Familie ein Jahr lang zu ernähren.« Sie runzelte die Stirn. »Glauben die an irgendeine Art Apokalypse, die es zu überleben gilt, oder was?«

»Ich weiß nicht.« Ich öffnete einen weiteren Karton, der nicht beschriftet und nicht richtig verschlossen war - jemand hatte nur die Ecken der oberen Klappen untereinander gesteckt. Heilige Scheiße! Unwillkürlich machte ich einen Satz rückwärts.

»Was ist?« Menolly beugte sich an mir vorbei, um einen Blick hineinzuwerfen. »Verflucht, das glaub ich ja nicht. Was zum Teufel soll das werden?«

Aus der Kiste starrten uns Dynamitstangen entgegen. Viele. Ich hatte keine Ahnung, wie viele genau, aber jedenfalls zu viele, um sie mit einem schnellen Blick zählen zu können.

»Ich weiß es nicht, aber das gefällt mir überhaupt nicht. Das Zeug ist nicht einsatzbereit - die Sprengkapseln müssen irgendwo anders sein, aber Dynamit ist unbeständig.« Ich hatte bereits geflüstert, doch nun sprach ich noch leiser. »Wir wissen nicht, wie lange es schon hier liegt. Dynamit zersetzt sich. Ich fühle mich wirklich nicht wohl in einem Gebäude, in dem dieses Zeug lagert.«

»Da hinten ist noch eine Tür.« Menolly wies mit einem Nicken auf die hintere Wand. »Ich lausche nur schnell, dann verschwinden wir hier.« Lautlos glitt sie zu der Tür hinüber und presste ein Ohr daran. Dann trat sie ebenso lautlos zurück, ohne sie zu öffnen, und zeigte mit dem Finger in Richtung des Gangs, wo die anderen warteten.

Als sie die Tür hinter uns schloss, lehnte ich mich an die Wand - die gegenüberliegende, denn hinter der Tür, durch die wir gerade gekommen waren, lagerte genug Dynamit, um das ganze Gebäude zu Staub zu zerblasen. Erst jetzt erlaubte ich mir zu atmen.

»Wir müssen sehr vorsichtig sein. Anscheinend spielen die Koyanni gern mit Sachen, die Bumm machen. Dynamit zum Beispiel. In dem Raum steht mindestens eine Kiste voll. Außerdem haben sie genug Nahrungsmittel, um einen kleinen Supermarkt zu bestücken - sieht aus, als würden sie Vorräte horten. Ich habe keine Ahnung, warum, aber betrachtet sie ab sofort als gemeingefährlich. Und schickt um Himmels willen nichts, das explodiert, in diesen Raum. Keine Blitze, keine Feuerbälle, sonst fliegt die Halle in die Luft.«

»Auf der anderen Seite ist noch eine Tür«, fügte Menolly hinzu. »Und ich habe dahinter jemanden gehört. Ich schlage vor, wir arbeiten uns langsam weiter den Flur entlang und sehen uns an, was hinter dieser Ecke kommt.«

Als ich das Ende des Gangs erreichte, signalisierte ich den anderen, dass sie zurückbleiben sollten, und schob vorsichtig den Kopf so weit vor, dass ich um die Ecke spähen konnte. Nach einer Strecke, die etwa der Länge eines Raums entsprach, zweigte ein weiterer Gang nach rechts ab.

Es war schwer zu sagen, wo dieser erste Flur endete - wahrscheinlich in einem weiteren Flur quer dazu. Das Gebäude war groß, aber nicht endlos. Ich sagte den anderen mit einem Nicken, dass sie mir folgen konnten, und hielt auf den abzweigenden Flur zu.

Wir hatten ihn fast erreicht, als ein dünner, drahtiger Mann um die Ecke geschossen kam. Er las etwas auf einem Klemmbrett und stieß mit mir zusammen. Er prallte zurück und riss den Mund auf, als ihm klarwurde, was er vor sich sah.

»Scheiße«, sagte ich. Ein Spinner im Laborkittel würde uns auffliegen lassen.

Aber er blieb nicht etwa stehen, um uns anzugaffen und zu schreien wie ein zerstreuter Wissenschaftler. Nein, er riss etwas aus der Tasche, das locker in seine Hand passte, und stieß einen Laut aus, der wie eine Mischung zwischen einem Bellen und einem Jaulen klang. Gar nicht gut. Aber ehe ich ein Wort sagen konnte, erwiderte Morio den Ruf und heulte aus voller Kehle, während er seine riesige Dämonengestalt annahm. Ein zwei Meter vierzig großer, humanoider Fuchsdämon war ein beeindruckender Anblick.

»Allerdings«, sagte Menolly und raste los, doch ehe sie den Kerl erreichen konnte, hob er den Gegenstand, den er in der Hand hielt, und drückte auf einen Knopf. Und dann brach die Hölle los.

Ich stürzte mich gerade rechtzeitig auf ihn, um in eine Woge von etwas hineinzulaufen, das sich wie elektrischer Strom anfühlte. Vielleicht war es auch irgendein Gift oder ein starkes Beruhigungsmittel, jedenfalls schössen tausend spitze Nadeln durch meinen Körper, und ich sackte zusammen wie eine überkochte Nudel. Während ich zuckend am Boden lag, sprang Menolly über mich hinweg, und ich wartete auf das befriedigende Knirschen, mit dem sie unserem Gegner die Knochen brach. Stattdessen landete sie neben mir auf dem Boden, und obwohl ihre Augen rot glühten, konnte sie sich nicht rühren.

»Du bist tot!« Smoky flog an mir vorbei, und wieder hörte ich dieses Gerät summen, diesmal jedoch gefolgt vom Klatschen einer feuchten, weichen Masse an der nächsten Wand, und dann hallte Smokys heiseres Gelächter durch den Gang. Camille half mir auf, während ein zuckendes, schmerzhaftes Kribbeln meine Nerven bearbeitete wie ein verdammtes Folterinstrument.

»Kannst du stehen? Kannst du mich hören?« Sie schlang die Arme um mich und half mir zur Wand, damit ich mich dagegenlehnen konnte. Menolly schleppte sich zu uns herüber - anscheinend hielt die Wirkung nicht so lange an, wenn man bereits tot war.

Ich nickte und japste nach Luft. »Ja ... ja ... wird schon wieder. Alles okay.« Ich sah nach Smoky, der am Ende des Flurs stand und Wache hielt. Der Kerl im Kittel bildete eine Pfütze auf dem Boden, denn aus jeder Körperöffnung rann Blut. Smoky hatte ihn nicht nur wie einen Müllsack herumgeschleudert, sondern ihn auch mit den Klauen bearbeitet. So viel zur ersten Welle.

Camille hob vorsichtig die Waffe auf, die ihm aus der Hand gefallen war, und reichte sie Roz. »Du bist der Waffenexperte. Was ist das?«

»Eine Art magischer Taser«, antwortete er. »Schwarze Magie, kein Zweifel.« Er hielt inne und sah uns dann mit halb zusammengekniffenen Augen an. »Wollen wir wetten, dass dieses Ding etwas mit dem neuen Club zu tun hat - dem Energy Exchange? Nur so ein Gefühl.«

Ich streckte die Hand aus. »Lass mal sehen.«

Das Ding ähnelte einem der altmodischen Phaser aus den ersten Raumschiff Enterprise-Jahren und war leichter, als es aussah. Ein einfacher Knopf diente als Auslöser, und auf einem kleinen grünen Display leuchtete die Zahl 10. Auf einer anderen Anzeige blinkte ein Symbol. Bedeutete es, dass die Waffe neu geladen werden musste ? Oder war sie schussbereit ?

Das würden wir gleich herausfinden, denn links vor uns flog eine Doppeltür zum Flur auf, und eine Gruppe Männer stürmte hindurch. Alle waren drahtig und dünn, und ich sah zwar keine von diesen magischen Elektroschockern mehr, aber mindestens zwei von ihnen waren mit Baseballschlägern bewaffnet, und einer hatte ein sehr hässlich aussehendes Stilett in der Hand.

»Besuch, und sie sehen nicht freundlich aus!«, rief ich, hob das Gerät und zielte damit auf den Anführer. Er hielt inne. Ich entschied, dass wir sowieso nicht kampflos hier herauskommen würden, und drückte ab.

»Scheiße!«, kreischte Camille, und ich hörte einen ziemlichen Aufruhr hinter mir, hatte aber keine Zeit, mich umzudrehen. Der Anführer war zu Boden gegangen, aber die anderen vier Männer stürmten auf uns zu, und ich wusste, dass ich nicht alle mit dem Ding erwischen konnte, ehe sie uns erreichten.

Ich versuchte es mit einem weiteren Schuss, aber der Taser stotterte nur schwächlich, und ich sah ein rotes Minuszeichen auf dem Display. Das Ding hatte keinen Saft mehr - um das zu erkennen, brauchte man kein Experte zu sein. Ich warf es weg und zückte meinen Dolch, gerade rechtzeitig, denn der erste Kojote schwang den Baseballschläger und zielte auf meinen Kopf.

Ich schaffte es zwar, mir keine Gehirnerschütterung zu holen, aber ich wich nicht schnell genug aus und bekam doch etwas ab. Er traf mich voll an der Schulter, und ich jaulte auf, während er mit dem Schläger erneut ausholte. Ich nutzte diesen Moment und schoss unter seinem Arm durch. Lysanthra pfiff durch die Luft, fuhr singend in seinen Arm und schlitzte ihm den Bizeps auf. Er schrie auf, ließ den Schläger fallen und presste die Hand auf den Arm, der heftig blutete.

Da er vorübergehend außer Gefecht war, wirbelte ich herum, um den anderen zu helfen. Smoky hatte zwei Gestaltwandler niedergemacht, aber ich sah jetzt, warum Camille aufgeschrien hatte. Sie kniete neben Trillian, der sich benommen aufsetzte und sich den Kopf hielt. Drei tote Kojoten lagen hinter ihnen, und Vanzir wischte sich Blut von der Klinge.

Ich bemerkte, dass mein Gegner aufzustehen versuchte, und blitzschnell stand ich schräg hinter ihm und drückte ihm Lysanthra an die Kehle.

»Von jetzt an wird es für dich nicht mehr besser, aber es könnte wesentlich schlechter werden«, sagte ich. »Wo sind die Werwölfe?«

Er starrte mit schmalen Augen zu mir auf. »Leck mich, Miststück.«

»Da weiß ich was Besseres. Ich könnte meine Panthergestalt annehmen und dich in Fetzen reißen. Ich könnte dir von unserem Freund hier«, ich nickte in Vanzirs Richtung, »die Lebenskraft aussaugen lassen. Ich könnte meine Schwester bitten, einen Blitz in euren Dynamitvorrat zu jagen und den ganzen Schuppen zu Staub zu zerblasen. Aber du könntest mir auch sagen, was ich wissen will, und vielleicht... nur vielleicht ... mit heiler Haut davonkommen.« Natürlich hatte ich eigentlich vor, ihn dem Gericht der ÜW-Gemeinde auszuliefern, aber er würde am Leben bleiben. Noch ein Weilchen.

Er räusperte sich. »Scheiß drauf ... da drin.« Er deutete auf die Doppeltür. »Aber da sind noch Wachen.«

»Braver Junge. Jetzt schlaf ein bisschen.« Chase müsste inzwischen draußen sein. Er war klug genug, auf uns zu warten und nicht allein hier reinzustürmen. Ich sah mich um. Verflixt, wir hatten nichts, womit wir unsere Gefangenen ausschalten konnten. »Also dann, gute Nacht.« Damit verpasste ich ihm einen kräftigen Schlag auf den Hinterkopf. Mit einem leisen Stöhnen kippte er weg.

»Was sollen wir mit ihm machen?« Vanzir half mir, ihn hochzuheben.

»Bring ihn hinten raus und schau nach, ob Chase schon da ist. Sag ihm, dass der Kerl ein Gefangener für die ÜW- Gemeinde ist, höchste Sicherheitsstufe. Sie müssen ihn medizinisch versorgen und wegsperren. Dann komm so schnell wie möglich wieder her.«

Vanzir warf sich den Kojote-Wandler über die Schulter und rannte den Weg zurück, den wir gekommen waren.

Ich musterte die anderen. »Wie steht es mit euch? Trillian, alles klar?«

Trillian rieb sich den Kopf, stand aber inzwischen wieder halbwegs sicher auf den Füßen. »Ja. Mir dröhnt der Schädel, aber das wird wieder.«

»Dann los. Unsere Werwölfe sind da drin, mit weiteren Wachen.« Ich ging auf die Doppeltür zu. Wir sollten unseren Gegnern nicht noch mehr Zeit lassen, sich vorzubereiten, denn gewarnt waren sie jetzt.

»Wollen wir auf Vanzir warten?«, schlug Camille vor.

»Nein, der kommt schon nach.« Ich hatte keine Lust, noch mehr Zeit auf diese Säcke zu verschwenden.

Wir gingen zu der Doppeltür, und ich blieb stehen und winkte Menolly nach vorn. Sie grinste und brach mit einem mächtigen Tritt beide Türen zugleich auf, die mit donnerndem Krachen an die Wände knallten.

Der Raum war riesig, und ich wusste nicht genau, wozu er früher gedient hatte, aber große Fleischerhaken an der Decke gaben uns einen guten Hinweis. Ich starrte hinauf, und mir wurde ein wenig schlecht, als ich das getrocknete Blut an den rostigen Haken sah.

Es waren Hunderte, die in langen Reihen an einer Art Seilzug hingen. Und dann sah ich an einem Haken ein gutes Stück vor uns etwas baumeln. Es war ein Kadaver, von Kopf bis Fuß abgehäutet. Ich holte tief Luft und wandte mich ab, um mich zu wappnen, ehe ich ihn mir näher ansah ... ehe ich nachschaute, ob das Saz oder Doug sein könnten oder ... sogar Amber.

Auf der anderen Seite der Halle reihten sich alte Rollwagen und große Edelstahlbecken und weiter hinten Käfige. Von hier aus konnte ich sehen, dass mindestens drei von den Verschlagen besetzt waren. Und davor standen vier weitere Wachen, die uns schon erwarteten. Mit denen würden wir fertig werden - selbst wenn sie mit diesen magischen Tasern bewaffnet waren, würden wir sie überrennen und allemachen.

»Also, wir können uns die Sache sehr erleichtern«, sagte Menolly. »Geht alle da rüber, weg von der Tür und von den Käfigen.« Dann war sie urplötzlich verschwunden. Wir waren kaum ihrer Anweisung gefolgt, als sie wieder erschien, und zwar mit der Kiste - ach du Scheiße.

»Was willst du damit?« Ich deutete auf das Dynamit.

»Mir ihre Dummheit zunutze machen. Das Zeug scheint stabil zu sein, aber das wissen sie nicht unbedingt, und ich brauche ihnen ja nicht zu sagen, dass ich die Sprengkapseln nicht habe.« Sie zog eine Stange aus der Kiste, fummelte kurz daran herum und marschierte dann auf die Wachen zu, die Dynamitstange deutlich sichtbar in der ausgestreckten Hand.

»Ihr habt Zeit, bis ich in Wurfweite bin, um eure Waffen niederzulegen und beiseitezugehen. Ich bin ein Vampir - eine Stange Dynamit wird mich vielleicht ein bisschen kitzeln, aber weiter keinen Schaden anrichten. Ihr hingegen seid ein bisschen anfälliger, nicht? Überlegt euch das gut. Ihr bekommt nur eine Chance.«

Ihre Stimme klang so gebieterisch, so fest und resolut, dass ich unwillkürlich selbst zurückwich. Ich war nicht mal sicher, ob sie nicht doch eine Sprengkapsel gefunden hatte. Und mir fiel auf, dass auch Roz, Camille und Trillian einen großen Schritt nach hinten machten.

Die Wachen gingen ihr ebenfalls auf den Leim. Ein Glück für uns. Sie ließen ihre Baseballschläger fallen - den Göttern, sei Dank hatten sie wohl nur einen dieser Taser gehabt, die vermutlich ein hübsches Sümmchen kosteten. Mit erhobenen Händen gingen sie rückwärts von den Käfigen weg.

Während Menolly sie zusammenpferchte, rief sie über die Schulter: »Holt Chase und ein paar Handschellen. Die hier kann er auch gleich mitnehmen.«

Vanzir sauste los, während Smoky Menolly half, die Gefangenen zu bewachen. Roz biss die Zähne zusammen und stieg auf eine Klappleiter, um den Kadaver am Haken zu erreichen. Wir Übrigen eilten zu den Käfigen hinüber. Drei waren belegt. Zwei Männer, eine Frau - Amber. Und sie trug tatsächlich ein Geistsiegel um den Hals. Ich fand die Zellenschlüssel und schloss ihren Käfig auf, doch sie hielt mich auf, ehe ich mich den nächsten Türen zuwenden konnte.

»Die beiden sind durchgedreht. Sie sind nicht bei klarem Verstand, sie würden dich angreifen.« Ich löste die Schellen um ihre Handgelenke und Knöchel, und sie rieb sich die Arme. »Danke. Ich bin Amber ...«

»Du bist Lukes Schwester. Ich weiß. Wir haben nach dir gesucht. Und ich wette zehn zu eins, dass die beiden mit Steroiden vollgepumpt sind.«

Amber nickte. »Ich dachte mir schon, dass sie ihnen so etwas geben, aber ich habe nicht verstanden, warum. Nur dass ...« Ihre Stimme brach, und sie blickte zu dem Kadaver auf, den Roz und Vanzir mühsam von dem Fleischerhaken zerrten. »O großer Upuaut. Ich konnte von meinem Käfig aus nicht sehen, was sie mit ihm gemacht haben. Deshalb also hat er immerzu geschrien.«

Ein betroffener Ausdruck breitete sich über ihr Gesicht, und sie ließ den Kopf hängen. »Er war nett zu mir. Er gehört zu denen, aber er war freundlich zu mir, und sie haben ihn dabei erwischt, wie er versucht hat, meine Schellen zu lockern, damit es nicht mehr so weh tut. Sie haben ihn vor meinen Augen zusammengeschlagen und ihn lachend weggeschleift. Etwa eine Stunde später hat er angefangen zu schreien. Eine weitere Stunde lang, und ... dann nicht mehr.«

Das beantwortete meine Frage. Die beiden Männer in den anderen Käfigen mussten Doug und Saz sein. Paulo war gefoltert und ermordet worden. Und nach dem, was Amber eben erzählt hatte, sprangen sie mit ihresgleichen genauso grausam um wie mit ihren Feinden. Was eigentlich Widerstand hervorrufen müsste, außer die Angst vor Strafe war sehr viel stärker.

Chase kam mit seinen Leuten herein, und sie begannen, sich um die aufgeputschten Werwölfe und den gehäuteten Kadaver zu kümmern. Ich sagte ihm, dass wir Amber ins Hauptquartier bringen würden, weil sie medizinische Versorgung bräuchte und ihre Aussage machen müsse. Er warf einen Blick auf den Anhänger ihrer Kette, nickte aber nur stumm.

Während wir unsere Sachen einsammelten - Roz hob den magischen Elektroschocker auf und verstaute ihn in seinem Gürtel - und das Gebäude verließen, wollte ein Teil von mir die Bude in die Luft fliegen sehen. Ich dachte kurz daran, zurückzukommen, wenn alle weg waren, und das Dynamit anzuzünden, um diesen Ort des Elends und der Folter dem Erdboden gleichzumachen. Aber ich wusste, dass dieser Drang besser eine Wunschvorstellung blieb. Ich war keine Barbarin - noch nicht. Aber ich lernte recht schnell, wie weit unsere Feinde gehen konnten, ehe sich das änderte.