Kapitel 3

 

Blinzelnd setzte ich mich auf und sah mich um. Ich saß in einem Wald mit wucherndem Gebüsch und dichtem Unterholz. Die Bäume waren unglaublich groß, sie reckten sich so hoch in den Himmel, dass ich die Kronen nicht sehen konnte. Zedern, Tannen, Eichen, Erlen und Birken mit Moos und Pilzen an den mächtigen Stämmen. Zarte Flechten hingen von den Ästen und wehten in der sanften Brise, die an mir vorbeistrich. Die Laubbäume trugen prächtige Farben, Rot und Orange, Gold und Gelb, und von jedem Zweig tropften die letzten Reste eines herbstlichen Regenschauers.

Ich stand auf und tastete mich ab, aber offenbar fehlte mir nichts. Keine Brüche, Beulen oder Schnittwunden. Ich blickte mich um und fragte mich, ob ich träumte. Anscheinend stand ich auf einem Pfad, der in den Wald hineinführte, und irgendetwas drängte mich dazu, ihn entlangzulaufen. Wo auch immer ich sein mochte, irgendwo da vorn wartete etwas auf mich.

Ich joggte los und rannte dann immer schneller. Die Bäume flogen nur so an mir vorbei, und ich merkte, wie sehr ich die Bewegung genoss. Mein Körper fühlte sich so lebendig an, voller Energie und Freude an der Jagd. Meine Muskeln jubelten über die Bewegung und wurden vollgepumpt mit Blut, das schnell durch meine Adern schoss.

Der Himmel hier - wo auch immer hier sein mochte - zeigte sich irgendwo zwischen Sonnenuntergang und Abenddämmerung. Selbst im Zwielicht hatte ich keine Schwierigkeiten, die herabgefallenen Äste und Zweige auf dem Pfad zu erkennen. Mir fiel auf, dass ich beim Rennen nicht außer Atem geriet. Ich wurde auch nicht müde. Ich sprang über kopfgroße Steinbrocken und setzte über einen umgestürzten Baumstamm hinweg, der quer über dem Weg lag, und schließlich konnte ich das Ende des Pfades erkennen.

Der Drang zu rennen ließ nach, doch der Ruf von dort vorn war nicht weniger deutlich. Ich ging bis zum Waldrand, blieb stehen und sah vor mir einen dunklen Kreis - eine Art Lichtung oder Hain, und in der Mitte lag eine große Scheibe aus Bronze mit eingravierten Runen und Symbolen, die ich nicht lesen konnte.

Ich ging langsam und mit angehaltenem Atem weiter, gespannt darauf, was jetzt geschehen würde. Dieser Ort war voller Magie. Sie umgab mich wie ein knisternder Wirbel, und obwohl ich nicht wusste, was sie war oder wie sie wirkte, konnte ich spüren, wie sie mich durchströmte. Wie eine Welle leichter Nadelstiche floss sie über meine Arme, so dass ich eine Gänsehaut bekam.

Und dann erschien plötzlich eine Gestalt auf der erhöhten Scheibe. Es war ein Mann in einem dunklen Anzug. Er war jung - höchstens dreißig -, und ein verlorener, verwirrter Ausdruck breitete sich über sein Gesicht. Ich runzelte die Stirn. Was zum Teufel sollte ich jetzt machen?

Während ich ihn beobachtete, flüsterte eine Stimme hinter mir: »Willkommen zum Unterricht, Liebes.«

Ich wirbelte herum und stand einer zierlichen Frau in einem langen, durchscheinenden Gewand in der Farbe des Abendhimmels gegenüber. Ihr Haar schimmerte kupferrot wie Menollys und fiel ihr in dichten Wellen über die Schultern. Auf ihrem Kopf saß ein Kranz aus Herbstlaub. Ich hielt den Atem an - ihre Stirn trug dasselbe Mal wie meine, dieselbe Tätowierung. Nur dass in der Mitte ihrer Sichel eine Flamme loderte und das Zeichen hell leuchten ließ. Und ihre Arme ... Verschlungene Ranken und Blätter in strahlendem Schwarz und Orange bedeckten ihre Haut - schimmernde Tätowierungen wie die schwarze Sichel auf unser beider Stirn.

»Du ... du bist...«

»Eine Todesmaid, genau wie du. Und doch nicht wie du. Ich bin tot, ja, und dennoch genauso greifbar und körperlich wie du.« Ihr Blick musterte mich wie ein Scanner, prüfte und begutachtete mich und - zumindest hatte ich das Gefühl - war nicht gerade überzeugt von mir. Ich errötete und starrte auf meine Schuhe hinab.

»Mein Name ist Greta, und man hat mir die Aufgabe zugewiesen, dich auszubilden.« Sie streckte die Hand aus, und ihre Finger strichen sacht über mein Kinn. Greta war kaum über einen Meter fünfzig groß, doch die Kraft, die in dieser Berührung steckte, haute mich beinahe um.

»A... Ausbildung?« Die Zuversicht, mit der ich hierhergestrebt war, schien zu verfliegen, als ihre Energie mich mit voller Wucht traf. Wie beim Herbstkönig, aber auch wieder nicht. Sie war mit seiner Energie durchtränkt, strahlte aber nicht die Herbstzeit aus wie er - nein, sie war ... die Jägerin. die Jägerin, die etwas hetzte wie der Hund den Fuchs, der Tiger die Gazelle, die Katze die Maus.

»Unser Herr hat bestimmt, dass es nun an der Zeit ist, mit deiner Ausbildung zu beginnen. Du bist die einzige lebende Todesmaid in seinem Stall. Deshalb muss deine Ausbildung besonders vorsichtig und sorgfältig erfolgen. Ich bin die Anführerin der Todesmaiden und am besten dafür geeignet, dich in deine neuen Pflichten einzuführen.«

Sie umkreiste das runde Podium und starrte den jungen Mann an.

»Ich wusste nicht, dass ich irgendeine Ausbildung brauche. Er ruft mich einfach und sagt mir, was ich tun soll.« Ich war so vor den Kopf geschlagen, dass ich nicht merkte, wie sie sich an mich heranschlich. Und plötzlich stand sie neben mir - sie reichte mir kaum bis zur Schulter.

»Das ist vorbei. Deine Ausbildung erfährst du durch mich. Heute Abend wirst du lernen, was es wirklich bedeutet, eine Todesmaid zu sein. Sieh gut zu. Höre gut hin. Spüre. Du bist nun auf dem Weg dorthin, das volle Potenzial deiner neuen Existenz zu erkennen.«

Ehe ich etwas sagen konnte, hob sie die Hand und legte mir sacht die Finger auf den Mund. »Schweig. Sag nichts. Sei stumm und still.«

Und ich war still.

Greta ging auf das Podium zu, auf dem der Mann nun kniete. Sie beugte sich über die bronzene Scheibe. Angst flackerte in seinen Augen auf, und er wich zurück, doch eine Kraft - die ich bis hier herüber spüren konnte - hielt seine Knie auf dem Podium fest, und er begann zu zappeln, um sich zu befreien.

»Nicht doch, nicht doch, mein Freund«, flüsterte Greta, und das Echo ihrer Stimme hallte über die Lichtung wie ein Schauer des Begehrens und der Liebe. »Weißt du, wer ich bin?«

Er biss sich auf die Lippe. »Ich bin noch nicht so weit. Ich bin nicht bereit zu gehen.« Er schluckte, und als er weitersprach, zitterte seine Stimme nicht mehr. »Meine Zeit kann noch nicht gekommen sein.«

»Doch, das ist sie. Das natürliche Gleichgewicht will es so. Die Schnitter haben mich geschickt. Du bist ein mutiger Mann, du hast heute viele Menschenleben gerettet, doch um die Waage wieder ins Gleichgewicht zu bringen, verlangt das Schicksal deinen Tod.« Gretas Stimme floss und perlte melodisch über die Worte hinweg. »Ronald Wyndham Niece, ich komme, deine Seele zu holen.«

Da begann er zu weinen. »Aber ich habe doch geholfen, sie zu retten - ich habe getan, was ich konnte, und jetzt...«

Ich sah zu, wie Greta ihm zärtlich über die Wange strich und etwas murmelte, das ich nicht verstand. Die Tränen versiegten augenblicklich, und als er zu ihr aufblickte, breitete sich ein dankbares, wunderschönes Strahlen über sein Gesicht. Sie beugte sich hinab und küsste ihn zärtlich, dann inniger, und er breitete die Arme aus. Sie ließ sich an ihn gleiten, er umschlang sie, und ihr Kuss wurde tief und sinnlich.

Ich seufzte tief und merkte, dass mich der Anblick erregte.

Greta strich ihm über den Rücken und die Arme, sein Jackett war plötzlich weg, und dann drückte sie seinen nackten Oberkörper an sich - auch das Hemd war verschwunden. Meine Lippen teilten sich, ich spürte ihre Leidenschaft, schmeckte einen Hauch seiner Seele auf der Zunge ...

Sie winkte mich herbei, und mit drei großen Schritten war ich bei ihr. Sie nahm meine Hand, und ich konnte die Empfindungen spüren, die von ihr in ihn hineinströmten. Jede Berührung ließ einen kleinen Tod explodieren. Ich verlor mich in der Energie, wurde ebenso davon mitgerissen wie er, und als sie ihm die Seele durch den Mund aussog, seine Essenz einatmete und seine Seele durch ihre Haut wieder ausströmte, schauderte ich und kam, plötzlich und ohne Vorwarnung. Wie betäubt sank ich zu Boden.

Mit einem letzten Stöhnen brach er in ihren Armen zusammen, verwandelte sich dann in eine Säule aus weißem Nebel und schwebte zum Abendhimmel hinauf.

Ron Wyndham Niece war tot.

Greta wandte sich mir zu. »Dies war deine erste Lektion: was es bedeutet, die Seele eines Helden zu ernten. Er wird nun eine Weile unter jenen verbringen, die etwas Großartiges in ihrem Leben bewirkt und es dabei geopfert haben.«

Ich blinzelte verblüfft. »Du hast ihn getötet?«

»Nein, er starb durch eine Kugel aus dem Gewehr eines Amokläufers, der einen ganzen Bus voller Menschen ermordet hätte - wenn Ron Niece es nicht verhindert hätte. Er stürzte sich auf den Amokschützen, und bei diesem Handgemenge wurde er erschossen. Statt seine Seele unbemerkt dahinscheiden zu lassen, haben die Herren von Walhall nach ihm gerufen. Da ihre Walküren aber nur die Seelen echter Krieger heimführen - und nicht alle Helden sind Krieger -, haben sie den Herbstkönig gebeten, eine von uns nach ihm zu schicken, um ihn zu ernten, ehe er fortgeht. Er wird die Ehre haben, einige Zeit in der heiligen Halle zu verbringen.«

»Erntet man alle Seelen mit einem Kuss?« Ich wusste nicht recht, ob mir das gefallen würde. Was, wenn ich einen Dämon ernten und küssen musste? Wie Karvanak, oder jemand ähnlich Widerlichen? Oder irgendeinen Perversen?

Sie lächelte plötzlich schüchtern. »Helden schenken wir einen Tod, der allen Schmerz und Verlust von ihnen nimmt - ihre Erinnerung daran wie ihre Angst davor. Unser Kuss führt sie auf die angenehmste Weise ins Leben nach dem Tod. Du wirst noch lernen, dass wir anderen Seelen - Seelen, die weniger stolz auf ihr vergangenes Leben sein können - entschieden weniger Freude bereiten. Aber um deine unausgesprochene Frage zu beantworten: Ja, manchmal töten wir selbst für die Schnitter, wenn sie es verlangen.«

Ich starrte sie an und begriff erst allmählich, was sie da sagte. Wir waren tatsächlich die Erntehelferinnen des Herbstkönigs. Wir konnten den Übergang in ein anderes Dasein leicht oder aber - daran zweifelte ich nicht - grausig schmerzhaft machen.

Mich schauderte bei der Vorstellung, was für eine Behandlung Letzteren widerfahren mochte. Ich schaute wieder zu dem Podium hinüber. »Kommen wir immer hierher, um unsere Aufgabe zu erfüllen?«

Greta setzte sich auf die Kante der Bronzescheibe. Die Zeichen glühten nicht mehr. »Nein, nicht immer. Aber so ist es für deine Ausbildung am einfachsten. Wenn man dorthin reist, wo der Erwählte tatsächlich ist, muss man es ertragen, alle um den Sterbenden versammelt zu sehen, obwohl diese einen nicht sehen können. Anfangs ist es schwer, die schluchzenden Angehörigen zu sehen, oder die Sanitäter, die so verzweifelt versuchen, deinen Erwählten im Leben festzuhalten.«

»Wie gehst du damit um, wenn ein Tod mit so viel Kummer verbunden ist? Wenn du weißt, wie sehr diejenigen leiden werden, die zurückbleiben?« Ich konnte mir nicht vorstellen, jemandem das Leben vor den Augen seiner Freundin oder seiner Kinder herauszureißen. »Wie schirmst du dich dagegen ab, damit es dir selbst nicht wehtut?«

Sie schüttelte den Kopf. »Du bist ganz neu in diesem Dasein, und dass du noch am Leben bist, ist ein großer Nachteil für dich. Du bist noch nicht selbst durch den Schleier gegangen - du stehst noch in der Blüte der Jugend.« Seufzend schloss sie ihre gespenstische Hand um meine Finger.

Im Gegensatz zu Menolly fühlte sie sich nicht kalt an, sondern warm und einladend.

»Hilf mir, es zu verstehen.«

Es hatte keinen Zweck, sich alledem zu widersetzen. Es war meine Bestimmung, und eines Tages würde ich vielleicht hier sitzen und die Hand irgendeiner jungen Frau halten, der ich beibringen sollte, was es bedeutete, für Hi'ran zu arbeiten. Es war mein Schicksal, das ich ebenso gut gleich akzeptieren konnte, um mich damit anzufreunden. Ganz gleich, wie lange es noch dauern würde, bis ich in seinen Harem eintrat, irgendwann würde ich wieder hier landen, neben Greta.

Sie drückte meine Finger. »Du wirkst so resigniert. Ich weiß, womit du in deiner Welt zu kämpfen hast - oder vielmehr deinen Welten. Ich weiß, was dir bevorsteht. So viel, und doch wird es keinerlei Bedeutung mehr haben, wenn du zu uns stößt. Doch vorerst brauchst du nur zu wissen, dass du einiges lernen wirst. Ich verspreche, dir dabei zu helfen. Und bald wirst du verstehen, wie es ist, einem Erwählten den Atem zu rauben.«

»Sag es mir. Ich will es wissen. Es ist wichtig für mich, das richtig zu lernen. Das ist eine heilige Aufgabe, und ich will keine Fehler machen.«

Die Tätowierungen an ihren Armen flackerten auf. »Wenn du ihren Hauch des Lebens einatmest, kannst du ihre Seele berühren. Du spürst sie, du wiegst sie in deinen Armen. Mit denjenigen, die gewalttätig und grausam sind, geben wir uns nicht ab - das ist nicht nötig, außer wenn wir uns vergewissern möchten, dass sie tatsächlich Bestien sind, wie die Götter sagen. Aber Ronald - ich habe jeden Zoll von ihm gespürt, seine Liebe, seinen Kummer, seine Erinnerungen gefühlt. Sein Glück und seine Enttäuschungen. Ich habe ihn davon reingewaschen, so dass er bereit war, die Welt zu verlassen. Diesen Trost schenken wir jenen, die ihr Leben genutzt haben, um etwas Gutes zu bewirken. Wir schenken ihnen einen gesegneten Übergang.«

Ich ließ ihre Worte in mich einsickern, und einen Augenblick lang verstand ich. Dann verblasste das Gefühl, doch es hinterließ einen Hauch von Balsam, der meine Sorge und Angst besänftigte.

»Wenn dein Dienst für den Herbstkönig endet, wirst du frei sein, zu deinen Ahnen heimzukehren, weißt du?«, fügte sie hinzu.

Das war mir neu. »Wie meinst du das? Ich dachte, wir dienen ihm bis in alle Ewigkeit.«

»O nein, meine Liebe. Du dienst ein Zeitalter lang, und wenn er nicht noch irgendetwas Besonderes von dir will, bist du danach frei, deine eigene Reise anzutreten. Also fasse Mut, es ist gut möglich, dass du im Jenseits nicht ewig an ihn gebunden sein wirst. Und er ist wahrlich ein sinnlicher und ... großzügiger ... Partner.«

Damit stand sie auf und deutete auf den Pfad. »Und jetzt lauf. Lauf wie der Wind. Beim nächsten abnehmenden Mond werde ich dich wieder holen, und dann wirst du selbst das Steuer übernehmen, wenn wir unseren Unterricht fortsetzen. Doch jetzt kehre zurück in dein Leben. Lebe und genieße es.«

Und schon war ich auf und davon. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich rannte, aber allmählich wurde ich schläfrig. Es würde nicht schaden, mich kurz hinzulegen und auszuruhen, dachte ich. Also nahm ich meine Panthergestalt an, rollte mich unter einem Baum zusammen, und nur der Wind leistete mir Gesellschaft, als ich in tiefen Schlaf fiel.

»Delilah? Delilah? Wach auf!« Iris' Stimme hallte durch den Nebel in meinem Hirn.

»Kätzchen? Kätzchen, komm schon. Bitte, wach auf.« Menollys Stimme kam dazu, und ich blinzelte. Sie hievte mich auf die Füße und half mir in den nächsten Sessel. »Alles klar? Was ist passiert?«

Camille stürzte mit einem nassen Handtuch herein, das sie mir in den Nacken presste. »Du hast dich heiß angefühlt, als hättest du hohes Fieber.«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, mich zu konzentrieren. »Ich ... ich ...« Ein Teil von mir wollte es ihnen nicht erzählen. Ich würde eine Weile brauchen, um mit dem klarzukommen, was eben geschehen war, aber bei der Gefahr, der wir gegenüberstanden, konnten wir es uns nicht mehr leisten, Geheimnisse voreinander zu haben. Genau wie bei Camille, die kopfüber in ihre Rolle als Priesterin gestoßen worden war und sich bald einem Ritual unterziehen sollte, mit dem sie in Aevals Dunklen Hof eingeführt werden würde, konnte auch das hier Auswirkungen auf uns alle haben, nicht nur auf mich.

»Ich habe gerade meine erste Trainingsstunde als Todesmaid bekommen.«

Die Männer und Iris begannen laut durcheinander zureden. Meine Schwestern hingegen starrten mich in stummem Entsetzen an. Mir wurde klar, was sie dachten.

»Nein, nein ... ich werde nicht so bald sterben. Aber anscheinend brauche ich für meinen zukünftigen Dienst eine Ausbildung. Ich kann euch jetzt schon sagen, dass das eine verdammt irre Sache wird.« Ich blinzelte und begriff, dass meine Verpflichtung nicht mehr nur ein vages Gefühl war: Mein Leben würde sich verändern, und zwar drastisch. Hi'ran hatte es bisher sehr locker angehen lassen, aber das war vorbei.

Als die anderen sich beruhigt hatten, erzählte ich ihnen, was passiert war. »Es war unglaublich, sie mit diesem Mann zu beobachten«, flüsterte ich. »Es ist tatsächlich so, dass wir die Toten ernten. Er war auf dem Weg ins Jenseits und wollte nicht gehen - er hat sich dagegen gewehrt. Sie hat es ihm leichtgemacht.«

»Ich frage mich ...« Iris ging zum Fernseher hinüber und schaltete ihn ein. Sie zappte durch die Programme, bis sie den lokalen Nachrichtensender fand, und wir schauten uns den Bericht an.

Trevor Willis, der aufstrebende »Junge von nebenan«, der es zum Nachrichtensprecher gebracht hatte, erschien mit angemessen ernster Miene auf dem Bildschirm. Hinter ihm wurde ein Bild von dem Mann im Anzug gezeigt, den ich auf der Lichtung gesehen hatte.

»Ronald Niece aus Seattle starb heute Abend, nachdem er fünfzehn Menschen das Leben gerettet hatte. Offenbar hatte der bewaffnete Amokläufer, der inzwischen als Shane Wilson Thatcher identifiziert wurde, die Absicht, sämtliche Insassen eines Stadtbusses zu erschießen. Das stehe in einem Brief, der in seinem Haus gefunden wurde, so die Polizei. Doch sein Plan ging schief, denn Niece, der als Buchhalter tätig war, nach Feierabend Karate unterrichtete und selbst den Schwarzen Gürtel besaß, bemerkte die Waffe, sobald Thatcher sie auf den Fahrer richtete. Es gelang Niece, Thatcher so lange in einen Kampf zu verwickeln, dass der Fahrer anhalten und die hintere Tür öffnen konnte. Während die Passagiere aus dem Bus flüchteten, bekam Thatcher die Waffe wieder richtig zu fassen und gab fünf Schüsse auf Niece ab. Der Busfahrer schlug Thatcher schließlich mit einer Eisenstange bewusstlos, die er unter dem Fahrersitz mitführte. Obwohl die Rettungskräfte ihr Möglichstes taten, starb Ronald Niece noch auf dem Weg ins Krankenhaus. Die Businsassen und der Fahrer bezeichnen ihn als Helden. Niece hinterlässt eine -«

Iris schaltete den Fernseher aus. »Wie schrecklich. Bei all den Problemen, vor denen diese Welt steht, sollte man doch meinen, dass die Menschen bessere Wege finden müssten, miteinander umzugehen. Ich bin jetzt tausend Jahre hier und bin immer wieder fassungslos, was die Leute - Feen wie Menschen - einander antun können.« Ihre Augen waren feucht, und sie fuhr sich mit dem Handrücken darüber.

Ich starrte den Fernseher an. »Das war er. Er tafelt jetzt in Walhall. Krieger jubeln ihm zu, und die Götter schenken ihm ihre Gunst. Und er hat heute Abend fünfzehn Menschen gerettet, deren Seelen ansonsten jetzt in den geistigen Sphären wandeln würden. Ich glaube, das ist keine üble Art, sein Leben abzuschließen, auch wenn das Ende dadurch viel zu früh kommt.«

Während ich zugesehen hatte, wie Greta ihm die Angst nahm, war mir klargeworden, dass sie - dass wir in vielerlei Hinsicht einen sehr wertvollen Dienst leisteten. Niemand, der sich so heldenhaft verhalten hatte, sollte seinen letzten Atemzug voller Angst tun müssen. Er verdiente eine leidenschaftliche, liebevolle Begrüßung, und die konnten die Todesmaiden ihm bieten.

»Delilah, was ist mit deinen Armen?« Camille zeigte mit gerunzelter Stirn auf mich.

Ich schaute an mir herab. Ein leichter Schatten schob sich von meinen Handgelenken aus den Arm empor und schlang sich in Form von Ranken um meine Unterarme. Sieht aus wie Gretas Tätowierungen. Vor meinen Augen erreichten die Ranken meinen Ellbogen und hielten inne. Blätter sprossen hervor - Ahorn und Eiche. Die Farbe war so stumpf wie ein violetter Bluterguss, aber das Bild war unverkennbar da. Meine Arme brannten, aber nicht unangenehm, und ich hörte etwas in mir flüstern: »Erste Lektion ...«

»Greta - sie hatte solche Tätowierungen am Arm, nur bei ihr waren sie tiefschwarz und leuchtend orange. Aber es war das gleiche Muster.«

»Ob die wohl dunkler werden, je länger du bei ihr trainierst?« Menolly strich mit den Fingern über meine Arme und schüttelte den Kopf. »Ich spüre nichts. Camille? Iris?«

Camille hielt die Hände über meinen Arm und schloss die Augen. Gleich darauf zitterte sie leicht. »Das ist seine Energie, kein Zweifel. Die Energie der Erntezeit, der Herbstfeuer und der ersten kalten Nächte. Ich glaube, Menolly hat recht - das Bild ist noch nicht fertig. Du wirst offenbar gezeichnet, so, wie die Mondmutter mich gezeichnet hat.« Sie wies mit einem Nicken auf ihren Rücken. Die beiden Tattoos auf ihren Schulterblättern schimmerten unter ihrem durchscheinenden Gewand hervor. Das waren die Zeichen der Mondhexen und -priesterinnen.

Ich holte tief Luft und schloss erschöpft die Augen. »Es gibt so viele Wege ... aber das ist meiner.« Die Vorstellung, weiter tätowiert zu werden, machte mir keine Angst - Gretas Arme hatten sogar schön ausgesehen mit ihrem wilden Schmuck. Und Hi'ran mochte ein Schnitter und manchmal furchterregend sein, aber er war brillant und ebenso mitfühlend.

Ich straffte die Schultern und war stolz darauf, ihm zu dienen. Mein Herr wandelte auf den Pfaden der Dunkelheit, und das galt nun auch für mich. Ein wenig von der Last, die ich seit Monaten mit mir herumschleppte, fiel von mir ab.

Camille und Menolly knieten sich neben mich, Camille links und Menolly rechts von mir. Sie nahmen meine Hände, und wir saßen schweigend beisammen. Was vor uns lag, konnten wir nicht wissen. Jede von uns stand vor neuen Herausforderungen, neuen Prüfungen, aber wir waren zusammen.

»Wir werden diesen Weg bis zum Ende gehen, Hand in Hand«, sagte Camille und lächelte mich an. »Wenn ich ins Reich der Schnitter hinabsteige, dann durch Magie und Anbetung. Du reist im Dienst eines Elementarfürsten dorthin. Und Menolly geht diesen Weg in ihrem eigenen Körper. Keine von uns ist gegen die Schatten gefeit, und ich glaube, wir müssen uns einfach daran gewöhnen. Wir wandeln im Dunkeln, nicht im Licht.«

Ich betrachtete meine Arme, sah dann wieder meine Schwestern an und fühlte mich schon viel weniger allein. »Das stimmt - unser Weg hat sich verschoben. Dafür hat Schattenschwinge gesorgt. Wenn wir doch nur Stacia finden könnten. Je länger sie da draußen herumläuft, desto mehr Sorgen mache ich mir.«

Die Knochenbrecherin hatte es schon viel zu lange geschafft, sich uns zu entziehen. Aber jede Spur, die wir aufnahmen, führte ins Leere. Wir wussten, dass es irgendwo ein Leck geben musste - jemanden, der sie mit Informationen versorgte. Aber wir kamen einfach nicht dahinter, wer uns verriet. Und Stacia war sehr geschickt darin, sich bedeckt zu halten.

»Ich fürchte, wenn sie losschlägt, dann aus allernächster Nähe, so dass wir keine Chance mehr haben, richtig zu reagieren.«

»Daran können wir heute Nacht nichts mehr ändern.

Morgen ist auch noch ein Tag.« Menolly stand auf und zog mich auf die Füße. »Du solltest erst mal ein bisschen schlafen. War ein langer Tag. Du auch, Camille.«

»Was steht denn morgen an?« Iris ging voran in die Küche. Wir hatten uns angewöhnt, uns am Küchentisch zusammenzusetzen und vor dem Schlafengehen noch eine Tasse Tee zu trinken. Das erlaubte uns, den Tag abzuschließen und einen Moment durchzuatmen.

Camille nahm den Notizblock von dem Tischchen unter dem Wandtelefon. Sie trug noch immer ihr Priesterinnengewand, das in der hellerleuchteten Küche nichts der Phantasie überließ. Rozurial gaffte sie an, doch sobald Smoky den Raum betreten hatte, hob Roz den Blick nicht mehr von der Arbeitsfläche, wo er Iris mit dem Tee half. Er war inzwischen Iris' inoffizieller Sous-Chef, denn er hatte überraschenderweise ein Händchen fürs Kochen.

Menolly war die Einzige von uns, die noch hellwach aus den Augen schaute. Sie schwebte unter der Decke, das war ihr Lieblingsplatz. Die Jungs machten sich auf den verschiedenen Stühlen und Bänken breit, die wir um den riesigen Eichenholztisch zusammengeschoben hatten.

Smoky hatte uns den Tisch gekauft, als deutlich geworden war, dass der alte einfach zu klein für die vielen Leute war, die jetzt auf unserem Anwesen lebten. Der neue Tisch war gigantisch, und man musste sich daran vorbeiquetschen, um an den Herd und die Küchenschränke heranzukommen. Die Küche selbst war riesig, aber der Essplatz war eigentlich zu klein für das Mobiliar, und die Jungs sprachen schon davon, anzubauen - die Küche samt Essplatz zu erweitern.

Überraschenderweise waren alle Männer im Haus geschickte Handwerker. Im Lauf des vergangenen Monats hatten sie sich um all die kleinen Reparaturen im Haus gekümmert und sogar Winterfenster vor unsere alten, einfachverglasten Fensterscheiben gesetzt.

Camille ließ den Notizblock auf den Tisch fallen und überflog die oberste Seite. »Was haben wir heute erreicht? Es stand ja nicht viel auf dem Plan außer der Hochzeit.«

»Wollen wir nicht einfach unseren Tee trinken und dann für heute Schluss machen?«, fragte Trillian und warf Camille einen vielsagenden Blick zu. Heute Nacht gehörte sie ihm allein, wie wir alle wussten. Er hatte dafür gesorgt, dass das niemandem entging.

Trillian hatte uns ebenfalls überrascht. Seit seiner Heimkehr aus dem Krieg war er zwar noch so arrogant wie eh und je, aber hilfsbereiter und weniger streitlustig. Er war ein großer Fan von Iris' nächtlichen Teepartys und mittlerweile süchtig nach Earl Grey mit Zitrone und Honig, den er am liebsten aus einer Porzellantasse trank. Das war eine neue Seite an ihm, die niemand außerhalb dieser Küche je bei einem Svartaner erwartet hätte.

Camille schüttelte den Kopf. »Wir müssen unsere Planung besprechen. Es geht so viel vor, dass wir nichts aus den Augen verlieren dürfen. Aber heute stand sowieso nicht viel an. Wie sieht es morgen aus?«

»Ich will mit der Suche nach Lukes verschwundener Schwester anfangen«, sagte ich. »Ich könnte ein bisschen Hilfe gebrauchen. Wie läuft's in deinem Laden?«

Sie runzelte die Stirn, und ein matter Schimmer ließ ihre wunderschönen violetten Augen blasser erscheinen. »Die Renovierungsarbeiten sind fast fertig. In drei Wochen können wir wieder aufmachen. Aber ich weiß nicht, ob ich mich darauf freuen soll. Jedes Mal, wenn ich die Buchhandlung betrete, werde ich daran denken müssen, wie Henry umgekommen ist.«

»Das gibt sich. Und er würde sich wünschen, dass du das Geld, das er dir hinterlassen hat, dazu verwendest, die Buchhandlung auszubauen. Genau so, wie er es geplant hatte.« Iris tätschelte ihr die Schulter. »Das kommt schon wieder in Ordnung.«

Henry hatte Camille zu unser aller Überraschung eine beträchtliche Summe vererbt.

»Das dachte ich auch, als ich ihn eingestellt habe, weil ich seine Hilfe gut gebrauchen konnte. Und sieh dir an, was passiert ist. Jetzt ist er tot, und ...« Camille seufzte tief. »Ach, schon gut. Immerhin habe ich eine echte Kampfkünstlerin gefunden, die den Laden für mich leiten wird. Ich wäre gern selbst wieder jeden Tag dort, die Buchhandlung fehlt mir. Aber bei der ständigen Bedrohung durch Schattenschwinge ...« Wieder führte sie ihren Satz nicht zu Ende.

Vanzir lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Du wirst es nicht bereuen, dass du Giselle eingestellt hast. Sie weiß, was sie tut. Du wirst schon sehen, versprochen.«

Ich schaute zu ihm hinüber, und er zwinkerte mir zu. Ab und zu entspannte Vanzir sich so weit, dass ein wenig Menschlichkeit hinter seiner dämonischen Fassade hervorblitzte. Er hatte Camille von sich aus eine neue Mitarbeiterin gesucht, ohne dass sie ihn darum gebeten hatte. Giselle gehörte zum dämonischen Untergrund und lebte schon seit dreißig Jahren in der Erdwelt. Carter, unser wichtigster Kontakt zu den Erdwelt-Dämonen, hatte sich ebenfalls für sie verbürgt. Sie stand fest im Anti-Schattenschwinge-Lager und hasste Schlangen. Alles, was nur irgendwie mit Schlangen zu tun hatte. Inklusive Stacia Knochenbrecherin.

»Das will ich hoffen«, brummte Camille. »Meine Kunden erwarten in der Buchhandlung jemanden, der etwas von Büchern versteht.«

Ich räusperte mich. »Machen wir weiter.« Ich stopfte mir ein paar Oreos in den Mund, während Iris und Roz Teetassen und einen Teller selbstgebackener Kekse auf den Tisch stellten. »Also, hast du morgen Zeit, mir zu helfen? Ich meine, mit der Suche nach Amber.«

Camille nickte. »Ja, aber ich glaube, die Jungs haben schon etwas vor.«

Smoky beugte sich an ihr vorbei und schnappte sich zwei Kekse vom Teller. »Morio kommt morgen mit raus zu meinem Bau. Ich muss einen kleinen Herbstputz machen und nach Georgio sehen.«

»Was ist mit dir?« Ich blickte zu Trillian auf.

Er zuckte mit den Schultern. »Tut mir leid. Ich habe Iris versprochen, einiges am Haus zu machen, was noch vor dem Winter gerichtet werden muss.«

Seufzend wandte ich mich an Rozurial. »Ich nehme an, du hast auch etwas anderes zu tun.«

Der Incubus nickte. »Vanzir und ich verfolgen eine neue Spur zu Stacia. Wahrscheinlich wieder falscher Alarm, aber wir müssen uns vergewissern. Wir dürfen nichts übergehen, das uns einen Hinweis auf ihr Versteck geben könnte.«

»Ich wüsste wirklich gern, wie zum Teufel eine so hochrangige Dämonengeneralin in dieser Stadt einfach verschwinden kann.« Camille notierte auf dem Block, wer was vorhatte, als ein Geräusch aus dem Wohnzimmer herüberdrang.

»Hört sich an, als wäre Nerissa wieder zu sich gekommen«, bemerkte ich, und Menolly nickte. Federleicht schwebte sie herab und war schon im bogenförmigen Durchgang verschwunden, ehe ich den Satz ganz beendet hatte.

»Das war's dann wohl. Menolly schläft natürlich, und Shamas wird arbeiten. Iris - was ist mit dir?« Camille ließ den Stift sinken und blickte zu dem Hausgeist auf.

Iris zuckte mit den Schultern. »Ganz normaler Tag. Ich kümmere mich um Maggie und putze das Haus, und dann will ich mit Bruce die letzten Kräuter ernten.«

»Gut, dann sind wir fertig«, sagte ich, als das Telefon klingelte. Da ich am nächsten dran war, nahm ich den Hörer ab. »Hallo?«

Chases Stimme drang an mein Ohr. »Delilah, wir haben ein Problem.«

»Was denn?« Wenn Chase mitten in der Nacht wegen eines »Problems« anrief, war das meistens gewaltig.

»Es gibt einen ziemlichen Aufruhr unten am Dock bei Exo Reed - im Halcyon Hotel and Nightclub. Da tobt ein echter Kampf. Ich brauche da unten so viele von euch wie möglich. Schnell.« Damit legte er einfach auf.

Stöhnend drehte ich mich zu den anderen um. »Niemand geht ins Bett. Es gibt Arger bei Exo Reed. Chase braucht uns. Iris - du und Bruce bleibt bei Maggie und Nerissa. Alle anderen machen sich zack, zack fertig, und ab.«

Beim Blick auf die Uhr verzog ich das Gesicht. Wir waren alle müde, aber wenn es um solche Anrufe ging, mussten wir vierundzwanzig Stunden am Tag einsatzbereit sein. Ich konnte nur darum beten, dass wir nicht ausgerechnet heute Nacht in eine große Schlacht gegen Stacia hineingeraten würden. Wir mussten sie finden, ja, aber ich wollte ihr wirklich nicht gegenübertreten, wenn ich nach Skunk stank, völlig erschöpft war und mich schmuddelig fühlte.